Inger-Maria Mahlke : Archipel

Archipel
Rowohlt Verlag, Reinbek 2018 ISBN 978-3-498-04224-0, 429 Seiten ISBN 978-3-644-00128-2
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Vor dem Hintergrund politischer Ereignisse auf Teneriffa von 1919 bis 2015 – Kolonialismus, Falange, Bürgerkrieg, Franco-Regime, Massentourismus, Bauboom und Korruption – erzählt Inger-Maria Mahlke in "Archipel" eine mehrere Familien und Generationen umfassende Geschichte. Es geht vor allem um eine durch den Kolonialismus reich gewordene großbürgerliche Familie, eine aus dem Mittelstand und eine am unteren Rand der Gesellschaft.
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Kritik

Inger-Maria Mahlke beginnt ihren Roman "Archipel" mit dem Jahr 2015 und springt dann kapitelweise zurück bis 1919. Sie bleibt auf Distanz zu den Charakteren und bietet auch keine Identifikationsfigur an. Ständiger Perspektivenwechsel, fehlende Fokussierung und die Überfrachtung mit mikroskopisch wirkenden Einzelheiten machen "Archipel" zu einer spröden Lektüre, zumal vieles ausgespart bleibt oder nur angedeutet wird.
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1919

Die Familie Moore verließ Dublin während der Großen Hungersnot in Irland Mitte des 19. Jahrhunderts und gründete ein Handelshaus in La Orotava im Zentrum der Insel Teneriffa. 1913 zog Theobaldo Moore nach Santa Cruz um und richtete sich in einer Villa ein. Zwei Jahre später starb seine junge Frau bei einer Grippeepidemie. Das Unternehmen exportiert zum Beispiel Tomaten und Bananen – das Gleiche wie die konkurrierende Firma Elder, Dempster & Company, deren irischer Geschäftsführer Sidney Fellows sich 1914 im Alter von 33 Jahren auf Teneriffa niederließ.

Vor dem Ersten Weltkrieg verliebte sich Augusto Baute Gil in Berta Figueroa, die zweimal im Jahr ihre Tante auf Teneriffa besuchte. Als er in Madrid Pharmazie studierte, schrieb er ihr jede Woche einen Brief – aber keinen davon beantwortete sie. Dann starb ihr Onkel; seine Bäckerei in Santa Cruz wurde geschlossen, und die Witwe zog nach Candelaria. Etwa zur gleichen Zeit stellten die Eltern Augusto Baute die fünf Jahre jüngere Olga Ramos Díaz vor, und vier Monate später riefen sie den Studenten mit einem Telegramm von Madrid zurück: Olga war von ihm schwanger. Sechs Wochen später heirateten sie. Der Sohn Jorge Baute Ramos wurde 1913 geboren.

Nach dem Ersten Weltkrieg macht Bertas Vater Teófilo Figueroa in Santa Cruz eine Bodega auf, und Augusto sieht Berta nun jeden Tag. Zu ihr zieht es ihn, während Olga Ende 1919 in den Wehen liegt und den Sohn Julio Baute Ramos zur Welt bringt.

An Silvester rufen die Menschen in La Laguna  „Auf die Zukunft!“

1929

Das vor allem von britischen Investoren finanzierte, 1892 eröffnete Grand Hotel Taoro oberhalb des Zentrums von Puerto de la Cruz brennt nieder.

1935

Der 16-jährigen Adela („Ada“) Moore fiel 1919 ein groß gewachsener Mann auf, dessen Namen sie erst später erfuhr: Lorenzo Gonzáles Gonzáles. Er wird ihr Ehemann. Der Witwer Theobaldo Moore, dem die Wahl seiner Tochter missfiel, stimmte der Verbindung nur unter der Bedingung zu, dass das Paar bei ihm in der Villa wohnt.

Lorenzo geht keiner Beschäftigung nach. 1933 gehört er zu den Gründungsmitgliedern der Falange. Ada verabscheut das Porträt des Parteiführers Jose Antonio Primo de Rivera, das ihr Mann aufgehängt hat. Er verkauft das Auto, ein Geschenk seines Schwiegervaters, um eine Druckerpresse für die Propaganda anschaffen zu können.

1935 kommen die Surrealisten André Breton und Jacqueline Lamba, Oscar Dominguez und Benjamin Péret mit der „San Carlos“ nach Santa Cruz, um eine Konferenz bzw. eine Werkschau zu veranstalten. Ada wird wegen ihrer Fremdsprachenkenntnisse hinzugezogen. Allerdings hält sie die drei Männer für Idioten. Nur Jacqueline Lamba beeindruckt sie. Von Frauen in langen Hosen hat Ada schon gehört. Aber die Surrealistin trägt Shorts!

