Leïla Slimani : Dann schlaf auch du

Dann schlaf auch du
Originalausgabe: Chanson douce Verlag Gallimard, Paris 2016 Dann schlaf auch du Übersetzung: Amelie Thoma Luchterhand Literaturverlag, München 2017 ISBN: 978-3-630-87554-5, 222 Seiten ISBN: 978-3-641-21290-2 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Um beruflich erfolgreich sein zu können, stellen die Anwältin Myriam und der Musikproduzent Paul Massé für ihre dreijährige Tochter und den Säugling eine Kinderfrau ein. Louise kümmert sich auch um den Haushalt und macht sich unentbehrlich. Die Massés ahnen nicht, in welch prekären Verhältnissen die von ihrer eigenen Tochter verlassene Witwe lebt und wie es um die psychische Verfassung der Frau aussieht, der sie ihre Kinder anvertraut haben ...
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Kritik

Weil der erschütternde Roman "Dann schlaf auch du" mit dem Ende beginnt, wissen wir von Anfang an, wer die beiden kleinen Kinder er­mor­det hat. Leïla Slimani geht es darum, den schleichenden Prozess gründlich auszuleuchten, der die Tragödie heraufbeschwört.
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Familie Massé

Paul und Myriam Massé wohnen mit ihrer dreijährigen Tochter Mila und dem Säugling Adam in der fünften Etage eines Mietshauses in Paris. Zwei Wochen vor Milas Geburt schloss Myriam ihr Jurastudium ab, und Paul begann etwa zur gleichen Zeit als Musikproduzent zu arbeiten.

Nachdem Myriam zufällig ihrem früheren Kommilitonen Pascal über den Weg lief, der sich als Rechtsanwalt niedergelassen hat, schickt er ihr eine SMS: „Ich weiß nicht, ob du vorhast, wieder arbeiten zu gehen. Wenn ja, lass uns darüber reden.“ Die Juristin ergreift die Chance, in Pascals Kanzlei eine Karriere als Juristin zu beginnen.

Weil Paul erst spätabends nach Hause kommt und sich anstrengen muss, um in seinem Metier zu reüssieren, kann Myriams Vorhaben nur gelingen, wenn sie ein Kindermädchen einstellen. Paul will der Selbstverwirklichung seiner Frau nicht im Weg stehen, bereitet sich auf die gemeinsame Auswahl der Bewerberinnen vor und meint:

„Keine ohne Papiere, da sind wir uns einig? Bei einer Putzfrau oder einem Maler stört es mich nicht. Diese Leute müssen ja auch irgendwie arbeiten, aber mit den Kindern ist das zu riskant. Ich will niemanden, der Angst hat, die Polizei zu rufen oder ins Krankenhaus zu gehen, wenn es ein Problem gibt. Ansonsten nicht zu alt, unverschleiert und Nichtraucherin. Das Wichtigste ist, dass sie flexibel ist und nicht so dröge. Dass sie schuftet, damit wir schuften können.“

Von einer Freundin erhält Myriam den Rat: „Wenn eine Kinder hat, dann besser nicht hier in Frankreich.“

Das neue Kindermädchen

Die Wahl der Massés fällt auf die Witwe Louise, die eine fast 20-jährige, also bereits erwachsene Tochter hat. Als Referenz gibt sie die Familie Rouvier an. Anne Rouvier beglückwünscht Myriam, als diese sich bei ihr telefonisch nach Louise erkundigt. Das Kindermädchen sei für ihre beiden Söhne Hector und Tancrède wie eine zweite Mutter gewesen, schwärmt sie.

Louise kümmert sich nicht nur um Mila und Adam, sondern zugleich um den Haushalt, ohne dass man es ihr aufgetragen hätte. Sie räumt die Wohnung auf, schmückt sie für Milas Geburtstag und kocht für Gäste, kommt immer früher und geht immer später. Sie macht sich unentbehrlich. Paul und Myriam haben Bedenken wegen der langen Arbeitszeiten, denn sie möchten niemanden ausbeuten. Aber sie kommen erst spätabends aus dem Studio beziehungsweise der Kanzlei, denn sie wollen in ihren Karrieren vorankommen.

