Julia Franck : Die Mittagsfrau

Die Mittagsfrau
Originalausgabe: Die Mittagsfrau S. Fischer Verlag, Frankfurt/M 2007 ISBN: 978-3-10-022600-6, 430 Seiten Fischer Taschenbuch, Frankfurt/M 2009 ISBN: 978-3-596-17552-9, 430 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Nachdem die Rote Armee Stettin erobert hat, geht Alice Sehmisch mit ihrem 7-jährigen Sohn Peter zum Bahnhof. Der Zug, in den sie sich drängen, bleibt kurz vor Pasewalk stehen. Alle steigen aus und schieben sich gegenseitig zum Bahnsteig. Dort soll Peter sich auf eine Bank setzen und auf sie warten. Schließlich muss er dringend urinieren, wagt es jedoch nicht, seinen Platz zu verlassen, und es geht in die Hose. Auf seine Mutter wartet er vergeblich ...
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Kritik

In "Die Mittagsfrau" entwickelt Julia Franck das differenzierte und subtile Psychogramm einer zerbrochenen Frau und Mutter. Formal und inhaltlich handelt es sich bei "Die Mittagsfrau" um einen grandiosen Roman auf hohem Niveau.
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Der Druckereibesitzer Ernst Ludwig Würsich ist in Bautzen hoch angesehen. Das gilt jedoch nicht für seine Ehefrau Selma, geborene Steinitz, denn bei ihr handelt es sich um eine Jüdin. Nach der Geburt ihrer Tochter Martha wird Selma Würsich viermal mit einem Jungen schwanger, aber keines der Kinder wird älter als ein paar Stunden. Das möchte Selma nicht noch einmal erleben. Deshalb lässt sie ihren Mann nicht mehr an sich heran. Doch beim letzten Koitus wurde eine Tochter gezeugt. Selma bringt das Mädchen zwar zur Welt, will aber nichts von ihm wissen. Den Namen Helene wählt statt der Eltern die langjährige Haushälterin Marja („Mariechen“) für das Neugeborene. Und weil die Mutter es nicht stillt, muss eine Amme einspringen. Selma zieht sich in ihr Zimmer im Obergeschoss des Hauses in Bautzen zurück und verlässt es kaum noch. Freunde raten Ernst Ludwig Würsich, die offenbar Geistesgestörte in eine Anstalt zu bringen, aber das tut er nicht.

Helene wird von ihrer Mutter nur „Kind“ gerufen oder als „kleine Zecke“ beschimpft. Selmas Wutausbrüche sind gefürchtet. Helenes neun Jahre ältere Schwester Martha, die zur ihrer wichtigsten Bezugsperson wird, erklärt ihr, die Mutter sei „am Herzen erblindet“. Um so wichtiger ist es für Helene, ihre ältere Schwester abends im Bett streicheln zu dürfen, bis Martha schneller atmet.

In der Schule setzt die Lehrerin Helene schon nach wenigen Wochen zu den älteren Schülerinnen, denn sie lernt viel schneller als die anderen. Aber Helenes außergewöhnliche schulische Leistungen interessieren zu Hause niemanden. Im Alter von sieben Jahren beginnt Helene, für ihren Vater die Buchhaltung zu machen.

Martha wird Krankenpflegerin.

Als der Erste Weltkrieg ausbricht, sorgt Ernst Ludwig Würsich sich um seine jammernde Frau und meldet sich verspätet in der Husaren-Kaserne. Deshalb wird er zur Infanterie abkommandiert. Bevor er den ersten Schuss abgibt, reißt ihm eine von einem Kameraden fehlgezündete Handgranate das linke Bein ab und zerstört sein rechtes Auge.

Helene möchte auf die Höhere Tochterschule gehen, aber das erlaubt ihre Mutter nicht. Stattdessen sorgt sie dafür, dass der seit vielen Jahren angestellte Schriftsetzer die inzwischen Dreizehnjährige in die Bedienung aller Maschinen in der Druckerei einweist. Sobald Helene damit umgehen kann, entlässt Selma den Mann, obwohl er eine Frau und acht Kinder hat.

