Daniel Kehlmann : F

F
F Originalausgabe: Rowohlt Verlag, Reinbek 2013 ISBN: 978-3-498-03544-0, 380 Seite
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der heuchlerische Priester Martin, der betrügerische Vermögensverwalter Eric und der Kunstfälscher Iwan sind die Söhne des Schriftstellers Arthur Friedland. Wenn Martin mehr Erfolg bei den Mädchen gehabt hätte, wäre er kein Geistlicher geworden. Erics Sekretärin ruft ihn an und bittet ihn, vorbeizukommen. Aber Eric wollte nicht mit Martin, sondern mit Iwan sprechen – und wenn die Sekretärin sich nicht geirrt hätte, wäre Iwan jetzt noch am Leben ...
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Kritik

Ein besonderes Lesevergnügen bietet Daniel Kehlmann in seinem Roman "F" mit den ironischen Porträts eines Priesters und eines Vermögensverwalters, die so zugespitzt sind, dass sie beinahe wie Satiren bzw. Karikaturen wirken. Aber die Kapitel fügen sich zu keiner Einheit.
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Arthur Friedland schreibt Romane, für die er keinen Verlag findet. Nur hin und wieder veröffentlicht eine Zeitschrift eine Geschichte von ihm. Das Geld für den Lebensunterhalt der Familie, zu der auch die beiden 1971 geborenen eineiigen Zwillinge Eric und Iwan gehören, verdient seine Frau Katharina als Augenärztin.

1984 fährt Arthur mit den beiden Jungen und ihrem ein Jahr älteren Halbbruder Martin, mit dem er seit sieben Jahren Kontakt hat, zur Nachmittagsvorstellung des Hypnotiseurs Lindemann. Nach Iwan wird auch dessen Vater auf die Bühne geholt. Arthur geht zwar davon aus, dass er nicht zu beeinflussen, geschweige denn zu hypnotisieren sei, aber der „große Lindemann“ bringt ihn zu dem Geständnis, nur wenig Ehrgeiz zu haben. Arthur sagt, er wolle weg von zu Hause und allem anderen. Bevor der Hypnotiseur ihn von der Bühne gehen lässt, beschwört er ihn:

„Das ist ein Befehl, den du befolgen wirst, weil du ihn befolgen willst, und du willst es, weil ich es befehle, und ich befehle es, weil du willst, dass ich es befehle. Von heute an bemühst du dich. Egal, was es kostet.“

Nach der Veranstaltung setzt Arthur nicht nur seinen älteren Sohn, sondern auch die beiden Zwillinge vor dem Haus von Martins Mutter ab – und fährt weg. Katharina stellt kurz darauf fest, dass er das gemeinsame Konto leergeräumt hat. Er kommt nicht zurück. Nachdem sein Roman „Mein Name sei Niemand“ gedruckt wurde, schickt er jedem der Söhne ein Exemplar ohne Widmung und Absender. Das Buch besteht aus drei Teilen.

Den Anfang bildet eine altmodische Novelle über einen ins Leben aufbrechenden jungen Mann, von dessen Namen wir nur den ersten Buchstaben erfahren: F. Die Sätze sind wohlgebaut, die Erzählung fließt kraftvoll, fast läse man mit Vergnügen, hätte man nicht ständig das Gefühl, man würde verspottet. F wird auf die Probe gestellt, er bewährt sich, kämpft, lernt, gewinnt, lernt mehr, verliert und entwickelt sich fort, alles nach altbewährter Manier. […] Nach und nach hat es den Anschein, als käme man dem Verstehen näher, dann meint man sich bereits kurz davor, aber da bricht die Erzählung ab – einfach so, ohne Warnung, mitten im Satz.

