Leïla Slimani : Der Duft der Blumen bei Nacht

Der Duft der Blumen bei Nacht
Le parfum des fleurs la nuit Les Éditions du Stock, Paris 2021 Der Duft der Blumen bei Nacht Übersetzung: Amelie Thoma Luchterhand Literaturverlag, München 2022 ISBN 978-3-630-87687-0, 160 Seiten ISBN 978-3-641-28287-5 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Auf Anregung ihrer Lektorin verbringt Leïla Slimani im April 2019 eine Nacht im Museo Punta della Dogana in Venedig. Nach der Ankunft zeigt ihr ein Wachmann, wo sich die Toiletten befinden und das für sie aufgeschlagene Feldbett steht. Dann bleibt sie allein. Sie lässt die ungewöhnliche Situation auf sich wirken. Daraus ergeben sich Assoziationen, Erinnerungen und Reflexionen.
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Kritik

"Der Duft der Blumen bei Nacht" lässt sich in kein Genre pressen. Es weist Züge sowohl eines Romans als auch eines Essays auf und enthält autobiografische Erinnerungen und Reflexionen. Ein großer Wurf ist das nicht und sollte es wohl auch gar nicht sein. "Der Duft der Blumen bei Nacht" ist eher als Fingerübung einer klugen und nachdenklichen Schriftstellerin einzuordnen.
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Paris, Dezember 2018

Während Leïla Slimani im Dezember 2018 in Paris an einem neuen Roman arbeitet, denkt sie über den Beruf der Schriftstellerin nach.

Oberste Regel, wenn man einen Roman schreiben möchte, ist, Nein zu sagen. Nein, ich komme nicht mit auf ein Glas. Nein, ich kann nicht meinen kranken Neffen hüten. […]
Schreiben ist Disziplin. Es ist Verzicht auf Glück, auf die alltäglichen Freuden.

Das Draußen wirkt auf unsere Gedanken wie die Luft auf die Wandfresken in Fellinis Film Roma, die sich in dem Moment auflösen, da sie ans Licht kommen.

Um Dann schlaf auch du zu beenden, habe ich mich in der Normandie von allem abgeschottet. Eine Woche lang habe ich niemanden gesehen. Ich habe den Klang meiner eigenen Stimme nicht gehört. Ich bin im Pyjama in dem stillen Haus herumgeschlichen, habe mich nicht gewaschen, nicht gekämmt und irgendwann irgendwas gegessen. Ich ging nicht mehr ans Telefon, ließ Briefe und Rechnungen auflaufen, entledigte mich all meiner Pflichten. Ich wachte mitten in der Nacht auf, um eine Passage niederzuschreiben, die mir plötzlich im Traum eingefallen war. In meinem Zimmer herrschte eine entsetzliche Unordnung. Das Bett war übersät mit Büchern, Zetteln, trockenen Briochekrümeln.

Eigentlich möchte Leïla Slimani ihre Klausur nicht verlassen, aber für eine Verabredung mit Alina Gurdiel macht sie eine Ausnahme, und die Lektorin schlägt ihr vor, bei der von Les Éditions du Stock initiierten Buchreihe „Eine Nacht im Museum“ mitzumachen.

Leïla Slimani willigt ein, sich an dem Projekt zu beteiligen, aber wieder zu Hause, bereut sie ihren Entschluss.

Was habe ich mir da nur wieder eingebrockt? Warum habe ich eingewilligt, diesen Text zu schreiben, während ich doch zutiefst davon überzeugt bin, dass das Schreiben einer Notwendigkeit folgen muss, einer persönlichen Obsession, einem inneren Drang.

Venedig, April 2019

Mitte April 2019, am Tag nach dem Großbrand in der Pariser Kathedrale Notre-Dame, trifft Leïla Slimani in Venedig ein. Bis zum Beginn ihrer einsamen Nacht im Museo Punta della Dogana bleiben ihr noch zwei Stunden Zeit.

