Gabriele Tergit : Käsebier erobert den Kurfürstendamm

Käsebier erobert den Kurfürstendamm
Käsebier erobert den Kurfürstendamm Originalausgabe Ernst Rowohlt-Verlag, Berlin 1931 Neuausgabe Hg. und Nachwort: Jens Brüning Das Neue Berlin Verlagsgesellschaft, Berlin 2004 ISBN 978-3-360-01247-0, 272 Seiten Taschenbuch: Hg. und Nachwort: Nicole Henneberg btb Verlag, München 2017 ISBN 978-3-442-71556-5, 398 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Spekulanten sorgen 1929 in Berlin dafür, dass aus dem vor einfachem Publikum in der Hasenheide auftretenden Volkssänger Georg Käsebier ein gefeierter Star wird, denn davon wollen sie profitieren. Sie vermarkten ihn und bauen sogar am Kurfürstendamm ein eigenes Theater für ihn. Am Ende stürzt das Kartenhaus ein, und fast alle Beteiligten sind ruiniert. Nur der skrupellose Strippenzieher Willy Frächter sichert seinen Aufstieg erfolgreich ab.
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Kritik

In ihrer unterhaltsamen und zugleich ernsthaften Gesellschaftssatire "Käsebier erobert den Kurfürstendamm" erzählt Gabriele Tergit zwar vom Aufstieg und Fall eines Volkssängers, aber auf diese Romanfigur kommt es gar nicht an. Es geht um die Mechanismen der Wirtschaft und des Medien- bzw. Kulturbetriebs in einer oberflächlich, unkritisch und materialistisch gewordenen Gesellschaft.
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Georg Käsebier wird berühmt

Emil Gohlisch, ein Dreißigjähriger, der ebenso wie Dr. Charlotte („Lotte“) Kohler für die „Berliner Rundschau“ schreibt, verfasst 1929 einen Beitrag über den in der Hasenheide vor kleinen Leuten auftretenden Volkssänger Georg Käsebier. Den Text muss allerdings der erfahrene Redakteur Georg Miermann vor dem Druck zwei Stunden lang sprachlich redigieren, obwohl der 56-jährige Metteur Miehlke zur Eile drängt. Am nächsten Tag bedankt sich Käsebier mit einem Brief für den Zeitungsartikel.

Zur gleichen Zeit gewinnt Dr. Waldschmidt, der Verleger der „Berliner Tageszeitung“, den eitlen Schriftsteller Otto Lambeck als Autor für eine Artikelserie über Berlin: „Spaziergänge mit Otto Lambeck“. Nachdem die ersten Folgen erschienen sind, wird Otto Lambeck von einem Mann namens Willy Frächter kontaktiert und gefragt, ob er Emil Gohlisch‘ Artikel über Georg Käsebier in der „Berliner Rundschau“ gelesen habe. Der Schriftsteller kennt weder den Zeitungsbericht noch den Volkssänger, folgt aber Frächters Tipp und widmet Georg Käsebier eine der Folgen seiner Artikelserie.

Als Dr. Zwörger vom Funkhaus Otto Lambecks Lob des Volkssängers liest, ruft er den Schriftsteller an und schlägt ihm vor, ein Radio-Interview mit Käsebier zu führen. Lambeck weist darauf hin, dass er kein Journalist sei, aber am Ende einigen sich die beiden Herren auf einen Vortrag über Georg Käsebier, der am 10. März ausgestrahlt wird und dazu führt, dass auch andere Medien das Thema aufgreifen. Im völkischen „Aufgang“ heißt es allerdings:

„Wieder ein hochgelobtes Talent der jüdischen Asphaltpresse. Die bezahlten Kreaturen des Herrn Moses Isaak Waldschmidt behimmeln etwas, wovon sie keine Ahnung haben. Von hundert überzüchteten Gehirnfädchen viel geplagte widerliche ausländische Juden missbrauchen die deutsche Sprache, um einem Sozi zuzujubeln, der den größten Schatz unsres Volkes, das schönste Erzeugnis der Heimatkunst, das Volkslied, begeifert und für seine eitlen Sprünge missbraucht.“

Inzwischen hat Willy Frächter den Verleger Mohnkopp überredet, ein Buch über Georg Käsebier ins Programm zu nehmen. Frächter fungiert als Herausgeber, schreibt eine Einführung und bittet eine Reihe von mehr oder weniger Prominenten um Beiträge. Dafür kassiert er eine Menge Geld.

