Saskia Hennig von Lange : Alles, was draußen ist

Alles, was draußen ist
Alles, was draußen ist Originalausgabe Jung und Jung, Salzburg / Wien 2013 ISBN 978-3-99027-027-1, 116 Seiten ISBN 978-3-99027-101-8 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Ein alter Mann kurz vor dem Tod wohnt in einem anatomischen Museum ohne Besucher. Er präparierte Innenohren, um Spuren von Gehörtem zu finden, blieb jedoch erfolglos. Nun sinnt er darüber nach, was wir der Nachwelt hinterlassen und notiert, was ihm durch den Kopf geht. Dabei ist er für sich selbst zum Objekt geworden.
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Kritik

Saskia Hennig von Lange schreckt nicht vor makabren Details zurück und entwirft für ihr literarisches Debüt, die Novelle "Alles, was draußen ist", ein absurdes Szenario. Eine leichte Lektüre ist das nicht, aber beim Lesen bleibt ein Nachhall – wie beim Ich-Erzähler, der noch immer die Stimme seiner Mutter hört.
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Der Mann im Museum

Im Krankenhaus erfährt der Ich-Erzähler, ein älterer Herr, dessen Namen nicht genannt wird, dass er den Winter kaum überleben wird, und der Arzt kündigt ihm fürchterliche Schmerzen an.

Der Mann wohnt in einer Dachkammer über einem anatomischen Museum, das er vor einiger Zeit zu einem weit überhöhten Preis von der Universität erwarb. Die Exponate sind längst nutzlos geworden, und es verirrt sich nur noch selten eine Besucherin oder ein Besucher in das Museum.

Im „Knochenzimmer“ hängen Skelette.

Der systematische Raum, der ist erst ganz am Ende dran, vorher muss ich noch in das Knochenzimmer. Osteologische Abteilung steht auf dem Schild neben der Tür, darin der Schrank mit den Skeletten, wie die Anzüge hängen sie dort, jedes an seinem eigenen Haken in dem hölzernen Regal, denke ich, oder ich denke es nicht, denn ich habe das ja schon tausendmal gedacht, jeden Tag, immer, wenn ich diesen Raum betrete, schon beim ersten Mal, habe ich gedacht: Wie die Anzüge hängen die Skelette hier. Und deswegen ist das jetzt kein Gedanke mehr in meinem Kopf, sondern nur ein ruhiges Wissen, ein Satz, den ich mit mir herumtragen kann, den ich betrachten kann. Ein Satz, der sich nicht mehr verändert und der ganz von selbst zu mir kommt, wenn ich über die schwelle trete: Wie die Anzüge hängen sie hier, auf Kleiderbügeln, die rachitischen Kinder und Frauen, die ganz und gar in sich gekehrten Reste von Körpern.

In einem anderen Raum sind teratologische Präparate von Embryonen zu sehen. Es gibt auch Kuriositäten wie ein sechsbeiniges Schaf, siamesische Zwillinge und „den langen Anton“, einen Riesen aus dem 17. Jahrhundert, dessen krankhaftes Wachstum wahrscheinlich durch einen Hypophysentumor verursacht wurde. An einer Wand hängt der Abguss einer Vagina. Eine besondere Beziehung hat der Museumsbesitzer zur Totenmaske von Maximilien de Robespierre und zur „Schönen Beischläferin“, dem Präparat einer Frau, die vor mehr als zweihundert Jahren über alle Standesgrenzen hinweg mit einem jungen Medizinstudenten schlief, dabei schwanger wurde und sich dann ertränkte. Ihr Körper wurde der Länge nach halbiert und ist nun samt dem Embryo geöffnet zu sehen.

Die Stimme der Mutter

In einer Vitrine befinden sich 300 von ihm präparierte Innenohren von Menschen und Tieren.

Er selbst hört immer noch, was seine Mutter zu ihm sagte, als er noch ein Kind war:

Nein, du bleibst hier, bei mir, du gehst nicht nach draußen, es ist noch nicht lange genug kalt, das Eis ist noch nicht fest. Es ist zu gefährlich.

Damals hielt er sich nicht an das Verbot seiner Mutter, brach prompt auf dem Eis ein – und wurde gerettet. Die Worte seiner Mutter hat er nie mehr vergessen, und seine Obsession war es, die Spuren gehörter Worte bzw. Klänge im Innenohr zu entdecken.

Aber der Mensch, der muss ja wissen, was er hört und warum und was er zuerst gehört hat, ein Rauschen, die Stimme der Mutter, und was er als Letztes hören wird. Und warum es Töne gibt, Reste von Stimmen, die dann doch irgendwo im Ohr, im Kopf hängen bleiben und dort nicht mehr weg wollen, selbst wenn man sich noch so sehr schüttelt und plagt und mit dem Kopf gegen alle Wände rennt. Wieso bleibt manches drinnen und manches nicht, und manches kommt gar nicht erst hinein.