Sie streift durch die Stadt. Über den Massentourismus ist bereits alles gesagt. Auf der Terrasse eines Restaurants stopft sie sich noch mit Sardinen, einer Kürbis-Pasta, einem panierten Schnitzel und Venusmuscheln voll, bevor sie sich an der Pforte des Museo Punta della Dogana meldet. Der Wachmann versteht ebenso wenig Französisch wie sie Italienisch, aber er zeigt ihr, wo sich die Toiletten befinden und das für sie aufgeschlagene Feldbett steht.

Die Überwachungskameras bleiben vermutlich eingeschaltet. Vielleicht wird die Frau, die hier die Nacht allein verbringt, auf den Bildschirmen beobachtet. Für Leïla Slimani spielt es keine Rolle. Sie zieht die klackernden Schuhe aus und sieht sich um.

Die aktuelle Ausstellung im Museo Punta della Dogana trägt den Titel „Luogo e Segni“ (Ort und Zeichen). Unter den 36 beteiligten Künstlerinnen und Künstlern dominiert die libanesisch-amerikanische Malerin und Schriftstellerin Etel Adnan. Die Kunstwerke erinnern sie an einen Besuch mit einem Freund in den Uffizien. Damals war sie 25.

[…] und ich machte vor jedem Gemälde ein andächtiges Gesicht, artig wie bei der Erstkommunion […]. Mein Freund hat sich über mich lustig gemacht. Über diese etwas dämliche Ehrfurcht, die völlige Abwesenheit von eigenständigem und kritischem Denken […].

Das Museum bleibt für mich ein Ausdruck westlicher Kultur, ein elitärer Raum, dessen Codes ich noch immer nicht erfasst habe.

Im Zentrum des Museums stehen zwei schwarze Monolithe. Es sind Terrarien. Die hat der marokkanische Künstler Hicham Berrada mit Nachtjasmin beflanzt, einer Pflanze, die Leïla Slimani aus ihrer Kindheit in Rabat kennt. Die Blüten öffnen sich nur nachts: „Der Duft der Blumen bei Nacht“.

Ich heiße Nacht. Das ist die Bedeutung meines Vornamens, Leïla, auf Arabisch.

Bei der Installation im Museo Punta della Dogana hat Hicham Berrada den Rhythmus vertauscht: Nachts werden die Pflanzen taghell mit Natriumdampflampen beleuchtet, und wenn es Tag ist, bleibt es in den Terrarien dunkel. Dann duften die Blüten.

Assoziationen

Leïla Slimani erinnert sich an Rabat.

Rabat bot kaum Abwechslung, und meine Schwestern und ich vertrieben uns die Zeit mit Lesen und Filmeschauen. Nicht nur die Nacht war verbotenes Terrain, auch das Draußen. Mädchen hatten nichts zu suchen auf Straßen, Plätzen und in den Cafés, deren Terrassen, das weiß ich noch, ausschließlich von Männern besetzt waren.

Mit 16 wollte Leïla Slimani nicht länger ein braves Mädchen sein. Deshalb stahl sie sich nachts aus dem Haus und kehrte erst im Morgengrauen zurück.

Damals faszinierten, verwirrten und verstörten mich die Prostituierten. […]
Ich war berauscht von meiner Freiheit, und zugleich hatte ich Angst.

Ihre Eltern ermutigten sie und ihre Geschwister dazu, frei zu denken und sich eigenständig eine Meinung zu bilden, ermahnten sie aber zugleich, in der Öffentlichkeit diskret zu bleiben. Dennoch empfand Leïla Slimani es als Beeinträchtigung, in der vom Islam geprägten marokkanischen Gesellschaft selbst nicht gläubig zu sein, denn damit grenzte sie sich selbst aus.

1999 verließ Leïla Slimani Marokko.