Im zweiten Teil geht es um etwas anderes. Darum nämlich, so versichert der Autor, dass du, jawohl du, und das ist keine rhetorische Wendung, dass also du nicht existierst. Du meinst, du liest das hier? Selbstverständlich meinst du das. Aber das hier liest keiner.
Die Welt ist nicht so, wie sie aussieht. Es gibt keine Farben, sondern Wellenlängen, es gibt keine Töne, sondern schwingende Luft, es gibt eigentlich auch keine Luft, sondern verkettete Atome im Raum, wobei „Atome“ ja auch nur ein Wort ist für Energieverschlingungen ohne Form und festen Ort, und was ist überhaupt Energie? […] Je genauer man hinsieht, desto leerer wird alles, desto irrealer sogar die Leere. Denn auch der Raum ist bloß eine Funktion, ein Modell unseres Geistes.

Im Schlusskapitel geht es noch einmal um F.

F tritt wieder auf, und es geschieht auf wenigen Seiten die Zergliederung eines Menschen: Begabt, ohne Mut, zögerlich, egozentrisch bis an die Grenze der Gemeinheit, angeekelt von sich selbst, bald schon gelangweilt von der Liebe, unfähig, sich ernsthaft mit etwas abzugeben, auch die Kunst bloß als Vorwand für Untätigkeit nützend, nicht gewillt, sich für andere zu interessieren, nicht imstande, Verantwortung zu übernehmen, zu feige, sich dem eigenen Scheitern zu stellen, ein schwacher, unehrlicher, überflüssiger Mensch, talentiert nur für leere Gedankenspiele, für Scheinkunst ohne Substanz und für das lautlose Entkommen aus jeder unangenehmen Situation, hat endlich den Punkt erreicht, an dem er aus reinem Überdruss am eigenen Selbst behaupten muss, niemand habe ein Selbst und jedes Ich sei eine Täuschung.

Der Roman wäre vermutlich unbeachtet geblieben, weil er jedoch eine kleine Selbstmordwelle auslöst, berichten die Medien darüber und Arthur Friedland wird berühmt. Er veröffentlicht auch die Romane „Die Stunde des Jägers“ und „An der Mündung des Flusses“.

– – –

Obwohl Martin Friedland nicht an Gott glaubt, studiert er Theologie, zwei Semester an der Gregoriana in Rom, insgesamt 16 Semester. Er wird Priester. Wenn er Erfolg bei den Mädchen gehabt hätte, wäre er wahrscheinlich kein Geistlicher geworden. Aber als er seine Mitschülerin Lisa Anderson ins Theater einlud, musste er verlegen lachen. Bei Hanna Larisch klappte es auch nicht, und als ihm die dicke Sabina Wegner gerade die Hose und die Unterhose heruntergezogen hatte, kamen unerwartet ihre Eltern, ihre Schwester, ihr Dackel und seine Mutter herein.

Heute denke ich, es waren Zufälle. Es gibt kein Fatum, und hätte ich zum Beispiel Lisa Anderson an einem anderen Tag oder zumindest auf andere Weise gefragt, alles hätte anders kommen können, und jetzt hätte ich vielleicht eine Familie und wäre Fernsehredakteur oder Meteorologe.

Nach einer Messe bittet ihn ein älterer Kirchgänger, ihm die Dreifaltigkeit zu erklären. Martin entgegnet:

„Es ist ein Mysterium.“
Das hat gewirkt. Er blinzelt. Was täte ich ohne dieses Wort?

In der Sakristei streicht er dem Ministranten über den Kopf und zuckt zurück, denn als Geistlicher muss er vorsichtig sein mit solchen Gesten. Sie könnten ihm falsch ausgelegt werden. Der Junge versteht nicht, wie der Wille des Menschen frei sein kann, wenn Gott doch alles im Voraus weiß. Martin versucht, den Widerspruch als Mysterium abzutun, aber der Ministrant insistiert:

„Das passt nicht zusammen.“
„Darum ist es ein Mysterium.“

Von zwei Obsessionen wird Martin getrieben: Essen und Rubik-Würfel. Aber im Beichtstuhl muss er beides weglegen, sobald das Knarren des Holzes anzeigt, dass jemand hereinkommt. Einer beichtet seine Sexsucht.