Ich suchte ja die Stelle, an der jede Stimme eine Spur hinterlässt im Kopf des anderen. Ich suchte nicht den Ton, das war mir schon klar, dass man den nicht würde finden können, ich suchte nur dessen Spur, denn einen Abdruck muss er ja hinterlassen in der hohlen Bahn, durch die ein solcher Ton gewordener Rest einer Stimme unter Umständen jahrelang rollt und kollert, so meine eigene Erfahrung.

Schädel bekam er von der anatomischen Abteilung der medizinischen Fakultät, aber auch von der Pathologie und Veterinärmedizin. Darüber hinaus holte er sich Katzen, Hunde, Hasen und Meerschweinchen aus Tierheimen und sagte ihnen wiederholt laut vor: „Nein, du bleibst hier, bei mir, du gehst nicht nach draußen.“ Dann schlug er ihnen den Kopf ab, präparierte die Innenohren heraus und suchte nach den Spuren dieses Satzes.

Doch nirgendwo, in keinem der Tiere, konnte ich eine Spur meiner Stimme entdecken, nicht den kleinsten Rest eines Tons […].

Trauma

Der alte Mann notiert minutiös, was ihm durch den Kopf geht.

Denn das ist es, was ich will: einen genauen Bericht über selbst beobachtete Phänomene liefern.

So wie ihm die Stimme seiner Mutter nicht aus dem Kopf geht, erinnert er sich beim Anblick einer Vitrine an ein anderes Schlüsselerlebnis. Als Abiturient lag er auf einem Turnkasten, rücklings, die Unterschenkel überhängend, den Nacken an der Kante, den Kopf schräg nach hinten, seine Lehrerin über ihm. Seine Haut klebte sowohl an ihrer Haut als auch am Kunstleder des Kastens.

Einige Wochen später zerrte sie ihn vom Schulhof durch die Stadt und eröffnete ihm, dass sie schwanger sei und von ihm eine Lösung erwarte, denn ein Kind könne sie nicht gebrauchen.

Über den Ausgang dieser Episode erfahren wir nichts Bestimmtes, aber ein Satz lässt einen tragischen Ausgang vermuten:

Dass sie nur noch ein Gesicht war, weiß zwischen weißen Laken und dann eine Hand, die nicht mehr kühl war, sondern kalt, und die mich nicht losgelassen hat.

An der Tür

Es klopft an der Tür des Museums. Es könnte die Frau sein, die darunter wohnt, die „Untendrunterwohnerin“. Er malt sich aus, dass sie kommt, um ihn zu einem Spaziergang einzuladen, aber er ist nicht fähig, die Tür zu öffnen. Stattdessen rutscht er mit dem Rücken an der Tür zu Boden, kippt schließlich um und liegt da wie vor einiger Zeit ein Emeritus, der im Museum tot zusammenbrach.

Er stellt sich vor, wie die Untendrunterwohnerin seine Leiche findet und seine Aufzeichnungen liest.

Das alles wird sie lesen. Nur eines wird sie nicht wissen können: Was ich jetzt denke, da ich den Stift schon lange beiseite und die Hände ruhig in den Schoß gelegt habe, und noch eines: was ich dachte, als ich einmal, s ist noch gar nicht so lange her, neben meiner Schönen Beischläferin stand, an der Hand sie: die Untendrunterwohnerin.

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Beim Ich-Erzähler, dessen Namen wir nicht erfahren, handelt es sich um einen alten Mann kurz vor dem Tod, der in einem anatomischen Museum wohnt, in das sich nur noch selten eine Besucherin oder ein Besucher verirrt. Seine Obsession war es, Innenohren zu präparieren, um Spuren von Gehörtem zu finden. Aber alle seine Bemühungen waren erfolglos. Am Ende seines Lebens sinnt er darüber nach, was wir der Nachwelt hinterlassen, was von uns nach dem Tod bewahrt wird. Sorgfältig notiert er, was ihm durch den Kopf geht. Dabei ist er für sich selbst zum Objekt geworden.

Die Kunsthistorikerin und Theaterwissenschaftlerin Saskia Hennig von Lange (*1976) schreckt nicht vor makabren Details zurück und entwirft für ihr literarisches Debüt, die Novelle „Alles, was draußen ist“, ein absurdes Szenario. Am Ende bleibt offen, ob wirklich an die Tür geklopft wird und ob es sich bei der „Untendrunterwohnerin“ um eine reale Person oder nur um eine Vorstellung handelt.

Saskia Hennig von Lange arbeitet in „Alles, was draußen ist“ auch mit Spiegelungen, etwa der „Schönen Beischläferin“ und der „kleinen Lehrerin“. Beide wurden von einem Medizinstudenten ungewollt geschwängert, die eine allerdings vor mehr als zweihundert Jahren, die andere kurz nach dem Abitur des Ich-Erzählers.

Eine leichte Lektüre bietet „Alles, was draußen ist“ nicht, aber es ist eine literarisch anspruchsvolle Novelle in geschliffener Sprache – und während der Ich-Erzähler noch immer die Stimme seiner Mutter aus der Kindheit hört, bleibt auch beim Lesen des Buchs ein Nachhall.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2024
Textauszüge: © Jung und Jung

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