Ende November 1920 kehrt Ernst Ludwig Würsich aus dem Krieg zurück: Ein Pfleger bringt ihn im Leiterwagen. Selma verlässt ihr Zimmer nicht und weigert sich, ihren Mann zu sehen. Martha unterschlägt im Krankenhaus Morphium und Kokain als Schmerzmittel für ihren Vater, dessen Zustand sich zunehmend verschlechtert. Als er gestorben ist, kann selbst der Pfarrer Selma nicht dazu überreden, der Beerdigung beizuwohnen.

Helene merkt, dass Martha Drogen nimmt. Sie findet eine in ein Taschentuch eingewickelte Spritze. Schließlich lässt Martha die Spritze achtlos herumliegen.

In der Druckerei gibt es kaum Aufträge. Als Helene Regalbretter herausreißt, um sie in Ermangelung anderen Materials zu verheizen, entdeckt sie den Tresorschlüssel ihres Vaters. Zusammen mit Martha öffnet sie den Safe. Darin liegen Stapel von Geldscheinbündeln, die inzwischen wertlos sind, Lithografien nackter Frauen und ein Adressbuch, in dem die Schwestern auf den Namen einer ihnen bisher unbekannten Tante stoßen: Fanny Steinitz in Berlin-Wilmersdorf. Sie senden ihr eine Todesanzeige und werden eingeladen, nach Berlin zu kommen. Fanny schickt ihnen sogar zwei Eisenbahnfahrkarten Erster Klasse von Dresden nach Berlin.

Bevor sie sich auf den Weg machen, absolviert Helene noch die Prüfung an der Schwesternschule, und es gelingt ihr, wenigstens einen Teil der Druckerei-Einrichtung zu verkaufen. Die Mutter lassen Martha und Helene in Mariechens Obhut zurück. Dafür schicken sie der Hausangestellten jeden Monat einen Teil der Mieteinnahmen aus einem Wohn- und Geschäftshaus in Breslau, das Selma von einem unlängst verstorbenen Onkel erbte. Ein Professor aus dem Krankenhaus, der zu einem Kongress nach Dresden fährt, nimmt Martha und Helene im Auto mit.

Fanny Steinitz ist Mitte vierzig. Ihre beiden Liebhaber Erich und Bernhard sind sehr viel jünger. Bei ihren Abendgesellschaften lässt sie eine Opiumpfeife kreisen. Während Helene die Bücher verschlingt, die sie in der Bibliothek ihrer Tante findet, machen Martha und Fanny die Nächte durch; sie schauen sich neue Revuen an und besuchen die angesagten Nachtklubs. Fannys Freundin Lucinde verdient ihr Geld als Tänzerin bei einer Nacktrevue.

Martha trifft ihre Freundin aus Bautzen wieder: Leontine, die Tochter eines verwitweten Advokaten, war vor einigen Jahren nach Berlin gezogen, um Medizin zu studieren und hatte einen Mann namens Lorenz geheiratet. In Kürze wird sie ihr Examen machen und als Ärztin in der Charité anfangen. Die Ehe ist gescheitert. Fanny hat nichts dagegen, dass Leontine ihr Bett mit Martha teilt. Helene, die im selben Zimmer schläft, hört die beiden Freundinnen neben sich stöhnen.

Vergeblich bewirbt Helene sich in Krankenhäusern. Schließlich kann sie als Hilfskraft in einer Apotheke anfangen. Das gibt ihr die Möglichkeit, für Martha Rauschgift zu besorgen. Abends steht sie für den Maler Heinrich Baron, einen Bekannten Fannys, nackt Modell. Er zeichnet sie obsessiv, bis er wegen einer Sehnenscheidenentzündung damit aufhören muss.

Zum 19. Geburtstag erhält Helene von Fanny einen Gymnasial-Abendkurs geschenkt. Sie träumt davon, Medizin zu studieren.