„Ich habe eine Frau und eine Freundin. Beide wissen voneinander, aber sie wissen nichts von meiner zweiten Freundin, die aber von ihnen beiden weiß. Dann habe ich noch eine dritte Freundin, von der sie alle nichts wissen. Sie weiß von den anderen auch nichts, sondern denkt, ich lebe allein.“

Martin rät dem Sexbesessenen:

„Bleiben sie daheim. Helfen Sie kochen. Sehen Sie Tiervideos.“
„Aber das ist schrecklich.“
„Natürlich ist es schrecklich. Das ist das Leben.“

Weil der Mann in der Steuerberater-Kanzlei, in der er beschäftigt ist, Geld unterschlug, um die Ausgaben für die Frauen bestreiten zu können, fordert Martin ihn nicht nur auf, wenigstens zwei Wochen lang seiner Frau treu zu sein, sondern auch das Geld zurückzugeben. Der Beichtende protestiert:

„Ich kann nicht einfach so zwölftausend Euro zurück an die Kanzlei überweisen! […] Ich bleibe lieber drei Wochen daheim. Drei, ja?“
„Geben Sie das Geld zurück!“
Er schweigt. „Die Lossprechung gilt doch? Ich meine, unabhängig von der Buße? Die ist keine … Bedingung?“
„Das Sakrament ist vollzogen. Aber das Geld nicht zurückzugeben wäre eine neue Sünde.“
„Dann komme ich wieder.“
„So geht das nicht.“

Am 8. August 2008 ruft Erics Sekretärin an: Martin soll zu seinem Halbbruder kommen. Doch als er kurz darauf dessen Büro betritt, wundert Eric sich über seinen Besuch und nimmt ihn verwirrt mit zum Essen.

– – –

Eric Friedland ist Vermögensverwalter. An diesem Morgen nahm er seine Tabletten und dachte:

Zwei Thropren, ein Torbit, ein Prevoxal und ein Valium – ich darf den Tag nicht mit zu viel beginnen, schließlich muss ich die Dosis erhöhen können, wenn etwas Unvorhergesehenes passiert.

In seinem Arbeitszimmer hängt ein Gemälde von Paul Klee, für das er 750 000 Euro bezahlte, obwohl es weder ihm noch seiner Frau Laura gefällt.

[…] aber ein Mann in meiner Position muss nun mal ein sehr teures Gemälde besitzen.

In der Dachkammer der Villa soll jemand qualvoll gestorben sein, aber er kaufte das Haus für 7,5 Millionen Euro. Sein Smartphone zeigt an, dass 2731 ungelesene Mails aufgelaufen sind. Seit Wochen liest der 37-jährige Vermögensverwalter keine Mails mehr. Als er sich kurz im Medienzimmer aufhält, wird er von seiner zehnjährigen Tochter Marie überrascht.

Ich sehe meine Tochter an, meine Tochter sieht mich an, und um etwas zu sagen, frage ich: „Schreibst du heute eine Arbeit?“
„Ja, in Mathematik.“
Ich gratuliere mir, jetzt wirke ich wie ein Vater, der die Dinge im Blick hat und Anteil nimmt, dabei weiß ich einfach, dass Kinder ständig Schularbeiten schreiben.

Draußen wartet sein stets übellauniger Chauffeur, der zwar Grieche ist, aber Knut heißt. Eric würde ihn gern loswerden, wagt es jedoch nicht, ihm zu kündigen, weil Knut ihn erpressen könnte. Unterwegs checkt Eric die Börsenkurse.

Ich war überzeugt, die IT-Werte würden fallen. Andererseits habe ich kommen sehen, dass das nicht geschieht – nicht aus Einsicht in den Markt, sondern weil ich mich inzwischen daran gewöhnt habe, dass stets das Gegenteil von dem eintritt, was ich erwartete. Aber wem soll ich denn folgen: meiner Einschätzung oder dem Wissen, dass ich fast immer unrecht habe?

Das Telefon vibriert, auf dem Bildschirm steht: Kommst du heute?
Jederzeit
, tippe ich.

Es ist Sibylle, seine Geliebte. Sie war seine Therapeutin, aber seit einem halben Jahr behandelt sie ihn nicht mehr. Es gehöre zum Berufsethos, keine Affäre mit einem Patienten zu haben, erklärte sie, und riet ihm, einen ihrer Kollegen zu konsultieren.