Dr. Richard Thum porträtiert Georg Käsebier, und weil jeder weiß, dass der Fotograf nur bedeutende Persönlichkeiten vor die Kamera bittet, verstärkt auch das die öffentliche Meinung, der Volkssänger sei ein großer Künstler.

Käsebier im Wintergarten

Oskar Meyer, der Pariser Korrespondent der Zeitung „Allgemeines Blatt“, kommt nach Berlin, um Käsebier zu erleben. An dem Abend in der Hasenheide begleitet ihn die Konsulin Margot Weißmann, die er noch aus der Tanzschule kennt. Seit 1912 ist sie mit dem Industriellen Weißmann verheiratet.

Durch Zufall begegnet er Lotte Kohler. Die in ihn verliebte Journalistin ist enttäuscht, dass er sie nicht sofort nach seiner Ankunft angerufen hat. Die beiden verabreden sich, aber Oskar Meyer versetzt Lotte Kohler immer wieder.

Lotte Kohler hört nicht auf ihren Kollegen Emil Gohlisch, der sie davor warnt, dem unzuverlässigen Korrespondenten nachzulaufen. Weder ihre Intelligenz noch ihre akademische Bildung bewahren sie nicht davor, auf den Falschen zu setzen.

Im Gespräch mit ihrer Freundin Dr. Wendland meint sie:

„Als wir auf die Universität kamen, war es eine große Seligkeit, und wir hatten Ehrgeize und wollten was leisten und hatten unsern großen Stolz. Und was ist kaum fünfzehn Jahre später? Das Girl ist gekommen. Wir wollten einen neuen Frauentyp schaffen. Wissen Sie noch, wie wir gebrannt haben vor Seligkeit, dass wir an alles heran konnten, diese ganze große Männerwelt voll Mathematik und Chemie und herrlichen historischen Offenbarungen in uns aufzunehmen. Und jetzt ist das Resultat, dass die kleinen Mädchen von sechzehn in meiner Sprechstunde sitzen und ich schon froh bin, wenn sie nicht krank sind, und der Kopf ist nur noch zur Frisur da.“

Im Gegensatz zu der promovierten Journalistin strebt die rothaarige Gymnastiklehrerin Käte Herzfeld ihre Unabhängigkeit an. Ihre Scheidung läuft gerade.

„Diese ganze Idee, dass die Frauen sich von den Männern ernähren lassen, ist unmoralisch.“

Käte Herzfeld hat zwar Schulden, steht jedoch auf eigenen Füßen, und das ist ihr wichtig. Unsentimental setzt sie auf Berechenbarkeit, und wenn sie sich etwas davon verspricht, scheut sie nicht davor zurück, Erotik und Sexualität zu nutzen. Georg Miermann ist nur einer ihrer Liebhaber.

Die Publicity sorgt dafür, dass Käsebier am 11. April 1929 erstmals im renommierten „Wintergarten“ in Berlin-Mitte auftritt. Dort liegt das von Willy Frächter editierte Buch „Käsebier. Ein Berliner Volkssänger. Was er ist und wie er wurde“ zum Verkauf aus. Er hat auch dafür gesorgt, dass statt der Varieté- die Theaterkritiker Ixo und Öchsli zur Premiere kommen.

Im Vorprogramm sind artistische Zirkusnummern zu sehen. Dazu meint Lotte Kohler:

„Vernunftlos, also die Menschlichkeit negierend und darum unendlich traurig. Körpergeschicklichkeit zum Endzweck der Körpergeschicklichkeit, als Lebensausfüllung, nicht als Erholung, als Rekreation, welches Wiedergeburt, Erneuerung, bedeutet, ist peinlich. Die Todesgefahr eines andern als Unterhaltung, als Amüsement, ist Rückfall in das Mittelalter, gleichbedeutend mit dem Schauspiel des Scheiterhaufens auf öffentlichem Markte.“

Die Marke Käsebier

Georg Käsebier ist in der Ufa-Wochenschau zu sehen.