Sie lassen sich von Louise dazu ermutigen, endlich wieder einmal auszugehen, und als sie gegen vier Uhr morgens nach Hause kommen, finden sie Louise schlafend auf dem Sofa vor. Statt sie aufzuwecken, deckt Paul sie vorsichtig zu. Von da an übernachtet das Kindermädchen ein- oder zweimal pro Woche bei den Massés. Die beschließen, Louise mit in den Urlaub zu nehmen („Was sollte sie schon Besseres vorhaben?“). Sie fliegen zu fünft nach Athen und setzen auf eine der griechischen Inseln über, wo sie in einer Familienpension zwei Zimmer reserviert haben, eines für das Ehepaar, das andere für Louise und die Kinder.

Einige Zeit später verbringt die Familie Massé eine Woche mit Pauls Eltern Sylvie und Dominique in deren Landhaus in den Bergen. Für Louise, die in Paris zurückbleibt, ist das eine schlimme Zeit.

Louise

Das Finanzamt fordert die Massés auf, einen Teil des Lohns abzuführen, den sie für die Dienste des Kindermädchens bezahlen. Myriam, die auf diese Weise erfährt, dass Louise überschuldet ist, bietet ihr Hilfe an. Am nächsten Morgen – an dem sie einen wichtigen Gerichtstermin hat – wartet sie vergeblich auf das Kindermädchen. Erst nachdem sie Louise mehrere Nachrichten auf der Mailbox hinterlassen hat, ruft die Kinderfrau zurück und erklärt mit schwacher Stimme, dass sie zu krank sei, um aufzustehen. Myriam bleibt nichts anderes übrig, als herumzutelefonieren, bis sie eine Studentin findet, die sofort kommen kann, um auf die Kinder aufzupassen. Am diesem Abend findet sie ein Chaos in der Wohnung vor.

Spielsachen liegen überall im Wohnzimmer herum. Das schmutzige Geschirr türmt sich im Spülbecken. Karottenbrei ist auf dem kleinen Tisch eingetrocknet. Die junge Frau steht auf, erleichtert wie ein Gefangener, den man aus der Beklemmung seiner Zelle befreit. Sie steckt die Scheine ein und rennt, mit dem Mobiltelefon in der Hand, zur Tür.

Louise wohnt in der Banlieue, in Créteil bei Saint-Maur-des-Fossés. Als sie noch mit ihrem Ehemann Jacques und ihrer Tochter Stéphanie in Bobigny lebte, besserte sie das Familieneinkommen als Tagesmutter auf und ging auch manchmal zum Babysitten in andere Wohnungen. Stéphanie, die schon als Achtjährige fremde Kinder hatte wickeln müssen, nutzte später jede Gelegenheit, mit anderen Jugendlichen aus dem Viertel herumzuziehen. Sie wurde vom Gymnasium relegiert und verschwand. Louise erfuhr schließlich von Nachbarn, dass Stéphanie in Südfrankreich lebte, wollte aber nichts weiter darüber wissen. Als Jacques starb, hinterließ er Louise nichts als Schulden, und sie musste das verpfändete kleine Haus in Bobigny verlassen.

Nach der Entlassung aus dem Henri-Mondor-Krankenhaus, wo sie wegen delirierender Melancholie behandelt worden war, bezog Louise das Einzimmer-Apartment in Créteil. Als ihr der Vermieter Bertrand Alizard wegen der Mietrückstände kündigt, wundert er sich darüber, dass das Zimmer noch genauso aussieht, wie beim Einzug. Einige Kisten sind noch nicht ausgepackt.

Verschwendung

Während Paul und Myriam nichts dabei finden, Essensreste und abgelaufene Lebensmittel wegzuwerfen, widerstrebt es Louise, noch Genießbares als Abfall zu deklarieren. Nachdem Myriam einmal ein Hühnchen in den Mülleimer kippte, weil sie befürchtete, die Kinder könnten sich den Magen daran verderben, findet sie am Abend ein sauberes, nach Spülmittel riechendes Hühnergerippe auf einem Teller vor. Am nächsten Morgen erfährt sie von Mila, dass Louise die Kinder animierte, das Huhn mit den Fingern zu essen.

Myriam begreift, dass Louise, die offenbar Geldsorgen hat, den ver­schwen­derischen Umgang mit Lebensmitteln als Affront empfinden muss. Sie baut mehr Distanz zu dem Kindermädchen auf und befolgt Pauls Ratschlag, sie als Angestellte und nicht als Freundin oder gar Familienangehörige zu behandeln.