1936

Als sich Lorenzo Gonzáles Gonzáles im Juli 1936 am Spanischen Bürgerkrieg beteiligt, hofft Ada, dass er nicht mehr zurückkommt. Sie ist schwanger. Lorenzo hofft auf einen Sohn, den er nach Jose Antonio Primo de Rivera nennen will, aber es ist eine Tochter. Sie erhält den Namen Francisca Maria Antonia Josefa González Moore. Weil Ada sich weigert, den Säugling zu stillen, springt eine Amme ein.

Vier Männer blockieren das Gleis der zwischen Santa Cruz, San Cristóbal de La Laguna und Tacoronte fahrenden Tranvía Tenerife. Sie bedrohen den Fahrer einer Bahn mit Pistolen und verlangen den Beutel mit dem Fahrgeld. Als sich eine zweite Bahn nähert, erschießen sie deren Fahrer und den auf dem Trittbrett stehenden Studenten Augusto Bernal.

Francisco Franco Behamonde, der vor einiger Zeit als Capitán General der Kanarischen Inseln nach Teneriffa strafversetzt worden war, verließ im Frühjahr 1936 den Archipel, um den Staatsstreich in Spanien durchzuführen. Die aufständischen Generäle wählen ihn in Salamanca zum Oberbefehlshaber.

Der 20-jährige Medizinstudent Jorge Baute Ramos wird in der Bibliothek der Diözese von den neuen Machthabern festgenommen. Die Familie hört nie wieder von ihm.

Sein sechs Jahre jüngerer Bruder Julio, der sich aufs Festland abgesetzt hat, kehrt 1937 nach Teneriffa zurück. Eine ihm unbekannte junge Frau mit einem Säugling auf dem Arm öffnet die Tür des Elternhauses. Den Namen seines Vaters Augusto Baute Gil kennt sie nicht. Ihr Vermieter heißt anders.

Teófilo Figueroa führt Julio zu einem Haus, in dessen armseligen Anbau Olga wohnt. Julios Eltern mussten im Bürgerkrieg sowohl ihr Haus als auch die Apotheke abgeben. Julios Vater starb. Die Witwe wäscht für Teófilos Tochter Berta und darf als Gegenleistung hier wohnen.

Jose Antonio Primo de Rivera wird am 20. November 1936 von Republikanern hingerichtet. Fünf Monate später entscheidet Franco den Machtkampf für sich, und die mit anderen Gruppierungen vereinigte Falange wird als „Bewegung“ zur Staatspartei.

1944

Julio arbeitet auf einer Baustelle in Santa Cruz, wo eine neue Markthalle entsteht.

Sidney Fellows verlässt die Insel. Ada, die mit ihm befreunet ist, und ihre Tochter Francisca verabschieden ihn, bevor er zum Schiff gebracht wird.

1950

Als der Caudillo am 23. Oktober 1950 noch einmal nach Teneriffa kommt, gehört Lorenzo Gonzáles Gonzáles, der Herausgeber der Tageszeitung La Mañana nicht dem offiziellen Begrüßungskomitee an.

Eine Zufallsbekanntschaft, Heinrich Wiese aus Hamburg, erzählt Lorenzo, dass ein Bekannter von ihm 1939 hier gewesen sei und ihm danach berichtet habe, die Kanarischen Inseln seien für eine Gärtnerei der ideale Ort. „Blumen sind die Zukunft“, soll Fitze Neumann gesagt haben. Nun ist Heinrich Wiese dem Hinweis gefolgt und hat auch bereits ein Stück Land erworben.

Merche Ruiz Pérez putzt in einer Bar. Die 26-Jährige ist schwanger und wird im nächsten Jahr ihre Tochter Mercedes Morales Ruiz zur Welt bringen. Als sie zum ersten Mal schwanger war, lebte sie noch bei ihrer Großmutter, aber die warf sie hinaus, sobald sie merkte, was mit ihr los war. Merche kam zu den Nonnen vom Orden Oblatas del Santísimo Redentor in Santa María de Gracia. Sofort nach der Geburt nahm man ihr das Baby weg und überließ es vermutlich einer Pflegefamilie auf dem Festland.

