Daniel Kehlmann : Mein Algorithmus und ich

Mein Algorithmus und ich
Mein Algorithmus und ich Klett-Cotta, Stuttgart 2021 ISBN 978-3-608-98480-4, 63 Seiten ISBN 978-3-608-10093-8 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

2020 reist Daniel Kehlmann ins Silicon Valley. Der Schriftsteller soll herausfinden, ob der von Bryan McCann geschaffene Algorithmus CTRL in der Lage ist, Geschichten zu erfinden. Daniel Kehlmann nähert sich der Aufgabe neugierig und unvoreingenommen, und ein Versuch beginnt vielversprechend ...
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Kritik

Daniel Kehlmann versuchte 2020 im Silicon Valley, mit einem Algorithmus zusammen eine Geschichte zu schreiben. Über diese Erfahrung berichtete er im Jahr darauf in der ersten "Stuttgarter Zukunftsrede", und der Text erschien dann auch bei Klett-Cotta: "Mein Algorithmus und ich".

Die Erfahrung

Am 14. Februar 2020 reist Daniel Kehlmann von New York über San Francisco nach Palo Alto, ins Silicon Valley, um dort auf Einladung der Initiative „Open Austria“ ein Experiment durchzuführen. Der Schriftsteller soll herausfinden, ob die von Bryan McCann geschaffene Künstliche Intelligenz CTRL in der Lage ist, Geschichten zu erfinden – bei einer Art sprachlichem Ping Pong mit dem Menschen, der den ersten Aufschlag liefert, auf den der Algorithmus dann reagiert.

Ein Versuch beginnt vielversprechend:

It was a beautiful day in summer, beginne ich aufs Geratewohl, dann drücke ich auf die Steuertaste. […] The sun shone brightly on the green grass and flowers of the garden, but there were no birds to sing or insects to hum, schreibt CTRL. Interessant – eine unheimliche Note, ein Hauch von David Lynch. Also schreibe ich: I couldn’t help it, the whole thing seemed strange to me. CTRL setzt fort: We walked along for some time without speaking. Ach, jetzt sind wir also zu zweien? Das verlangt nach einer Erklärung: We, that is my friend Otto and me. Otto is a tall and strong guy. […] und drückte die CTRL-Taste. […] He has been working as an electrician since he was 16 years old.

Daniel Kehlmann nähert sich der Aufgabe neugierig und unvoreingenommen. Aber nach kurzer Zeit ist klar, dass die Maschine nichts von einem Plot ahnt.

CTRLs große Schwäche ist […] narrative Konsistenz. Erzählen, das heißt vorausplanen – oder mehr noch: Es heißt, einen inneren Zusammenhang schaffen, der alle Sätze, Absätze und Wendungen durchzieht.

Besser als bei Kurzgeschichten bzw. Erzählungen funktioniert die Textgenerierung durch den Algorithmus bei Dialogen und neodadaistischen Gedichten.

CTRL kam mir niemals auch nur für einen Moment bewusst vor. […] CTRL hat kein Innen.

Wer aber mit einem Algorithmus umgeht, begreift allmählich, dass er es eben nicht mit einem Menschen im Kostüm zu tun hat, nicht mit einem netten Wall-E oder einem gefährlichen HAL. Sondern mit etwas viel Fremderen – einer problemlösenden Entität ohne Innenseite.

Und ich konnte mit ihm keinen Text schreiben, der künstlerisch hätte bestehen können. In dieser Hinsicht ist das Experiment gescheitert.

Ein prädiktiver Algorithmus

CTRL funktioniert ähnlich wie die Google-Suchmaschine, die schon nach der Eingabe weniger Buchstaben wahrscheinliche Suchbegriffe vorschlägt. Der mit Unmengen von Texten gefütterte prädiktive Algorithmus schätzt statistische Wahrscheinlichkeiten ab und trifft auf dieser Basis Voraussagen. Dass „Erlkönig“ auf „ich“ folgt, ist unwahrscheinlich, der Computer beginnt also eher mit „ich bin“.

Früher wurden Schachcomputer mit Spielregeln programmiert, aber seit riesige Datenmengen verarbeitet werden können (big data), gilt das als veraltet. Dementsprechend kennt CTRL keine Grammatik, wird aber nicht „ich gehen“ formulieren, sondern „ich gehe“, weil diese Abfolge von Wörtern sehr viel wahrscheinlicher ist.

Dem Algorithmus mangelt es allerdings an Dramaturgie und Vorausplanung; statt eine Handlung nach einem Plot zu entwickeln, sucht die Maschine nach Sprachbausteinen.

Nicht in „Mein Algorithmus und ich“, aber in einem Interview mit Andrian Kreye kommt Daniel Kehlmann auf Metaphern zu sprechen, und diese Perlen anspruchsvoller Literatur sind mit einem Algorithmus überhaupt nicht kompatibel:

Wenn es bei Nabokov heißt: Insomnia, your stare is dull and ashen. Also: Schlaflosigkeit, dein Starren ist stumpf und aschfahl. Das ist ganz groß. Man kann Schlaflosigkeit kaum besser beschreiben. Dieser dumpfe, aschfahle Starrblick der Schlaflosigkeit. Aber in dieser Zeile kommt viel zusammen. Die jahrelange Erfahrung der Schlaflosigkeit durch den Autor. Und dann dieser verblüffende Sprung der Sprache, dass die Schlaflosigkeit einen anstarrt. Der Computer würde ja sagen: „Was für ein Blödsinn, die starrt ja nicht, die Schlaflosigkeit ist keine Person.“ […] Eine solche Metaphernschöpfung operiert bewusst mit Unlogik, eine Maschinenanalyse würde sofort sagen: „Das ist unsinnige Sprachverwendung.“ (Süddeutsche Zeitung, 16. März 2021)

Transhumanismus

Zum Schluss erwähnt Daniel Kehlmann noch ein Gespräch, das er im Sommer 2019 mit Christian Kracht führte, der ihn für einen Transhumanisten hielt.

Die höhere Stufe muss sich nicht organisch aus der niederen entwickeln, sie kann auch von der niederen technisch, schöpferisch hervorgebracht werden. Die kohlenstoffbasierte Intelligenz kann die siliziumbasierte Intelligenz schaffen, und diese ist dann, ob es uns gefällt oder nicht, eben die nächste Stufe der Evolution.

Stuttgarter Zukunftsrede

Daniel Kehlmann hielt am 9. Februar 2021 im Literaturhaus Stuttgart eine Rede über seine Erfahrungen mit CTRL, die den Auftakt einer Reihe bilden soll. Wegen der Pandemie wurde die erste „Stuttgarter Zukunftsrede“ per Livestream im Internet angeboten.

Der Text erschien dann am 20. März 2021 im Verlag Klett-Cotta unter dem Titel „Mein Algorithmus und ich“.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2021
Textauszüge: © Rowohlt Verlag

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