Die Plattenfirma Omega folgt Willy Frächters Rat, nimmt Georg Käsebier unter Vertrag und wirbt nun damit, dass er exklusiv auf Omega-Schallplatten zu hören sei. Dagegen klagt die Megaphongesellschaft, die noch ein paar alte Aufnahmen von ihm hat.

Gleichzeitig muss sich der Volkssänger vor Gericht verantworten, weil ihn Theobald Sawierski als Plagiator angezeigt hat.

Ein weiterer Prozess läuft gegen einen Mann namens Franz Leihhaus, der sich als Georg Käsebier ausgab und auf diese Weise in der Provinz ein Engagement ergaunerte. Rechtsanwalt Katter, der ihn verteidigt, nutzt die öffentliche Aufmerksamkeit für alles, was Käsebier betrifft, um skrupellos für seine Kanzlei zu werben. Deshalb strengt die Anwaltskammer ein Disziplinarverfahren gegen ihn an, und er muss eine Strafe zahlen, aber das ist dem Anwalt die Publicity wert.

Der Dramatiker Adolf Lieven (bürgerlich: Herzband) und der Operettenkomponist Adam kündigen ein Singspiel mit dem Titel „Käsebier“ an.

Ilsemarie Kruse fotografierte Georg Käsebier vor längerer Zeit – und freut sich nun über das Geschäft mit den Bildern. Isolde von Knockwitz bietet ein Schattenprofil des Volkssängers zum Kauf an. Und der Maler Gottfried Pankow stellt ein Porträt von Georg Käsebier aus, das in allen Feuilletons besprochen wird.

Der Kritiker der Berliner Tageszeitung verriss es sogar zwölf Zeilen lang, was ein außerordentlicher Erfolg war.

Inzwischen gibt es Schuhe und Zigaretten der Marke Käsebier.

Ein Theater für Käsebier

Das Bauunternehmen Otto Mitte & Co plant auf einem dem Bankhaus N. Muschler & Sohn gehörenden Areal am Kurfürstendamm den Bau einer neuen Wohnsiedlung mit einem eigenen Theater für Georg Käsebier. Der Bankier Richard Muschler sieht darin eine Gelegenheit, seine finanziellen Probleme zu überwinden.

Der mit Otto Mittes Tochter verheiratete Architekt Ekkehard Rübe rechnet bereits mit einem Großauftrag seines Schwiegervaters. Aber der sieht sich gezwungen, den Architekten Karlweiß zu nehmen, nicht nur, weil der als Mitglied der Wohnungsfürsorgegesellschaft über wichtige Kontakte verfügt, sondern vor allem, weil er dem Bauunternehmer im Gegenzug ein noch größeres Projekt in Hohenschönhausen vermittelt.

In der Redaktion der „Berliner Rundschau“ hält man den Architekten Karlweiß und den Stadtrat Busch für korrupt, aber ohne hieb- und stichfeste Beweise wagt die Zeitung nicht, die beiden Herren anzuprangern.

„Busch ist mir sehr verdächtig“, sagte Gohlisch, „aber jeder sagt, gewiss, er wirtschaftet in die eigene Tasche, aber was er Berlin einbringt, ist so unendlich viel mehr, ist so ungeheuerlich, dass ein bisschen korrupte Genialität besser ist als eine korrekte Unfähigkeit.“

Das Ehepaar Thedy und Richard Muschler verschiebt die jährliche Reise nach Cannes vom 30. April auf den 8. Mai 1929, weil der Bankier vorher noch zu einer Besprechung über das Bauprojekt am Kurfürstendamm muss. Und als Richard Muschler bereits mit seiner Frau in Cannes ist, wird eine weitere Geschäftsbesprechung erforderlich. Die Herren treffen sich auf halbem Weg, in Baden-Baden. Während Richard Muschler mit dem Auto aus Cannes kommt, nehmen die anderen den Nachtzug. Außer Muschler, Mitte und Karlweiß sitzen Muschlers Onkel und Sozius Gustav Frechheim, der Rechtsanwalt Dr. Löwenstein und der Assessor Matukat mit am Konferenztisch.