1957/58

Im Februar 1957 kommt Julio Baute Ramos nach Hause und ist völlig verändert. Von da an fährt er nicht mehr zur Redaktion, bei der er beschäftigt war, denn der spanische Diktator Franco hat angeordnet, alle Mitglieder der Falange aus den Redaktionen zu entlassen.

General Hernaro Bernadotte wuchs in Kastilien auf. Seine durch den Kolonialismus reich gewordene großbürgerliche Familie bewohnte einen Landsitz bei Toledo. In jungen Jahren erbte er Ländereien auf Teneriffa. Nach dem Putsch von Miguel Primo de Rivera, dem Vater des Falange-Führers, im September 1923 hielt General Bernadotte es für ratsam, aus dem aktiven Dienst auszuscheiden und sich auf die geerbte Finca an der Costa del Silencio zurückzuziehen.

1958 spricht er seinen 37-jährigen Sohn Eliseo Bernadotte Borges auf Francisca Gonzáles Moore an, die 22 Jahre alte Tochter des Zeitungsherausgebers Lorenzo Gonzáles Gonzáles, die vor zwei Jahren die Aufgaben ihrer Mutter Ada bei der Sección Femenina übernahm. Eliseo und Francisca heiraten.

Lorenzo Gonzáles Gonzáles schlägt seinem Schwiegersohn vor, die geerbte Finca zu verkaufen, denn es gibt belgische Investoren, die mehr als den marktüblichen Preis bezahlen würden, um eine Hotelanlage bauen zu können.

Julio Baute Ramos‘ verarmte Mutter Olga stirbt noch im selben Jahr.

1963

Merche fängt als Hausmädchen bei der Familie Bernadotte an. Ihre zwölf bzw. sechs Jahre alten Töchter Mercedes und Eulalia müssen allein aufstehen, sich waschen und anziehen. Vor dem Schlafengehen am Abend dürfen die Mädchen die Wohnräume mit DDT aussprühen.

Das von Lorenzo Gonzáles Gonzáles vorgeschlagene Geschäft mit den Belgiern kommt zustande. Er und Eliseo beteiligen sich an dem Bauprojekt.

1970

Francisca hört im Juni 1970, wie die von ihrem Ehemann eingeladenen Gäste über die Westsahara reden. Einer kommt darauf zu sprechen, dass die Vereinten Nationen das Gebiet 1963 auf die Liste der zu entkolonialisierenden Länder setzten. Die Westsahara sei nun eine normale spanische Provinz wie Galizien, behauptet jemand.

„Vor ein paar Tagen, bei dem Festakt in El Aaiún, anlässlich der Erhebung zur Provinz, sind ein paar Krachmacher aufgetaucht“, [sagt] Eliseo schließlich.
„Sie wollten eine Petition verlesen, sie durften eine Petition verlesen, also bitte“, sagt Se
ñor Rivera vom Direktorium der Raffinerie, und einige lachen.
Seine Frau beugt sich zu Francisca. „Im Anschluss ist es zu einigen hässlichen Szenen gekommen“, sagt sie halblaut.
„Wurde jemand verletzt?“ Francisca versucht, sich an die Nachrichten im Fernsehen gestern Abend zu erinnern.
„Von uns niemand“, antwortet Rivera. „La Legión ist la Legión.“
„Bei den anderen elf Tote“, sagt seine Frau, wieder halblaut.
„Bei wem?“
„Na, bei denen von drüben.“
„Ich dachte, das sind jetzt auch Spanier“, wirft eine andere Dame ein. Glücklicherweise erscheint in dem Augenblick die Hilfe und fragt, ob noch Wein gewünscht werde.

1978

Am 16. Juli 1978 holt Merche Ruiz Pérez den 16-jährigen Felipe Bernadotte González von der Schule ab. Das ist ungewöhnlich. Im Elternhaus stößt er auf Polizisten. Seine Mutter Francisca liegt tot im Bad. Im Alter von 42 Jahren hat sie sich das Leben genommen.

Vier Monate später, am 20. November, stirbt der Diktator Francisco Franco y Bahamonde in Madrid.

Eliseo Bernadotte Borges, der für die Versorgung und den Transport der Landstreitkräfte der Capitania General de Canarias zuständig ist, lässt sich 1979 vorzeitig in den Ruhestand versetzen, weil er sich um die Söhne Felipe und Jose Antonio kümmern muss. Die Haushälterin Merche beklagte sich, dass die Jungen nach der Schule nicht nach Hause kämen.