Verzweiflung

Inzwischen besucht Mila einen Kindergarten, und Louise weiß, dass das in einigen Monaten auch bei Adam der Fall sein wird. Dann würden die Massés kein Kindermädchen mehr benötigen – es sei denn, sie bekämen ein drittes Kind. Das wird für Louise zur fixen Idee.

In der Hoffnung, dass Paul und Myriam die Gelegenheit nutzen, um ein Kind zu zeugen, überredet sie die Kinder zu einem Restaurantbesuch. Mila freut sich auf einen schönen Abend, aber Louise kann sich von ihrem letzten Geld nur ein Essen in einem schmuddeligens Lokal mit Neonbeleuchtung leisten. Adam schläft im Buggy ein, aber Mila muss mit Louise ausharren, bis diese glaubt, die Eltern hätten genügend Zeit gehabt.

Als sie die Wohnung betreten, liegt Paul liegt auf dem Sofa und hört Musik. Myriam sei spät und erschöpft aus der Kanzlei gekommen und sofort ins Bett gegangen, berichtet er.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


 

Tragödie

Rose Grinberg, eine ehemalige Musiklehrerin Mitte 60, die im selben Haus wohnt, hört einen lauten, langen Schrei Myriams. Daraufhin alarmiert sie die Polizei. Hauptkommissarin Nina Dorval trifft als Erste ein und leitet dann auch die Ermittlungen. Ein Kollege passt Paul, der von einer Geschäftsreise zurückkommt, am Bahnhof ab und bereitet ihn auf die Tragödie vor.

Auf dem Video einer Überwachungskamera ist zu sehen, dass Louise am Nachmittag noch mit Mila und Adam in einem Supermarkt war.

Auf diesen Bildern rennen die Kinder durch die Gänge, ohne dass die Nanny nach ihnen sieht. Adam lässt Schachteln zu Boden fallen, stößt mit einer Frau zusammen, die einen Einkaufswagen schiebt. Mila versucht Schokoladeneier aus einem Regal zu angeln. Louise bleibt gelassen, sie sagt keinen Ton, ruft nicht nach ihnen. Sie geht zur Kasse, und die Kinder laufen lachend zu ihr. Sie werfen sich gegen ihre Beine, Adam zieht an ihrem Rock, doch Louise beachtet sie nicht. Sie zeigt kaum Anzeichen von Gereiztheit […].

Danach, gegen 16 Uhr, ließ Louise Wasser in die Badewanne ein und forderte die Kinder auf, sich auszuziehen. Mit einem Sushi-Messer, das Paul von einem Freund geschenkt bekommen hatte, versuchte Louise die Kinder und sich selbst zu töten. Sie überlebt zwar mit zerschnittenen Handgelenken und einem Stich im Hals, wacht jedoch nicht aus dem Koma auf.

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Leïla Slimani beginnt ihren erschütternden Roman „Dann schlaf auch du“ mit dem Ende:

Das Baby ist tot. Wenige Sekunden haben genügt. Der Arzt hat versichert, dass es nicht leiden musste. Man hat es in eine graue Hülle gelegt und den Reißverschluss über dem verrenkten Körper zugezogen, der inmitten der Spielzeuge trieb. Die Kleine dagegen war noch am Leben, als die Sanitäter kamen. Sie hatte sich gewehrt wie eine Wilde. Man hat Spuren des Kampfes gefunden, Hautfetzen unter ihren weichen Nägeln. […]
Adam ist tot. Mila wird ihren Verletzungen erliegen.

Wir wissen also von Anfang an, dass die Geschichte tragisch endet. Es geht nicht darum, herauszufinden, wer die beiden kleinen Kinder ermordete, sondern wie es dazu kommen konnte. Dieser Frage geht Leïla Slimani in „Dann schlaf auch du“ mit großer Empathie nach. Sorgfältig leuchtet sie den schleichenden Prozess aus.