Das Telefon vibriert. Gut, komm!
Wann?

Mit Else, der hübscheren seiner beiden Sekretärinnen, war er sechs- oder siebenmal im Bett, mit Kathi nur einmal. „Herr Klüssen wartet schon“, sagt Kathi. Eric geht erst einmal in sein Büro, setzt sich, um sich zu sammeln, tritt ans Fenster, schaut hinaus, erinnert sich daran, wie er im Alter von 22 Jahren kurz vor Weihnachten aus einem Sanatorium nach Hause kam und mit seinem Zwillingsbruder sprach, der aus Oxford angereist war, wo er Kunst studierte.

„Wenn die Zelle sich damals nicht geteilt hätte“, sagte ich, „es gäbe nur einen von uns. […] Aber wer wäre das? Ich, du oder ein Dritter, den wir nicht kennen? Wer wäre das?“

Er muss mit Iwan reden. Eric greift zum Telefon und beauftragt Else, seinen Bruder anrufen.

„Also rufen Sie ihn an! Jetzt! Sagen Sie ihm, es ist wirklich wichtig. Und schicken Sie endlich Klüssen herein.“
Ich lege auf, verschränke die Arme und versuche, so auszusehen, als wäre ich tief in Gedanken versunken. Plötzlich fällt mir auf, dass ich Klüssen nicht draußen im Vorzimmer gesehen habe. Die Couch war leer. Aber hat sie nicht gesagt, er sei schon gekommen? Wenn er aber schon hier und nicht im Vorzimmer war, bedeutet das …? Besorgt sehe ich mich um.
„Hallo, Adolf!“
Da sitzt er und starrt mich an. Er muss die ganze Zeit schon dagewesen sein.

Der Kaufhausbesitzer Adolf Albert Klüssen ist Mitte 70. Sein Vater hieß Adolf Ariman Klüssen, sein Großvater Adolf Adomeit Klüssen. Eric verwaltet das gesamte Vermögen Adolf Klüssens. Aber davon ist nichts mehr übrig. Seit zwei Jahren hält Eric ihn mit gefälschten Auszügen und Aufstellungen hin.

[…] sieht mich an, als wäre die ganze Welt verachtenswert. Und dabei weiß er noch nicht einmal, dass er mittellos ist.

Klüssen sagt, er wolle angesichts seines fortgeschrittenen Alters umschichten, nichts mehr riskieren, alles nur noch in sichere Anlagen. Dazu riet ihm sein Sohn, der gerade den MBA machte.

Eric bedauert, dass er sich vor zwei Jahren nicht ins Ausland absetzte. Damals wäre es noch möglich gewesen, aber er war zu unentschlossen. Er muss Klüssen davon abbringen, nach seinem Vermögen zu fragen.

Es kommt nicht darauf an, was ich sage […]. Es kommt darauf an, dass gesprochen wird, ohne Unterbrechung und Zaudern, es kommt darauf an, dass er meine Stimme hört und einsieht, dass er es mit einer größeren Kraft zu tun hat als der seinen und mit einem Intellekt, dem er nicht gewachsen ist.

Das Telefon vibriert. Gut, dann jetzt.
[…] Jetzt kann ich nicht. […] Am späten Nachmittag, ja?

Das Telefon vibriert. Na, dann eben später.
Wann?
, schreibe ich.

Zu Erics Überraschung besucht ihn sein Halbbruder im Büro. Martin wurde von Erics Sekretärin angerufen und ist sofort herbeigeeilt, aber diesen Zusammenhang erkennt Eric erst einmal nicht. Um sich nicht Martins Gerede über den Rubik-Würfel anhören zu müssen, fragt er ihn, ob er schon zu Mittag gegessen habe, geht mit ihm in ein Restaurant, in dem man ihn kennt und bestellt Spaghetti alle vongole wie immer, auch für Martin. Dabei mag er gar keine Muscheln. Während Martin sich zwar darüber ärgert, dass sein Halbbruder für ihn bestellte, aber alles aufisst, lässt Eric seinen Teller abtragen, ohne etwas gegessen zu haben.