1981

Julio Baute Ramos hat die von seinem Schwiegervater übernommene Elektrowerkstatt zu einem Geschäft für Elektrogeräte entwickelt: Marrero Electrodomésticos. Am 23. Februar 1981 schließt der 62-Jährige den Laden zur Verwunderung seiner Tochter Ana vorzeitig, schickt die letzten Kunden ohne Bedienung hinaus und fordert Ana auf, unverzüglich mit einem Taxi nach Hause zu fahren. Der Taxifahrer berichtet Ana, dass Franco-Anhängern beim Militär und in der Guardia Civil einen Putschversuch begonnen haben. Die Putschisten stürmten das Parlament und unterbrachen die Wahl eines neuen Ministerpräsidenten. Die Abgeordneten mussten sich zehn Minuten lang auf den Boden legen.

General Jaime Milans del Bosch y Ussía lässt in Valencia Panzer auffahren und erklärt, er warte auf Anweisungen des Königs. Der Versuch, das Rad der Geschichte zurückzudrehen, scheitert an König Juan Carlos I., der sechs Stunden nach dem Putschbeginn die Armeeangehörigen in die Kasernen zurück beordert und sich unmissverständlich für den eingeleiteten Demokratisierungsprozess (Transición) ausspricht.

Eliseo Bernadotte Borges erfährt durch einen Anruf seines letzten Adjutanten von den Vorgängen in Madrid. Besorgt wählt er die Nummer des Studentenheims in Madrid und versucht, seinen Sohn Felipe zu warnen. Als er ihn nach mehreren vergeblichen Versuchen endlich am Telefon hat, zischt der Sohn den Vater entgegen:

„Glaub ja nicht, dass ich nicht, wenn es nötig wäre, wenn es irgendwelche Anweisungen gäbe – dass ich nicht kämpfen würde gegen euch.“

Dann erhält Eliseo einen Anruf aus Mesa Mota in La Laguna: Sein Sohn Jose Antonio sei trotz der wegen des Putsches verhängten Ausgangssperre nicht in der Kaserne. (Als Leser wissen wir, dass Jose Antonio mit einem anderen jungen Mann namens Rubén Sex hat, obwohl er befürchtet, jemand könne kompromittierende Fotos von ihm knipsen. (Jose Antonio Bernadotte González stirbt zweieinhalb Jahre später, am 1. Oktober 1983, bei einem Autounfall, als er ebenfalls in der Kaserne hätte sein sollen.)

Mercedes Morales Ruiz ist inzwischen 30 Jahre alt. Sie wird beim Schwarzfahren erwischt. In Apotheken kauft sie Kanülen, angeblich für ihre zuckerkranke Mutter, und wenn jemand sie auf die Male an ihren Armen anspricht, behauptet sie, es seien entzündete Mückenstiche.

1993

1990 stellte die 26-jährige Ana Baute Marrero ihren Eltern den zwei Jahre älteren Felipe Bernadotte Gonzalés vor. 1993 überrascht der Historiker sie mit der Annahme einer Professur an der Universidad de La Laguna, und sie ihn mit ihrer Schwangerschaft. Ihr Vater Julio Baute Ramos weist darauf hin, ein Kind zu erwarten, bedeute schon lange nicht mehr, heiraten zu müssen. Aber die beiden vermählen sich.

Elisio Bernadotte Borges beabsichtigt, nach der Finca nun die Wasserrechte zu verkaufen, denn es gibt nicht nur Gerüchte über den geplanten Bau von Entsalzungsanlagen, sondern auch über eine bevorstehende Einschränkung der Handelsrechte.

Bald darauf erhält Ana einen Anruf von Merche. Ihrem Schwiegervater sei übel, sagt die Haushälterin. Ana will einen Krankenwagen rufen, und erst als sie nach der Adresse gefragt wird, merkt sie, dass sie die nicht kennt. Aber für Eliseo Bernadotte Borges käme  ohnehin jede Hilfe zu spät: Er starb an einem Herzinfarkt.

Bei Anas Mutter Bernarda wird 1993 ein Schatten in der Lunge entdeckt, und die 59-Jährige stirbt noch im selben Jahr.

2000

Ana arbeitet inzwischen bei der Agencia de Agricultura und strebt eine politische Karriere an.

