Nell Zink : Virginia

Virginia
Mislaid Ecco Books, HarperCollins, New York 2015 Virginia Übersetzung: Michael Kellner Rowohlt Verlag, Hamburg 2019 ISBN: 978-3-498-07672-6, 318 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die Studentin Peggy Vaillaincourt, die sich für lesbisch hält, beginnt 1965 mit dem bisexuellen Literaturprofessor Lee Fleming eine Affäre. Im siebten Monat der Schwangerschaft heiraten die beiden. Aber nach zehn Jahren flieht Peggy, obwohl der Sohn beim Vater bleibt und sie nur die kleine Tochter mitnehmen kann. Um von Lee nicht gefunden zu werden, wechselt Peggy die Namen und tut so, als seien sie und "Karen" schwarz ...
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Kritik

Nell Zink hält einer von Vorurteilen und Rassismus, Intoleranz und Doppelmoral geprägten Gesellschaft einen Spiegel vor. "Virginia" beginnt wie ein Campus-Roman, erweist sich dann aber als Mischung aus Familiendrama, Coming-of-Age-Geschichte, Gesellschaftssatire und Verwechslungskomödie mit Krimi-Elementen und märchenhaften Zügen.
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Peggy und Lee

Peggy Vaillaincourt wurde 1948 in der Nähe von Richmond/Virginia als Tochter eines episkopalen Geistlichen und dessen Ehefrau geboren. Als Schülerin fühlt sie sich zu anderen Mädchen hingezogen und strebt eine Karriere bei der Army an.

Zum Schulanfang ließ sie sich die Haare kurz schneiden und fing an, Zigarillos zu rauchen. In einem Army-Laden hatte sie sich neu eingekleidet. […] Sie fand ihre schmalen Hüften und die flache Brust jungenhaft, aber 1965 war das schick.
Doch so gern sie ein Mann sein wollte, so abstoßend fand sie Behaarung, dicke Bäuche, Rülpser, Obszönitäten und so weiter. Ihr schlanker Vater trug Ascots und ließ sich maniküren. Sein Gesicht war weich, und die Manschetten seiner Hemden hatten Monogramme. Sie hielt schwarze Pennyloafer und weiße Socken à la Gene Kelly für den Inbegriff einer Butch aus der Arbeiterklasse.

1965 verliebt sich die 17-Jährige am Sillwater College südlich von Petersburg/West Virginia ausgerechnet in den Dichter und Literaturprofessor Lee Fleming. Der stammt aus einer reichen Familie. Der Vater hat ihn wegen seiner Bisexualität in eine ihm gehörende Villa am Sillwater Lake abgeschoben. Lee Fleming defloriert die androgyne Studentin und hat nun praktisch jeden Tag Sex mit ihr.

Das bleibt nicht unbemerkt. Weil Lee Fleming am Sillwater College als unentbehrlich gilt, wird Peggy relegiert.

Peggy ist schwanger. Im siebten Monat heiraten sie und Lee.

Der 1966 geborene Sohn erhält den Namen Rhys Byrd („Byrdie“) Fleming. Dass Peggy den Säugling stillt, findet ihre Schwiegermutter abscheulich, denn sie hält es für animalisch und unzeitgemäß.

Fünf Jahre nach Byrdie bringt Peggy noch eine Tochter zur Welt: Mireille („Mickie“).

Flucht

Immer wieder ertappt sie Lee in flagranti, mal mit einer Studentin, mal mit einem jungen Mann. Aus Rache versucht sie 1975, sein Auto im See zu versenken, aber das bringt Lee auf die Idee, sie in eine geschlossene psychiatrische Einrichtung einweisen zu lassen.

Um nicht eingesperrt zu werden, verlässt Peggy ihren Mann. Der neunjährige Byrdie weigert sich allerdings, seiner Mutter zu folgen und bleibt bei seinem Vater, als Peggy mit Mickie im Auto losfährt.

Neue Identität

Peggy versteckt sich mit Mickie in einer abgelegenen, verlassenen und baufälligen Hütte. Um Lebensmittel kaufen zu können, bringt sie Regenwürmer in einen Laden, der Angler mit Ködern versorgt. Schließlich sammelt sie psilocybinhaltige Pilze für Lomax, einen 21 Jahre alten Mittelschicht-Indianer, der ein wenig mit Drogen handelt und mit einer sehr viel jüngeren Aussteigerin namens Felicia („Flea“) zusammenlebt.

Weil Peggy damit rechnet, dass Lee sie von der Polizei suchen lässt, ergaunert sie die Geburtsurkunde eines 1973 im Alter von drei Jahren gestorbenen afroamerikanischen Mädchens, schärft Mickie den neuen Namen Karen Brown ein, nennt sich selbst Meg Brown und behauptet trotz der blonden Haare und der hellen Haut, sie seien schwarz.

Als Schwarze wird Karen denn auch eingeschult – und prompt als „Nigger“ beschimpft. Einmal nimmt eine weiße Mitschülerin Karen mit nach Hause – und wird vom Vater verprügelt, damit sie lernt, sich nicht mit Farbigen abzugeben. Nur mit ihrem afroamerikanischen Klassenkameraden Temple Moody verbindet Karen bald eine enge Freundschaft.

Nachbarn werden sie, als die Behörden Meg und Karen eine Sozialwohnung in Centerville zuteilen. WC und Dusche, Telefon und Fernsehen sind für das Kind der pure Luxus.