Nachdem sie sich verabschiedet haben, holt Eric sich an einer Imbissbude einen Hotdog. Er muss allerdings ein wenig warten, weil drei Halbwüchsige sich mit dem Verkäufer streiten. Der eine trägt ein T-Shirt mit dem Aufdruck „Morning Tower“, auf dem des zweiten steht „bubbletea is not a drink I like“, und auf der Brust des dritten jungen Mannes prangt ein Y.

Iwan ruft an. Eric erzählt ihm, dass seine Sekretärin ihn bitten sollte, bei ihm vorbeizuschauen, aber irrtümlich Martin anrief.

Eric besucht Sibylle und geht kurz mit ihr ins Bett. Dann eilt er zurück ins Büro.

Der Anblick meiner Mitarbeiter bedrückt mich noch mehr als sonst: all die Trägheit, all das Mittelmaß.

Seine Mutter ruft an und schlägt ihm eine angeblich gute Investition vor: Er soll das Grundstück unterhalb ihres Hauses kaufen, weil sie erfahren hat, dass jemand dort bauen möchte. Dann wäre ihre Aussicht ruiniert. Auch wenn Eric wollte, könnte er das Grundstück nicht erwerben, denn er hat kein Geld mehr.

Zu Hause trifft Eric auf Ligurna, die Hausangestellte aus Litauen. Er hat einmal mit ihr geschlafen. Am liebsten würde er sie hinauswerfen, aber dann müsste er mit einer Erpressung rechnen.

Laura erklärt ihm am Abend, sie wolle sich von ihm trennen, zunächst nur vorläufig, aber mit Marie im Haus bleiben. Eric soll ausziehen. Er will zu Sibylle. Weil Knut jedoch längst Feierabend hat, fährt er selbst. Irgendwo rammt er einen Müllcontainer. Daraufhin lässt er das Auto stehen und läuft weiter.

– – –

Als Eric 19 Jahre alt war, machte es ihm zu schaffen, dass sein Zwillingsbruder sich als schwul outete.

Ich wünschte, er wäre nicht homosexuell. Als ich es erfahren habe, hat es mich wochenlang ganz verrückt gemacht. Jemand, der mir so ähnlich ist – was sagt das über mich aus, was bedeutet es?

Während Iwan Friedland in Oxford Kunst studierte, entdeckte er ein Plakat des „großen Lindemann“ und gab sich als Journalist aus, um den Hypnotiseur sprechen zu können, den er als Kind erlebt hatte. Lindemann beklagte sich über die Gagen, die Arroganz der Fernsehredakteure, die Gewerkschaft der Bühnenkünstler, die anstrengenden Reisen, die Verspätungen der Bahn und die Hotels, von denen die einen zu schlecht und die anderen zu teuer seien. Als Lindemann hörte, dass sein Gesprächspartner Künstler werden wolle, wunderte er sich: „Maler, wirklich?“ Aufgrund dieses Zweifels erkannte Iwan, dass er nicht zum Maler berufen war, denn er hätte nur Mittelmäßiges zustande gebracht, und das wäre ihm nicht genug gewesen. Er verlegte sich auf Kunstgeschichte, und als er Martin nach dessen Exerzitien im Kloster Eisenbrunn mit einem Besuch überraschte, riet dieser ihm, über die Mittelmäßigkeit zu promovieren.

Iwan wählte denn auch „Mediokrität als ästhetisches Phänomen“ als Thema seiner Dissertation und nahm zur Vorbereitung Kontakt mit dem Maler Heinrich Eulenböck auf, der damals Anfang 60 war und nichts außer Bauernhöfen gemalt hatte. Die beiden wurden ein Paar. Am dritten Tag seines Zusammenlebens mit dem Künstler kam Iwan auf die Idee, der Kunstszene etwas vorzugaukeln: Mit Einverständnis seines neuen Lebensgefährten malte Iwan drei Bilder, signierte sie mit „Heinrich Eulenböck“ und schickte Fotos davon seinem Kommilitonen Barney Wesler, der gerade eine Gruppenausstellung mit dem Titel „Realismus der Jahrtausendwende“ vorbereitete. In diesem Rahmen wurden die drei Gemälde dann erstmals öffentlich präsentiert. Feuilletonisten lobten Heinrich Eulenböck, und der „Stern“ widmete ihm in einer Ausgabe sieben Seiten. In zahlreichen Interviews sagte Eulenböck Sätze wie diese:

„Warhol? Ein Werbegraphiker!“ – „Lichtenstein? Das Land oder der Scharlatan?“ – „Kitschiger als Balthus ist nur der Katzenkalender.“ – „Klimt, die Apotheose des Kunsthandwerks!“

Das kam gut an. Leroy Hallowans veröffentlichte das Buch „Eulenböck oder Die große Verneinung“, Godard drehte die Dokumentation „Moi, Eulenböck, maître“, und Iwan änderte das Thema seiner 740 Seiten langen Dissertation in „Heinrich Eulenböck. Von der Ironie der Tradition zum Realismus der Ironie“.

Iwan blieb bei seinem Lebensgefährten, bis dieser starb. Seither betreut er Heinrich Eulenböcks Nachlass und gehört zum Vorstand des Eulenböck-Trusts, der das Werk des Künstlers erbte. In einem geheimen Studio, das er im Obergeschoss eines leer stehenden Hauses eingerichtet hat, malt Iwan auch weiterhin Bilder, die er mit „Heinrich Eulenböck“ signiert. Schon seit Jahren schmuggelt er die Namen von Eulenböck-Gemälden, die noch gar nicht existieren, in entsprechende Verzeichnisse. Wenn sie dann auftauchen, zweifelt niemand an der Herkunft, und die Gutachten stammen dann ohnehin vom Eulenböck-Trust, also von Iwan.

Immerhin stammen die bekanntesten Bilder Eulenböcks, alle Werke, auf denen sein Ruhm beruht, von ein und demselben Urheber: nämlich mir.

Um die Preise hoch zu halten, achtet Iwan darauf, die Gemälde nicht zu rasch nacheinander in den Handel zu bringen.

Am 8. August 2008 ruft seine Mutter an und schlägt ihm vor, das Grundstück unterhalb des ihren zu kaufen, aber er verweist sie an Eric. Als er seinen Zwillingsbruder anruft, erzählt dieser ihm, seine Sekretärin habe irrtümlich Martin gebeten, bei ihm vorbeizukommen. Eigentlich hätte er Iwan sehen wollen.

Auf der Straße muss Iwan an drei Halbwüchsigen vorbei, die offenbar Streit mit einem vierten haben. Sie tragen T-Shirts mit einem aufgedruckten Y, der Aufschrift „Morning Tower“ bzw. dem Slogan „bubbletea is not a drink I like“. Iwan beachten sie nicht. Als er sich umdreht, sieht er, wie der eine junge Mann am Boden liegt und die drei anderen auf ihn eintreten. Ohne dass er es eigentlich will, geht er zurück und sagt: „Lasst ihn doch!“ Daraufhin wenden sich die drei Angreifer ihm zu und schlagen ihn zusammen. Nach kurzer Zeit kommt er wieder zu sich und denkt:

Man ist überzeugt davon, dass man sich bei erster Gelegenheit als Feigling erweisen wird. Und jetzt das. Iwan Friedland, Ästhet, Kurator, Träger teurer Anzüge, ist ein Held. Darauf hätte ich verzichten können.

Einer der drei Jugendlichen, den die anderen mit „Ron“ ansprechen, zieht ein Messer. Iwan will ihnen das Geld anbieten, das er bei sich hat, aber als er nach seiner Brieftasche greift, schnellt Rons Hand kurz vor und zieht sich wieder zurück. Schmerz schießt in Iwans Brust und breitet sich aus. Die drei Kerle laufen weg. Der Junge, mit dem sie in Streit geraten waren, erhebt sich schwankend. Er hebt Iwans Brieftasche auf, steckt sie ein und wankt davon, ohne sich um ihn zu kümmern.

Iwan schleppt sich zu dem nahen Haus, in dem sich sein Atelier befindet. Mit Mühe gelingt es ihm, die Tür aufzuschließen. Er glaubt, Heinrich sei bei ihm und rede mit ihm.