Als die 36-Jährige bei Hans-Günther, dem Inhaber eines der größten Gärtnerei- und Blumenexport-Unternehmens auf Teneriffa, und dessen Ehefrau Ute übers Wochenende eingeladen ist, treibt sie es mit dem 17-jährigen Sohn Einar, der die deutsche Schule besucht. Sie sei hingefallen, lügt sie später, um Felipe die Schrammen an ihren Schultern zu erklären.

2007

Felipe Bernadotte González betrügt seine zur Referentin im Büro des Sprechers für Tourismus avancierte Frau Ana mit Mitarbeiterinnen am Lehrstuhl wie zum Beispiel Leticia Ferrera.

Merche Ruiz Pérez – sie ist inzwischen 83 Jahre alt – glaubt einen Mann in ihrem Zimmer zu sehen, obwohl da niemand ist. Die Zimmer der Mädchen seien oben, sagt sie zu ihm und verlangt dann von ihrer Tochter Eulalia, ihn mit dem Besen hinaus zu prügeln. Die 50-Jährige wundert sich über die Bemerkung, die Zimmer der Mädchen seien oben.

Ihre sechs Jahre ältere Schwester Mercedes, die wegen Drogenhandels eine Freiheitsstrafe verbüßt, wird zum gelockerten Strafvollzug von einer Haftanstalt auf dem Festland ins Frauengefängnis von Granadilla de Abona auf Teneriffa verlegt.

Anfang Dezember 2008 wird das letzte Denkmal für Franco, ein 1959 aufgestelltes Reiterstandbild, in Madrid abtransportiert. Felipe Bernadotte González sieht es im Fernsehen und wundert sich darüber, wie unbeteiligt er es hinnimmt.

2015

Rosa Bernadotte Baute – die 21-jährige Tochter von Felipe Bernadotte González und Ana Baute Marrero – bricht ihr Kunststudium in Madrid ab und kehrt nach Teneriffa zurück. Sie hilft im Seniorenheim „Asyl der barmherzigen Schwestern für in Not gefallene Alte“ in La Laguna aus, in dem ihr inzwischen 96 Jahre alter Großvater Julio Baute Ramos seit einer Knieversteifung durch einen Meniskusriss vor 18 Jahren an der Pforte sitzt. Seine Aufgabe ist es, die dementen Bewohner daran zu hindern, das Heim zu verlassen. Wenn Rosa nicht im Seniorenheim das Geschirr spült, schaut sie weitere Folgen der Reality-TV-Serie „Survivor“ an. In Anknüpfung an den ironischen Satz „anything goes“ des Philosophen Paul Feyerabend fragt sie sich: „Was ist noch möglich, wenn alles möglich ist?“

Die konservative, auf das Thema Tourismus spezialisierte Politikerin Ana Baute Marrero hat ihre Karriere in Santa Cruz beendet, nachdem sie in Abhängigkeiten geraten war und ihr eine Korruptionsaffäre drohte. Im Haushalt hilft ihr Eulalia Morales Ruiz.

Dass ihr Mann, Felipe Bernadotte González, der sich von der Universität zurückgezogen hat und zum Trinker geworden ist, eine Stiftung zur Aufklärung der franquistischen Repression gründen will, tut sie mit der Bemerkung ab, das würde niemand ernst nehmen.

Schließlich hat er beschlossen, kein Bernadotte mehr zu sein und sich stattdessen um den Garten zu kümmern.

 

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Vor dem Hintergrund politischer Ereignisse und sozialer Entwicklungen auf Teneriffa von 1919 bis 2015 – Kolonialismus, Falange, Bürgerkrieg, Franco-Regime, Massentourismus, Bauboom und Korruption – erzählt Inger-Maria Mahlke in „Archipel“ eine mehrere Familien und Generationen umfassende Geschichte. Die zeitgeschichtlichen Eckpunkte werden allderdings nur angedeutet; sie spiegeln sich mehr im Privaten. (Eine Zeittafel im Anhang wäre hilfreich.)

„Archipel“ dreht sich um die durch den Kolonialismus reich gewordene großbürgerliche Familie Bernadotte, die dem Faschismus nahe steht. Der Apotheker Augusto Baute Gil gehört zur Mittelschicht, sympathisiert mit dem Sozialismus und verliert im Spanischen Bürgerkrieg nicht nur seinen Sohn Jorge, sondern auch seinen Besitz. Die 1994 geborene Rosa Bernadotte Baute verbindet beide Familien. Am unteren Rand der Gesellschaft lebt die Familie Morales. Merche und ihre jüngere Tochter Eulalia müssen putzen, um zu überleben. Eulalias ältere Schwester Mercedes wird drogensüchtig und verbüßt schließlich eine Haftstrafe wegen Drogenhandels.