Ich lebe nicht im Exil. Man hat mich nicht bedroht, ich wurde nicht durch die Umstände gezwungen. In Paris habe ich gefunden, wofür ich hergekommen bin: die Freiheit, so zu leben, wie ich will, stundenlang auf einer Caféterrasse zu sitzen und Wein zu trinken, zu lesen, zu rauchen.

In Marokko bin ich zu westlich, zu frankofon, zu atheistisch. In Frankreich bleibt mir die Frage nach der Herkunft nie erspart.

Die im 17. Jahrhundert als Zollstation der Republik Venedig errichtete Punta della Dogana war ein „Begegnungspunkt zweier Kulturen: der abendländischen und der arabisch-byzantischen Welt […], Knotenpunkt des Warenaustauschs zwischen Nordeuropa und der Levante“.

Die Installation des in Algerien geborenen französischen Künstlers und Filmemachers Philippe Parreno ist Marilyn Monroe gewidmet.

Meine Schwestern und ich waren fasziniert von diesen Filmen. Nie waren wir in echt Frauen wie ihr begegnet: so schön, so unbekleidet, so blond. […]
Ich fragte mich, wie es sich wohl anfühlen mochte, so eine Frau zu sein. Eine Frau, deren Schönheit regelrechte Hysterie auslöst […]. Von den Frauen gehasst, den Männern begehrt, niemals ernst genommen zu werden. Dann entdeckte ich die Marilyn der Misfits, die mich an die Heldinnen von Tennessee Williams erinnerte, unverstandene Frauen aus der Provinz, am Rand der Verzweiflung und des Wahnsinns. […]
Als Freundin von Carson McCullers und Truman Capote, Ehefrau von Arthur Miller las sie die ganze Zeit. […]

Leïla Slimani hat auch den Roman „Blond“ gelesen, den Joyce Carol Oates über Marilyn Monroe geschrieben hat.

Als die Gier nach einer Zigarette zu groß wird, versteckt sich Leïla Slimani in einer Toilettenkabine, hält den Kopf in die Schüssel, weil sie befürchtet, sonst einen Rauchmelder auszulösen, und inhaliert ein paar Züge.

Der Vater

Nach Mitternacht denkt Leïla Slimani an ihren Vater Othman Slimani. Als Präsident der CIH Bank wurde er in einen Politik- und Finanzskandal hineingezogen und 2003 in Rabat inhaftiert. Er kam zwar nach vier Monaten gegen Kaution frei, starb jedoch bald darauf, am 2. April 2004, an Lungenkrebs. 2010 wurde er posthum von allen Anklagepunkten freigesprochen.

Schreiben war für mich der Versuch einer Wiedergutmachung. Einer ganz persönlichen Wiedergutmachung, in Zusammenhang mit der Ungerechtigkeit, der mein Vater zum Opfer gefallen war. Ich wollte alles Unrecht wiedergutmachen: das gegen meine Familie, aber auch gegen mein Volk und mein Geschlecht. Wiedergutmachung auch für mein Gefühl, nirgendwo dazuzugehören, für niemanden zu sprechen, an einem Nicht-Ort zu leben. Ich dachte vielleicht, dass das Schreiben mir eine klare Identität verleihen würde, mir auf jeden Fall erlauben würde, mich selbst zu erfinden, mich unabhängig vom Blick der anderen zu definieren. Aber ich habe verstanden, dass diese Wunschvorstellung eine Illusion war. Schriftstellerin zu sein bedeutet für mich, ganz im Gegenteil, sich zu einem Leben am Rand der Gesellschaft zu verurteilen.

Zu Lebzeiten des Vaters hätte Leïla Slimani es nicht gewagt, Schriftstellerin zu werden. Das war erst nach seinem Tod möglich.

Indem er ging, indem er aus meinem Leben verschwand, hat er mir Wege eröffnet, die ich ganz bestimmt nie einzuschlagen gewagt hätte, wenn er noch da gewesen wäre. Das ist ein beschämender Gedanke, ein trauriger Gedanke, doch je mehr Zeit vergeht, desto mehr wird mir bewusst, wie zutreffend er ist. Mein Vater war ein Hindernis.