Erinnerst du dich noch an Erics Anruf, frage ich. Er sagte, seine Sekretärin hat uns verwechselt, Martin und mich, sie hat den falschen angerufen. Erinnerst du dich?
Du musst hier wirklich raus, Iwan.
Wenn sie uns nicht verwechselt hätte, dann hätte ich ihn heute Mittag getroffen, und ich wäre nicht hergekommen, und das alles wäre gar nicht geschehen, ist das nicht kurios?

– – –

Im Jahr darauf wird Iwan noch immer vermisst. Eric verwaltet jetzt den Nachlass des Malers Heinrich Eulenböck. Er hat bereits hundert Gemälde und tausend Skizzen verkauft, aber die schiere Masse ließ die Preise einbrechen. Eric bedauert es, dass eine ganze Reihe von Gemälden, die Iwan in einschlägigen Verzeichnissen genau beschrieben hat, unauffindbar bleiben.

Er wohnt inzwischen bei seinem Halbbruder im Pfarrhaus. Dass er sein Unternehmen schließen musste, erklärt er mit der Weltfinanzkrise, die niemand vorhersehen konnte. Die Anleger, deren Gelder nicht mehr da waren, verklagten ihn denn auch nicht. Nur Knut, der Chauffeur, schrieb der Staatsanwaltschaft, aber seine Anschuldigungen gegen Eric waren so aberwitzig, dass mit Ermittlungen nicht einmal begonnen wurde.

Laura hat inzwischen das Dienstmädchen entlassen. Sie wird auch das Haus nicht mehr halten können, trotz der finanziellen Hilfe ihrer Eltern. Für ihre Tochter Marie hat sie nicht viel Zeit, zumal auch noch das Scheidungsverfahren läuft. Wenn Marie allerdings zweimal nicht aufgegessen hat, fragt Laura, ob sie Sorgen habe, ob sie etwas bedrücke. Um diesen Gesprächen zu entgehen, wirft Marie heimlich alles aus dem Fenster, was sie nicht essen mag. Wenn der Großvater vorbeikommt, stiehlt sie ihm Geld aus der Brieftasche, aber nie mehr als 20 Euro, damit es nicht auffällt. Martin macht sich Sorgen, als er sieht, wie seine 15-jährige Nichte ihren Kopf an die Schulter ihres ein Jahr älteren Mitschülers Matthias legt.

Wenn das so weiterging, würden sie sich bald noch küssen. Wie sollte er das verhindern?

Martin ahnt nicht, dass die beiden längst miteinander schlafen. Wenn Marie lieber mit ihrem Freund zusammen ist, statt zur Schule zu gehen, fälscht sie die Unterschrift ihrer Mutter auf Entschuldigungsschreiben.

2012 trifft Eric auf der Straße zufällig Lothar Remling, einen Bekannten, der durch das zur Bekämpfung der Finanzkrise ins System gepumpte Geld mit „remling.Consult“ reich geworden ist. Ganz gegen seine Gewohnheit prahlt Eric nicht mit angeblich erfolgreichen Geschäften, sondern sagt, er tue nichts.

Nichts?
Gar nichts. Überhaupt nichts, den ganzen Tag. Er habe sich zurückgezogen und lebe im Pfarrhaus. Bei seinem Bruder, dem Priester.
Ja der Wahnsinn, hatte Remling gesagt. Jetzt echt?
Er habe eingesehen, dass das so nicht weitergehen könne, hatte Eric gesagt. Man müsse auch einmal eine Auszeit nehmen. Nachdenken. Er lese in der Bhagawad Gita. Er meditiere. Er gehe zur Beichte. Er verbringe Zeit mit seiner Tochter. Er verwalte die Kunstsammlung seines verstorbenen Bruders. Bestimmt werde er zurückkehren, aber das habe keine Eile. Man verliere so leicht das Wesetliche aus den Augen.

Lothar Remling ist beeindruckt und stellt Eric ein, und weil Eric sich im Pfarrhaus ständig mit Martin streitet, zieht er zu Sibylle.