„Auf die Zukunft!“ rufen die Menschen an Silvester 1919. Damit endet der Roman „Archipel“. Als Leserinnen und Leser kennen wir die Zukunft bereits, denn Inger-Maria Mahlke beginnt mit dem Jahr 2015 und springt dann kapitelweise zurück. Wir kennen also die Wirkung vor der Ursache. Innerhalb der Kapitel folgt die Autorin hingegen der Chronologie. Drei Kapitel und fast ein Drittel der gesamten Seitenzahl widmet Inger-Maria Mahlke dem Jahr 2015, nicht weil so viel geschieht, sondern weil sie extrem detailreich erzählt. Dieser Detailreichtum nimmt dann auf dem Weg in die Vergangenheit ab, und die Kapitel werden kürzer.

Wir lesen von den politischen Einstellungen der Romanfiguren und erfahren, wie sie ihren Alltag meistern und versuchen, sich Zukunftsperspektiven zu verschaffen. Die zahlreichen Charaktere bleiben blass, nicht zuletzt, weil Inger-Maria Mahlke auf Distanz zu ihnen bleibt. Sie beobachtet eine Figur auch nicht längere Zeit, sondern springt spätestens nach ein paar Seiten zu einer anderen. Das macht es den Leserinnen und Lesern unmöglich, sich in eine Person zu vertiefen. Sie sollen es wohl auch nicht, denn Inger-Maria Mahlke verzichtet auf eine Identifikationsfigur. (Das Personenverzeichnis ist unübersichtlich; eine Genealogie wäre hilfreicher.)

Es fällt nicht nur schwer, sich ein Bild von den Romanfiguren zu machen, sondern auch, dem Geschehen zu folgen. Das liegt am ständigen Perspektivenwechsel, an der fehlenden Fokussierung, und an der Überfrachtung mit mikroskopisch wirkenden Einzelheiten. Diese durchgängig im Präsens stehende Sprache demonstriert Inger-Maria Mahlke mit den ersten Sätzen des Romans „Archipel“:

Es ist der 9. Juli 2015, vierzehn Uhr und zwei, drei kleinliche Minuten. In La Laguna, der alten Hauptstadt des Archipels, beträgt die Lufttemperatur 29,1 Grad, um siebzehn Uhr siebenundzwanzig wird sie mit 31,3 Grad ihr Tagesmaximum erreichen. Der Himmel ist klar, wolkenlos und so hellblau, dass er auch weiß sein könnte.

Dazu kommt, dass Inger-Maria Mahlke vieles absichtlich auslässt (Ellipsen) und anderes nur andeutet. Dass sich Francisca González Moore selbst das Leben genommen hat, erschließt sich nur durch eine kurze Bemerkung darüber, dass der Geistliche eine Beerdigung zulässt.

Für ihren Roman „Archipel“ wurde Inger-Maria Mahlke mit dem Deutschen Buchpreis 2018 ausgezeichnet. Die  Jury begründete dies folgendermaßen:

Der Archipel liegt am äußersten Rand Europas, Schauplatz ist die Insel Teneriffa. Gerade hier verdichten sich die Kolonialgeschichte und die Geschichte der europäischen Diktaturen im 20. Jahrhundert. Inger-Maria Mahlke erzählt auf genaue und stimmige Weise von der Gegenwart bis zurück ins Jahr 1919. Im Zentrum stehen drei Familien aus unterschiedlichen sozialen Klassen, in denen die Geschichte Spaniens Brüche und Wunden hinterlässt. Vor allem aber sind es die schillernden Details, die diesen Roman zu einem eindrücklichen Ereignis machen. Das Alltagsleben, eine beschädigte Landschaft, aber auch das Licht werden in der Sprache sinnlich erfahrbar. Faszinierend ist der Blick der Autorin für die feinen Verästelungen in familiären und sozialen Beziehungen.

Den Roman „Archipel“ von Inger-Maria Mahlke gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Eva Gosciejewicz (ISBN 978-3-8398-1720-9 2).

Inger-Maria Mahlke wurde 1977 in Hamburg geboren, wuchs jedoch in Lübeck auf und verbrachte die Schulferien meistens bei Verwandten auf Teneriffa. Nach dem Jura-Studium an der FU Berlin arbeitete sie am Lehrstuhl für Kriminologie.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2019
Textauszüge: © Rowohlt Verlag

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