Weil sich der junge Architekt Oberndorffer kritisch über das Bauprojekt äußert, besteht Gustav Frechheim darauf, ein Gutachten von Prof. Schierling einzuholen. Notgedrungen stimmt sein Neffe Richard Muschler zu und übernimmt die Kosten. Aber Prof. Schierling will es sich mit dem Bauunternehmen Otto Mitte & Co nicht verscherzen und flüchtet sich deshalb in Floskeln.

Georg Käsebier, der ein eigenes Theater bekommen soll, weiß davon noch gar nichts. Erst am 16. September 1929 weihen ihn Otto Mitte und Richard Muschler in die Pläne ein. Der Volkssänger zögert zunächst, sich auf die geforderte Pacht einzulassen, aber die Geschäftsleute stellen ihm ein Vielfaches an Einnahmen in Aussicht und überreden ihn.

Am Bauzaun gestaltet der Plakatmaler Scharnagl gegen ein hohes Honorar eine riesige Reklame für das geplante Käsebier-Theater.

Aber die Baugenehmigung verzögert sich und Planänderungen werden erforderlich. Die Fertigstellung verzögert sich um ein halbes Jahr, und im Sommer 1930 wird es die in der Rentabilitätsrechnung vorgesehenen Mieteinnahmen noch nicht geben. In dieser Situation erweist es sich für Georg Käsebier als Vorteil, dass er seinen Mietvertrag in der Hasenheide erst zum 1. April 1930 kündigen konnte.

Ende 1929 kann Max Schulz von Otto Mitte & Co mit der Vergabe der Gewerke beginnen.

Willy Frächters Aufstieg

Willy Frächter präsentiert dem Verlagschef der „Berliner Rundschau“ seine Ideen für eine Auflagensteigerung der Zeitung. Man müsse sie bunter machen und mehr Fotos bringen, meint er.

„Mit Geist lockt man keinen Hund vom Ofen. Geist? Wer will Geist? Tempo, Schlagzeile, Sensation, das wollen die Leute. Amüsement. Jeden Tag eine andere Sensation, groß aufgemacht.“

„Das Wesen des modernen Betriebsfachmanns ist es, schlummernde Bedürfnisse zu wecken.“

Dr. Waldschmidt, der Verleger der „Berliner Tageszeitung“, berichtet von einer Statistik über die abgesprungenen Abonnenten seines süddeutschen Blattes:

„90 Prozent haben geschrieben: Beim Echo bekämen sie dreimal so viel Papier, und sie seien Gemüsehändler oder so was ähnliches und sie bräuchten Papier.“

Cochius, der Verleger der „Berliner Rundschau“, geht auf Frächters hohe finanzielle Forderungen ein und beauftragt ihn mit der Umorganisation. Eine der ersten Maßnahmen des neuen Verlagsdirektors der „Berliner Rundschau“ ist es, dem Redakteur Georg Miermann nach 18 Jahren Betriebszugehörigkeit zu kündigen. Bald darauf bricht Miermann zusammen und stirbt. Am 2. September 1930 steht seine Witwe Emma Miermann nach 24 Ehejahren am Grab.

Umschwung

Im Winter 1929/30 werden zuerst 14-Zimmer- und dann auch kleinere Wohnungen von den Mietern aufgegeben. Schließlich sind auch 6-Zimmer-Wohnungen, wie sie gerade von Otto Mitte & Co am Kurfürstendamm gebaut werden, kaum noch zu vermieten.

Richard Muschler macht sich Sorgen. Dr. jur. Reinhold Kaliski, der für die Vermietung verantwortlich ist, hat gerade einmal für fünf Prozent der Wohnungen Mietverträge abgeschlossen. Schlimmer noch: Kaliskis Ehefrau Ella, eine geborene Waldschmidt, will sich nach fünf Jahren Ehe scheiden lassen, weil ihr Mann sie immer wieder betrogen hat. Sobald aber ihr Vater sein Geld aus dem Unternehmen des Schwiegersohns abzieht, wird Reinhold Kaliski sich keine Reklame für das Bauprojekt am Kurfürstendamm mehr leisten können. Vorsorglich kündigt Richard Muschler deshalb den Vertrag mit ihm.