Die Schwestern leben seit drei Jahren in Berlin, als Helene den schüchternen Philosophie-Studenten Carl Wertheimer kennen lernt. Er stammt aus einem kultivierten jüdischen Haus, geht mit Helene ins Theater, rezitiert Gedichte und diskutiert mit ihr über Kant. Helene liebt die Gespräche mit ihm. Sie ermutigt ihn, sie zu küssen und zieht schließlich zu ihm in sein möbliertes Zimmer. Obwohl Carl ihr erster Mann ist, zeigt sie sich ihm unbefangen nackt, und es gibt „nichts an seinem Körper, vor dem sie eine Scheu“ hätte. Carl hätte gern ein Kind mit ihr und wenn sie als Mutter aufhören müsste, zu arbeiten, würde er ihr das ersehnte Medizinstudium finanzieren. Doch als Helene schwanger ist, lässt sie von Leontine eine Abtreibung vornehmen. Carl ahnt nichts davon.

Zwei oder drei Tage vor der geplanten Verlobung kommt Carl bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Für Helene bricht die Welt zusammen.

Auf Empfehlung Leontines bekommt Helene eine Stelle als Schwester im Bethanien-Krankenhaus, und sie zieht ins Schwesternheim. Man fragt zwar nach ihren Papieren – Ausweis, Zeugnis, Ariernachweis –, aber es gelingt ihr mit verschiedenen Ausreden, die Verwaltung hinzuhalten.

Der Ingenieur Wilhelm Sehmisch verliebt sich in Helene, aber er zieht es vor, sie Alice zu nennen. Das Reichsautobahn-Projekt, an dem er beteiligt ist, begeistert ihn ebenso wie der Nationalsozialismus. Helene geht mit ihm, hält ihn jedoch auf Distanz. Nach drei Jahren kauft er zwei Ringe und macht Helene einen Heiratsantrag. Als sie ihm gesteht, Halbjüdin zu sein, besorgt er ihr Papiere auf den Namen Alice Schulze. Sie vermählen sich in Stettin, wo sie von jetzt an wohnen werden. In der Hochzeitsnacht glaubt Wilhelm, seine Frau anleiten zu müssen, aber sie greift von sich aus nach seinem erigierten Penis und beginnt mit Fellatio.

Sie würgte, aber er sagte wieder schön und schön und das musst du nicht, mein Mädchen. (Seite 341)

Als sie sich über ihren auf dem Rücken liegenden Mann kniet, reagiert er empört:

Er packte ihre Schultern, warf sie unter sich und drückte mit zitternder Hand, jetzt so laut keuchend, als habe er die Beherrschung verloren, sein Geschlecht zwischen ihre Beine.
So geht das, behauptete er und fuhr in sie. Schön, sagte er noch, und wieder, schön. (Seite 341)

Er wundert sich, dass sie nicht blutet, und als er begreift, dass er nicht der Erste für sie ist, fühlt er sich betrogen. Kaum, dass er noch mit ihr redet, und wenn er sich sexuell abreagieren möchte, schiebt er ihr nur kurz den Rock hoch und zerrt ihr den Schlüpfer ein Stück weit nach unten. Helene erträgt die Demütigungen schweigend; sie macht sich nützlich, putzt und kocht für ihn.

Sie las das Buch eines Jungen, der in Berlin eine Dienerschule besucht [„Jakob von Gunten“]. Benjamenta heißt das Institut. Gut denken, gut meinen. Die vollkommene Tilgung eines eigenen Willens, was für eine köstliche Idee. (Seite 369)

Als sie ihrer Mutter, die von der Gesundheitsbehörde ins Schloss Sonnenstein in Pirna eingewiesen wurde, Geld schicken möchte, weigert er sich, ihr dafür etwas zu geben und meint, das sei nicht mehr ihre Verwandtschaft. [In der seit 1811 bestehenden Krankenanstalt wurden 1940/41 schätzungsweise 15 000 Menschen im Rahmen des nationalsozialistischen Euthanasie-Programms ermordet.]

Eines Tages stellt Helene fest, dass sie schwanger ist. Wilhelm tut so, als habe er mit dem Kind nichts zu tun.