Halloween

Nach dem Schulabschluss in einem Internat in Woodberry studiert Byrdie an der University of Virginia in Charlottesville. Auf dem Campus schließt er sich einem Geheimbund im Thetan House an.

Drei Jahre nach ihm immatrikulieren sich auch Temple und Karen an der UVA.

An Halloween ziehen die beiden von Tür zu Tür und sammeln Süßigkeiten. Sie klingeln auch am Thetan House, wo gerade eine Party stattfindet und werden eingeladen. Auf diese Weise kreuzen sich die Wege von Mickie alias Karen und Byrdie, aber sie ahnen nicht, dass sie Geschwister sind.

Temple sitzt ein paar Stunden später im Vollrausch auf einem Sofa. Seine Begleiterin wird von Byrdie im Zimmer seines Mitbewohners Mike gefunden. Ein paar Studenten stehen in Unterhosen um Karen herum, die rücklings auf dem Bett liegt – vollständig bekleidet, wie Byrdie erleichtert feststellt.

„Was zur Hölle macht ihr da“, sagte Byrdie. „Ich meine was zur Hölle soll das?“
„Wir haben eine Sitzung der Bruderschaft einberufen, um ihre Eignung als unsere Fruchtbarkeitsgöttin zu beurteilen“, sagte ein Junge namens Mike.

Byrdie rüttelt Temple wach, fragt ihn nach der Adresse des Mädchens und bringt sie hin.

Am nächsten Tag verscharrt Karen mit Temple zusammen das mit LSD-Trips getränkte Löschpapier, das ihr im Thetan House jemand zugesteckt haben muss. (Als Leserin bzw. Leser wissen wir, dass es Mike war.)

Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.

Spoiler

Die Polizei erfährt von den Drogen. Mike beschuldigt Byrdie, einer Minderjährigen Acid gegeben zu haben, und ein Staatsanwalt leitet ein Gerichtsverfahren gegen Rhys Byrd Fleming ein.

Zu Beginn des Prozesses erkennt der Vater des Angeklagten die Hauptzeugin des Staatsanwalts. Er entnimmt seiner Brieftasche ein 1975 von ihm und Peggy, Byrdie und Mickie geknipstes Familienfoto, zeigt es Byrdie und dann auch „Karen“. Die 16-Jährige erkennt darauf ihre Mutter. Als sie begreift, dass sie ihren Bruder und ihren Vater vor sich hat, löst die Aufregung einen Tumult aus, den der Richter beendet, indem er die Klage gegen Rhys Byrd Fleming abweist.

Lee und Peggy versöhnen sich; Mickie und Byrdie freuen sich darüber, dass sie Geschwister sind.

Nach der Erkenntnis, nicht schwarz, sondern weiß zu sein, erlebt Mickie noch eine Überraschung, als sie erfährt, dass ihre Mutter lesbisch ist und beabsichtigt, zu der Professorin Loredana De Luca („Luke“), nach New York zu ziehen, mit der sie seit einiger Zeit ein Liebesverhältnis hat.

Mickie und Temple – die inzwischen ebenfalls ein Paar sind – wechseln von der UVA zur New York University.

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„Virginia“ beginnt wie ein Campus-Roman, erweist sich dann aber als Mischung aus Familiendrama, Coming-of-Age-Geschichte, Gesellschaftssatire und Verwechslungskomödie mit Krimi-Elementen.

Nell Zink hält in „Virginia“ einer von Vorurteilen und Rassismus, Intoleranz und Doppelmoral geprägten Gesellschaft einen Spiegel vor.

Die Handlung hat märchenhafte Züge, denn es ist beispielsweise unrealistisch, wie Peggy und Mickie nicht nur ihre Namen, sondern auch ihre ethnische Identität wechseln. Nell Zink kommt es nicht darauf an, die Handlungsweise der Figuren psychologisch nachvollziehbar zu gestalten. Stattdessen parodiert sie die Darstellung gleich selbst. Das gilt vor allem für das überdrehte Happy End, das aus einer Operette sein könnte.

Nachdem sich Lee und Peggy getrennt haben, entwickelt Nell Zink das weitere Geschehen im ruhigen Wechsel zwischen den beiden Handlungssträngen, bis sie diese am Ende wieder zusammenführt.

Nell Zink wurde 1964 in Kalifornien geboren, wuchs jedoch in Virginia auf (wo auch der vorliegende Roman spielt). Nach dem Studium am College of William & Mary in Williamsburg/Virginia wechselte sie mehrmals ihren Wohnort und arbeitete zum Beispiel einige Zeit als technische Zeichnerin in Tel Aviv, bevor sie 2000 nach Deutschland zog. 2008 promovierte sie in Tübingen als Medienwissenschaftlerin über „Portable Music and the Scalable Self. Performativity in Music Journalism and Interdisciplinary Music Analysis“. Von Jonathan Franzen ermutigt, debütierte sie 2014 mit dem Roman „The Wallcreeper“ („Der Mauerläufer“, Übersetzung: Thomas Überhoff, Rowohlt Verlag, Reinbek 2016), der in einem Kleinstverlag in St. Louis erschien und dennoch von der New York Times auf die Liste der 100 bemerkenswertesten Bücher des Jahres gesetzt wurde.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2019
Textauszüge: © Rowohlt Verlag

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