Im Juli 1930 wird die Scheidung des Ehepaars Kaliski vollzogen. Das Unternehmen Dr. Reinhold Kaliski, Immobilien und Hypotheken, bricht zusammen. Ella Kaliski, geborene Waldschmidt, heiratet bald darauf Willy Frächter, den erfolgreichen Verlagsdirektor der „Berliner Rundschau“.

Georg Käsebier kommt von einem Gastspiel in London zurück. Es war ein Misserfolg, möglicherweise weil ein deutscher Volkssänger im Ausland auf Unverständnis trifft.

Jedenfalls wird am 2. September 1930 das neue Theater für Georg Käsebier am Kurfürstendamm eröffnet.

Am 10. September stellt das Bankhaus N. Muschler & Sohn die Zahlungen ein. Das Ehepaar Muschler verfügt zwar noch über die Villa, aber die gehört Thedy Muschler privat. Die erste Gläubigerversammlung leitet der Konkursverwalter Böker am 15. September. Thedy Muschlers Onkel Gustav Frechheim, der noch Wert auf die Kaufmannsehre legt, besteht darauf, Vermögenswerte der Familie zu versteigern, um den Schaden zu reduzieren. Weil Richard Muschler jedoch sogar die Depots der Kunden beliehen hat, verlieren beispielsweise Lotte Kohler und ihre Mutter das gesamte von dem 1915 gestorbenen Industriellen Kohler hinterlassene, vom Bankhaus N. Muschler & Sohn verwaltete Vermögen.

Die am Bauprojekt beteiligten Handwerker büßen die vereinbarten Einnahmen ein.

Im Mai 1931 muss dann auch Otto Mitte Konkurs anmelden.

Das Gebäude der „Berliner Rundschau“ wird abgerissen. Willy Frächter hat sich rechtzeitig von der Zeitung getrennt und ist nun Teilhaber seines schwerreichen Schwiegervaters Waldschmidt.

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In ihrer am Ende der Weimarer Republik in Berlin spielenden Gesellschaftssatire „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“ erzählt Gabriele Tergit zwar vom Aufstieg und Fall eines Volkssängers, aber auf diese Romanfigur kommt es gar nicht an. Gabriele Tergit geht es um die Mechanismen der Gesellschaft, der Wirtschaft und des Medien- bzw. Kulturbetriebs.

Spekulanten sorgen dafür, dass aus dem vor einfachem Publikum in der Hasenheide auftretenden Volkssänger Georg Käsebier ein gefeierter Star wird, denn davon wollen sie profitieren. Sie vermarkten ihn und wollen sogar am Kurfürstendamm ein eigenes Theater für ihn bauen. Unternehmer, denen die Kaufmannsehre noch etwas bedeutet, sind rar. Am Ende stürzt das Kartenhaus ein, und fast alle Beteiligten sind ruiniert. Nur der skrupellose Strippenzieher Willy Frächter sichert seinen Aufstieg erfolgreich ab.

Gabriele Tergit kritisiert in ihrem unterhaltsamen und zugleich ernsthaften Roman „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“ die ebenso oberflächlich wie unkritisch gewordene Gesellschaft, der es nicht mehr um Moral und Kultur, sondern nur noch um Materielles geht. Auf Freiheit, Anstand und Mitmenschlichkeit legt kaum noch jemand wert.

Literaturwissenschaftler ordnen „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“ der Neuen Sachlichkeit zu, die nach dem Ersten Weltkrieg als Reaktion auf den Expressionismus entstand und von den Nationalsozialisten verdrängt wurde. Die Neue Sachlichkeit ist durch die nüchterne Konzentration auf das konkret Beobachtbare und eine ungekünstelte Alltagssprache charakterisiert.

Gabriele Tergit hat genau zugehört, wie die Menschen reden. Mit ihren temporeichen pointierten Dialogen entlarvt sie Floskeln und Sprachcodes. Ihre Darstellung ist fragmentarisch und von rasanten Szenenwechseln geprägt. Für eine tiefergehende Ausleuchtung der Charaktere bleibt da keine Zeit, aber „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“ dreht sich ohnehin nicht um einen Protagonisten, sondern um die Gesellschaft mit ihren typischen Vertretern.