Von Iwan fehlt nach wie vor jede Spur. Er wird offiziell für tot erklärt.

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Ein heuchlerischer Geistlicher, ein betrügerischer Vermögensverwalter und ein Kunstfälscher sind die Protagonisten des Romans „F“. Daniel Kehlmann nimmt also die Kirche, den Finanzsektor und den Kulturbetrieb aufs Korn. Das F steht für Fälschung, Fake und Fiktion. F ist auch der Anfangsbuchstabe der Wörter Fatum und Fortuna. Diese Begriffe beziehen sich auf die Frage, wie das Schicksal des einzelnen Menschen trotz seiner Entscheidungsfreiheit von Zufällen abhängt, zu denen auch das genetische Erbe gehört.

„Fatum“, sagte Arthur. „Das große F. Aber der Zufall ist mächtig, und plötzlich bekommt man ein Schicksal, das nie für einen bestimmt war. Irgendein Zufallsschicksal. So etwas passiert schnell.“

Das F taucht außerdem in einem Binnenroman auf – „Mein Name sei Niemand“ –, und zwar als Initiale des Namens der Hauptfigur.

Die Namen Arthur, Eric und Iwan assoziieren wir mit König Artus und seiner Tafelrunde, zu denen die Ritter Erec und Iwein gehören. Mit dem „großen Lindemann“, einem Hypnotiseur, spielt Daniel Kehlmann auf die Erzählung „Mario und der Zauberer. Ein tragisches Reiseerlebnis“ von Thomas Mann an. Und bei Iwan Friedland denken wir an den am am 27. Oktober 2011 verurteilten Kunstfälscher Wolfgang Beltracchi (bürgerlich: Fischer), aber auch an Dominik Brunner, der am 12. September 2009 einen Übergriff von zwei jungen Männern auf Schüler verhindern wollte und am S-Bahnhof in München-Solln totgeschlagen und -getreten wurde.

Die Kernhandlung des Romans „F“ spielt sich am 8. August 2008 ab. In den drei Hauptkapiteln schildern Martin, Eric und Iwan in der Ich-Form, was sie an diesem Tag erleben. Zum Teil überlagern sich diese Erlebnisse, denn Eric isst mit Martin zu Mittag und telefoniert mit Iwan. Die drei Brüder schildern aber nicht nur die Ereignisse an dem einen Tag, sondern erinnern sich außerdem an zurückliegende Erlebnisse und Entwicklungen. Dabei hat Daniel Kehlmann jeder der drei Hauptfiguren eine eigene Stimme verliehen. Ein besonderes Lesevergnügen bieten die ironischen Porträts des Priesters und des Vermögensverwalters, die so zugespitzt sind, dass sie beinahe wie Satiren bzw. Karikaturen wirken. Das dritte Hauptkapitel, in dem der Kunstfälscher Iwan zu Wort kommt, unterscheidet sich von den anderen beiden, weil das Gewicht hier weniger auf dem Porträt als auf dem Plot liegt.

Die Kapitel über Martin, Eric und Iwan tragen die Überschriften „Das Leben der Heiligen“, „Geschäfte“ und „Von der Schönheit“. Der Roman „F“ enthält noch drei weitere Kapitel, die in der dritten Person Singular stehen. Zu Beginn begleiten wir Arthur und seine drei Söhne Martin, Eric und Iwan zur Bühnenvorstellung eines Hypnotiseurs („Der große Lindemann“), in der Mitte reiht Daniel Kehlmann kurze Lebensgeschichten der Vorfahren Arthur Friedlands aneinander („Familie“), und er beschließt seinen Roman mit einem dreiteiligen Epilog, dessen Handlung 2009 bzw. 2012 spielt („Jahreszeiten“). Diese sechs Kapitel verbinden sich nicht zu einer Gesamtform, sondern ergeben eine heterogene Struktur.

Den Roman „F“ von Daniel Kehlmann gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Burghart Klaußner (Regie: Margrit Osterwold, Hamburg 2013, 480 Minuten, ISBN 978-3-89903-887-3).

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2014
Textauszüge: © Rowohlt Verlag

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