Du hast das Kind gezeugt, Wilhelm.
Das behauptest du […] Wer sagt mir, dass du nicht noch mit anderen schläfst, du, du …? […] Ich sage dir etwas, Alice: Es ist mein Recht, hörst du, mein gutes Recht, dir beizugehen. Du hast das auch genossen, gibs zu. Niemand hat dir gesagt, dass du dabei schwanger werden sollst.
Nein, sagte Helene leise, sie schüttelte den Kopf, das hat mir niemand gesagt.
Na also. Wilhem faltete seine Hände auf dem Rücken, er ging auf und ab. Du solltest dir so langsam Gedanken machen, wovon du deine Brut ernähren möchtest. Ich bin nicht bereit, allein für dich und dein Kind aufzukommen. (Seite 364)

Wilhelm hat mit einem Straßenbau-Projekt in Frankfurt am Main zu tun, als Helene niederkommt.

Sie müssen atmen, atmen, so atmen Sie doch. Die Stimme der Hebamme klang seltsam verzerrt. Sie atmete ja.
Sie schaffen das, los, los, Sie schaffen das. Jetzt schlug die Hebamme den Ton eines Offiziers an […] Los, los, noch einmal, und ein, halten, halten. Hören Sie nicht? Sie sollen halten, nicht pressen! Jetzt wurde sie auch noch wütend, die Offizierin […] Die Hebamme tastete mit ihren Händen an ihrer Vagina […] Was machte die Offizierin dort nur mit ihren Händen? Es drückte auf den Darm, es drückte so sehr, dass Helene sicher war, die Hebamme könne nichts als Exkremente auffangen, Blut und Fäkalien in die Hände der Offizierin […]
Helene atmete, guter Schmerz, nur warum tat er so weh? […]
Atmen Sie! Die Offizierin verlor offenbar die Nerven. Schreien Sie einfach, los, jetzt pressen, ja.
Das Ja war knapp, die Hände der Offizerin schnell, der Arzt rückte etwas zwischen Helenes Schenkeln zurecht, es knirschte. Der Arzt nickte. Da war der Kopf.
Der Kopf? Ist der Kopf draußen? Helene konnte es nicht fassen. Sie spürte etwas Dickes zwischen ihren Beinen, etwas, das nicht zu ihr gehörte, nicht mehr, sie spürte es zum ersten Mal, nicht mehr nur in ihr, der Körper ihres Kindes, an ihr. Der Arzt beachtete sie nicht. Helene tastete mit ihrer Hand nach unten. Sie wollte es anfassen, das Köpfchen. Waren das Haare, die Haares des Kindes?
Hände weg! Helenes Arm wurde fortgerissen, man packte sie am Handgelenk, fest am Handgelenk. Sie sollen atmen, hören Sie? Die Offizierin mischte sich ein. Und bei der nächsten Wehe pressen Sie. Tief Luft holen, holen Sie Luft, jetzt. Helene hätte auch ohne den Befehl der Offizierin Luft holen müssen.
Es glitt hinaus, mit einem Schwung. Die Hebamme fing es geschickt mit ihren Händen auf. (Seite 373f)

Als eine Säuglingsschwester Helene fragt, ob sie ihren Sohn stillen will, ist sie verblüfft. An die Möglichkeit, dass es ein Sohn werden könne, hat sie nie gedacht; sie ging immer von einem Mädchen aus.

In ihren winzigen Brüsten ist zu wenig Milch.

Name?
Semisch. Alice Sehmisch.
Nicht Ihren Namen, den haben wir. Wie soll Ihr Sohn heißen?
Helene betrachtete ihr Kind, wie es durch die Nase atmete und an ihrer Brust sog […] Wie konnte sie ihm einen Namen geben, er gehörte ihr nicht. Welche Anmaßung, einen Namen für ein Kind. Wo sie doch selbst keinen Namen mehr hatte, zumindest nicht mehr den, der ihr für das Leben gegeben worden war. Er konnte sich umbenennen, später, wenn er wollte. Das beruhigte Helene. Und sie sagte: Peter. (Seite 376)

Wilhelm, der einige Zeit später aus Frankfurt kommt, empfindet das Kind als störend.