Gabriele Tergit – bürgerlich: Dr. Elise Reifenberg ‒ schrieb seit 1924 als Gerichtsreporterin für das Berliner Tageblatt, das zu dem von Rudolf Mosse (1843 – 1920) gegründeten Zeitungsimperium gehörte. Dessen Adoptivtochter Felicia Mosse besaß die „Wohnungs-Grundstücks-Verwertungs-Aktiengesellschaft“ (WOGA), und ihrem Ehemann Hans Lachmann-Mosse (1885 – 1944) gehörte ein unbebautes Grundstück am Kurfürstendamm, für das Mitte der Zwanzigerjahre zunächst der Architekt Jürgen Bachmann ein Ensemble von Wohnhäusern entwarf. In der Erwartung, das Bauvorhaben lukrativer machen zu können, wurde beschlossen, auch ein Kino, ein Kabarett-Theater, ein Hotel, ein Café-Restaurant, Läden und Tennisplätze in den „Woga-Komplex“ zu integrieren. Erich Mendelsohn übernahm statt Jürgen Bachmann die weitere Planung. Bis 1931 dauerten die Bauarbeiten. Zu diesem Zeitpunkt war der Mosse-Konzern wohl schon nicht mehr zahlungsfähig, aber der Konkurs wurde bis 1932 verschleppt.

Das umstrittene WOGA-Projekt inspirierte Gabriele Tergit zu einem der Handlungsstränge in ihrem Debütroman „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“. Sie verfasste das Manuskript in sechs Wochen des Sommers 1931. Das Buch erschien noch im selben Jahr im Ernst Rowohlt-Verlag in Berlin und wurde zum Bestseller.

Mitte der Siebzigerjahre entdeckte der Buchhändler, Drehbuchautor und Filmregisseur Frank Grützbach den inzwischen weitgehend vergessenen Roman „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“ in einem Antiquariat und stellte ihn in einem Radio-Feature vor („Käsebier erobert den Kurfürstendamm. Nachforschungen zu einem Berliner Roman“, SFB 1975).

Frank Grützbach glaubt, dass Gabriele Tergit bei der Titelfigur Georg Käsebier an den Komiker Erich Carow (1894 ‒ 1956) gedacht habe, der 1927 bis 1943 in Berlin-Mitte das Volkstheater „Lachbühne“ betrieb. So wie Willy Frächter im Roman „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“ ein Buch über Georg Käsebier herausgibt, stellten Manfred Georg und Peter Schaeffers das Buch „Erich Carow. Karriere eines Berliner Volkskomikers“ zusammen (Eden-Verlag, Berlin 1930).

1977 brachte der Wolfgang Krüger Verlag in Frankfurt/M eine Neuauflage des Romans „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“ von Gabriele Tergit heraus. Ein erstes, von Walter Plathe u. a. gesprochenes Hörbuch erschien 2010 (Regie: Volker Kühn). 2016 folgte eine weitere, von Ilja Richter gesprochene Hörbuch-Fassung (Regie: Gerwig Epkes).

Die Neuausgabe des Romans „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“ von 1977 basierte auf einem 1976/77 von Gabriele Tergit gekürzten bzw. überarbeiteten Text. Erst die von Jens Brüning 2004 herausgegebene Neuausgabe greift wieder auf die ursprüngliche Version zurück ‒ leider ohne die in den anderen Fassungen geänderten Passagen zu kennzeichnen.

Katharina Thalbach spricht „Käsebier erobrt den Kurfürstendamm“ von Gabriele Tergit Anfang 2023 auf der Bühne (Berliner Ensemble, Fassung: Sibylle Baschung, szenische Einrichtung: Oliver Reese, Musik: Jörg Gollasch, Ausstattung: Katja Pech).

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2022
Textauszüge: © Das Neue Berlin Verlagsgesellschaft

Gabriele Tergit (kurze Biografie)

Gabriele Tergit: Der erste Zug nach Berlin

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.