Bei der Mörderin handelt es sich um eine überschuldete, nicht mehr ganz junge Witwe, die wegen der von ihrem Ehemann hinterlassenen Schulden nicht einmal die Miete für ihre Einzimmer-Wohnung in der Banlieue aufbringen kann. Als sie von einer Pariser Familie als Kindermädchen angestellt wird, hofft sie, ihrer tristen Einsamkeit zu entkommen, aber sie weiß, dass alles vorbei sein wird, sobald die beiden kleinen Kinder etwas älter sind. Deren Eltern ahnen weder etwas von der Vergangenheit noch von der psychischen Verfassung der Frau, der sie Sohn und Tochter anvertraut haben. Sie sind nur froh darüber, dass sie durch die Anstellung eines Kindermädchens in der Lage sind, sich selbst zu verwirklichen. Das Karrierestreben der Privilegierten und die asymmetrische Beziehung zwischen ihnen und ihrer Kinderfrau sind bezeichnend für das moderne Großstadtleben nicht nur in Paris. „Dann schlaf auch du“ ist nicht zuletzt Gesellschaftskritik.

Leïla Slimani fügt in die chronologisch dargestellte Entwicklung von der Einstellung der Kinderfrau bis zur Katastrophe immer wieder Passagen aus der Zeit davor und danach ein. In den mit Namen wie Stéphanie und Jacques, Rose Grinberg und Hector Rouvier überschriebenen Abschnitten ergänzt die auktoriale Erzählerin die Darstellung um Beobachtungen aus dem Blickwinkel dieser Romanfiguren. Statt die Beweggründe der handelnden Personen zu erläutern, veranschaulicht sie diese szenisch. Dass dabei vieles zunächst nur angedeutet wird, erhöht die Spannung.

Die Sprache in „Dann schlaf auch du“ bleibt klar, nüchtern und distanziert. Ungewöhnlich ist der passagenweise Wechsel zwischen Präsens, Präteritum und Perfekt.

Bei dem Namen der Mörderin hat Leïla Slimani möglicherweise an das 19-jährige britische Au-pair-Mädchen Louise Woodward gedacht, das 1997 in Newton/Massachusetts Matthew Eappen, den acht Monate alten Sohn eines Ärzteehepaars, erschlagen haben soll und trotz einer zweifelhaften Beweislage zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Ein weiterer realer Fall inspirierte Leïla Slimani zum Plot von „Dann schlaf auch du“: Im Oktober 2012 erstach die 50 Jahre alte Yosely Ortega die beiden ihr seit zwei Jahren anvertrauten Kinder – die sechs Jahre alte Lucia Krim und deren vier Jahre jüngeren Bruder Leo – in der Wohnung der Eltern in Manhatten. Als die Mutter Marina Krim mit der anderen Tochter von einem Spaziergang zurückkehrte, fand sie die tödlich verletzten Kinder in der Badewanne und am Boden daneben Yosely Ortega mit aufgeschlitzten Handgelenken und einem Stich im Hals. Kevin Krim, der Vater, erfuhr es, als er von einer Dienstreise aus San Francisco zurückkam und von der Polizei am Flughafen erwartet wurde.

Beim Lesen des Romans „Dann schlaf auch du“ denkt man auch an den Kinofilm „Die Hand an der Wiege“.

Leïla Slimani wurde am 3. Oktober 1981 in Rabat als Tochter einer algerisch-stämmigen Französin und eines Marokkaners geboren. Nach dem Schulbesuch in ihrer Heimatstadt ging sie 1999 nach Paris und studierte am Institut d’études politiques de Paris und an der ESCP Europe. 2008 begann sie als Journalistin für das Magazin „Jeune Afrique“ zu arbeiten. Als Schriftstellerin debütierte Leïla Slimani 2014 mit „Dans le jardin de l’ogre“. „Chanson douce“ / „Dann schlaf auch du“ ist ihr zweiter Roman. Dafür wurde sie 2016 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet.

Den Roman „Dann schlaf auch du“ von Leïla Slimani gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Constanze Becker (ISBN 978-3-8445-2792-6).

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2017
Textauszüge: © Luchterhand Literaturverlag

Leïla Slimani: Das Land der Anderen
Leïla Slimani: Der Duft der Blumen bei Nacht

Franz Hohler - Gleis 4
Franz Hohler prangert die Aus­beutung der Arbeitskraft von Kindern in der Schweiz bis in die 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts an. Aber "Gleis 4" ist kein düsterer-sozial­kritischer Roman, sondern eine unterhaltsame Lektüre, denn die Handlung ist nach dem Vorbild eines Kriminalromans aufgebaut.
Gleis 4