Als der kleine Junge nachts schrie und Helene aufstand, um ihren Peter zu sich ins Bett zu holen, sagte Wilhelm mit dem Rücken zu ihr: Ich glaube, dir geht’s zu gut. Setz dich in die Küche, wenn es sein muss. Ein arbeitender Mann braucht seinen Schlaf.
Helene tat, was er befahl. Sie setzte sich mit ihrem Kind in die kalte Küche und stillte es dort, bis es schlief. Doch sobald sie es in sein Körbchen legen wollte, wachte es auf und weinte. Nach zwei Stunden schlich sie erschöpft in das Schlafzimmer. (Seite 377)

Bevor Wilhelm wieder nach Frankfurt zurückfährt, verschafft er Helene eine Stelle im Städtischen Krankenhaus. Die Nachbarin Kozinska passt auf Peter auf, während Helene sechzig Stunden und mehr pro Woche arbeitet, und als das Kind drei Jahre ist, kommt es in den Kindergarten. Hin und wieder schickt Wilhelm Geld, aber Helene will es nicht und schickt es ihrer Mutter anonym nach Bautzen – bis die inzwischen von ihrem Mann geschiedene Leontine ihr eines Tages schreibt, die „gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege“ [eine der vier Tarnorganisationen zur Durchführung des Euthanasie-Programms] habe Martha mitgeteilt, dass ihre Mutter in der psychiatrischen Anstalt in Großschweidnitz an akuter Lungenentzündung gestorben sei.

Helene hört, wie ihr Sohn antisemitische Lieder singt, ohne sich etwas dabei zu denken.

Beim Pilzesammeln läuft Helene so schnell, dass Peter ihr kaum folgen kann und kümmert sich nicht um die Klagen ihres Sohnes.

Helene kroch auf allen vieren unter die Äste, bahnte sich mit den Händen den Weg, hielt Zweige zur Seite und robbte und legte sich auf den Waldboden. Wie es duftete. Mutter! Helene griff nach einem Pilz, brach ihn und steckte ihn ganz in den Mund, das mürbe, feste Fleisch zerfiel fast auf der Zunge, was für ein Genuss. Wo bist du? Peters Stimme knickte, er fürchtete sich, er konnte sie nicht sehen und glaubte sich allein. Wo bist du! Seine Stimme überschlug sich. Helene hatte ihren Korb auf der Lichtung stehen lassen […] Mutter! Peter kämpfte mit den Tränen, sie sah seine dünnen Jungenbeine durch die Zweige, wie er über die Lichtung stapfte und an ihrem Korb stehen blieb, sich bückte und wieder aufrichtete. Beide Hände formte er vor dem Mund zum Trichter: Mutter!
[…] War es nicht einfach, stillzuhalten? Die einfachste Übung schlechthin, kein Zittern, kein Knacken, nur Stille.
Der Junge setzte sich auf den Hosenboden und weinte. Es war kein Spaß. Wenn sie jetzt wenige Meter neben ihm aus dem Gebüsch käme, würde er wissen, dass sie ihn beobachet und sich absichtsvoll versteckt hatte. Mit welcher Absicht, warum? Helene schämte sich und hielt still, und der Junge weinte […] Der Junge stand auf, er blickte in jede Richtung, nahm ihren Korb und machte sich auf den Weg in südöstliche Richtung. Dumm war er nicht, es war die Richtung zurück zum Dorf und zur Stadt. Helene stopfte sich einen Pilz nach dem anderen in den Mund, wie süß war das Alleinsein, das Kauen, die Ruhe.
Als sie seine Schritte im Unterholz nicht mehr hörte, kroch sie aus ihrem Versteck […] Sie rief, Peter, und er antwortete schon auf der zweiten Silbe seines Namens, mit hoher Stimme, erleichtert, glücklich, das Lachen voll Ungeduld, schrie er: Hier bin ich, Mutter, hier. (Seite 409f)

Als die Rote Armee Stettin erobert [26. April 1945] und die Deutschen aufgefordert werden, die Stadt zu verlassen, packt Helene den Koffer ihres siebenjährigen Sohnes. Zuunterst legt sie einen Wollstrumpf mit dem Geld, das Wilhelm seit dem Tod ihrer Mutter geschickt hat, Peters Geburtsurkunde und einen Zettel, auf den sie „Onkel Sehmisch, Gelbensande“ schreibt. Bei Wilhelms Bruder auf dem Bauernhof wird Peter zu essen haben.