Der Morgen

Zuletzt muss Leïla Slimani doch noch auf dem Feldbett im Museo Punta della Dogana eingeschlafen sein, denn sie wird vorsichtig von einem Mann geweckt, der vor der Öffnung des Museums hier putzen soll.

Im Außenbereich eines Cafés, das gerade geöffnet wird, bestellt Leïla Slimani einen Espresso und raucht eine Zigarette.

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Les Éditions du Stock in Paris initiierte 2017 eine Buchreihe mit Beiträgen von Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die eine Nacht allein in einem Museum verbringen und darüber schreiben. Den Auftakt machte Kamel Daoud 2017 mit „Le peintre dévorant la femme“ / „Meine Nacht im Picasso-Museum“. Weitere Titel:

  • Adel Abdessemed, Christophe Ono-dit-Biot: Nuit espagnole
  • Jakuta Alikavazovic: Comme un ciel en nous
  • Enki Bilal: Nu avec Picasso
  • Bernard Chambaz: Éphémère
  • Éric Chevillard: L’Arche Titanic
  • Diane Mazloum: Le musée national
  • Léonor de Récondo: La leçon de ténèbres
  • Lydie Salvayre: Marcher jusqu’au soir
  • Leïla Slimani: Le parfum des fleurs la nuit / Der Duft der Blumen bei Nacht
  • Zoé Valdés: Les muses ne dorment pas

Leïla Slimani verbrachte eine Nacht im April 2019 im Museo Punta della Dogana an der Spitze der Insel Dorsoduro in Venedig.

Die Serenissima erhob dort bereits im 15. Jahrhundert Zölle für auf dem Seeweg antransportierte Waren. An diesem Grenzort begegneten sich also die abendländische und die arabisch-byzantinische Kultur bzw. Zivilisation. Nach Entwürfen von Giuseppe Benoni wurde 1678 bis 1682 das festungsartige Zollgebäude errichtet. Das erwarb 2007 der französische Kunstsammler und Milliardär François Pinault und ließ es bis 2009 von dem japanischen Architekten Tadao Andō zum Kunstmuseum umbauen.

Leïla Slimani wurde am 3. Oktober 1981 in Rabat als Tochter einer algerisch-stämmigen Französin und eines Marokkaners geboren. Nach dem Schulbesuch in ihrer Heimatstadt ging sie 1999 nach Paris und studierte am Institut d’études politiques de Paris und an der ESCP Europe. 2008 begann sie als Journalistin für das Magazin „Jeune Afrique“ zu arbeiten. Als Schriftstellerin debütierte Leïla Slimani 2014 mit „Dans le jardin de l’ogre“.

„Der Duft der Blumen bei Nacht“ lässt sich in kein Genre pressen. Es weist Züge sowohl eines Romans als auch eines Essays auf und enthält autobiografische Erinnerungen und Reflexionen.

Im ersten Teil beschäftigt sich Leïla Slimani mit ihrer Tätigkeit bzw. Vorgehensweise als Schriftstellerin. Auf Seite 31 trifft sie in Venedig ein und mischt sich unter die Touristen. Allein im Museo Punta della Dogana lässt Leïla Slimani dann die ungewöhnliche Situation auf sich wirken. Daraus ergeben sich Assoziationen, Erinnerungen und Reflexionen.

Ein großer Wurf ist das nicht und sollte es wohl auch gar nicht sein. „Der Duft der Blumen bei Nacht“ ist eher als Fingerübung einer klugen und nachdenklichen Schriftstellerin einzuordnen.

„Der Duft der Blumen bei Nacht“ von Leïla Slimani gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Isabelle Redfern.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2022
Textauszüge: © Luchterhand Literaturverlag

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