– – –

Die Schule in Stettin, die Peter besuchte, wurde bei einem Bombenangriff der Royal Air Force im August 1944 zerstört. Der Lehrer Fuchs unterrichtet seine Schüler seither im Milchladen seiner Schwester.

Im letzten Winter gerieten Peter und sein Freund in einen Fliegerangriff.

Peter musste an die ersten Angriffe im Winter denken und wieder spürte er die Hand seines Freundes Robert, mit dem er einst über den niedrigen, weißlackierten Zaun entlang des Weges gehüpft war und die Straße vom Berliner Tor hatte überqueren wollen, um in den Graben vor dem Zeitungskiosk zu springen. Ihre Schuhe waren auf dem Eis gerutscht, sie waren geschliddert. Etwas musste seinen Freund getroffen und die Hand von seinem Körper getrennt haben. Doch Peter war die restlichen Meter weitergestürzt, allein, als habe ihn das Wegreißen seines Freundes beschleunigt. Er hatte die Hand gespürt, fest und warm, und sie lange nicht losgelassen. Als ihm später aufgefallen war, dass er die Hand noch immer hielt, hatte er sie im Graben nicht einfach fallen lassen können, er hatte sie mit nach Hause genommen. (Seite 14)

Nachdem die Rote Armee Stettin erobert hatte, quartierten sich einige Soldaten bei der Nachbarin Kozinska ein. Bald darauf wurde seine Mutter Alice vergewaltigt.

Die Wohnungstür war nur angelehnt. Peter öffnete sie. Er sah drei Männer um den Küchentisch, darauf seine Mutter, sie saß halb, halb lag sie. Der nackte Po eines Mannes bewegte sich auf Peters Augenhöhe vor und zurück, dabei wackelte das Fleisch so heftig, dass Peter lachen wollte. Doch die Soldaten hielten seine Mutter fest. Ihr Rock war zerrissen, ihre Augen weit geöffnet, Peter wusste nicht, ob sie ihn sah oder durch ihn hindurch blickte. (Seite 18)

Kurz darauf geht die Siebenunddreißigjährige mit ihm zum Hauptbahnhof. Dort erfahren sie, dass die Züge nicht bis in die Stadt kommen, sondern nur bis in den westlichen Vorort Scheune. Sie laufen hin, und es gelingt ihnen, sich in einen Zug zu drängeln. Der bleibt allerdings kurz vor Pasewalk stehen. Alle steigen aus und schieben sich gegenseitig zum Bahnsteig.

Von hier fahren Züge nach Anklam und Angermünde. Alice fordert ihren Sohn auf, sich auf eine Bank zu setzen und auf sie zu warten. Schließlich muss er dringend urinieren, wagt es jedoch nicht, seinen Platz zu verlassen, und es geht in die Hose.

– – –

Widerwillig hat das kinderlose Ehepaar Sehmisch den Neffen in Gelbensande nordöstlich von Rostock aufgenommen und ihm einen Schlafplatz auf der Küchenbank zugewiesen. Nur weil er in der Schule so schlau tue, erklärt ihm der Onkel, solle er sich nicht für etwas Besseres halten, aber Peter hilft ihm freiwillig beim Stallausmisten.

Wilhelm Sehmisch, der mit seiner neuen Lebensgefährtin in der Nähe von Wetzlar wohnt, kümmert sich nicht um seinen Sohn.

An seinem 17. Geburtstag erfährt Peter, dass seine mit ihrer Schwester Martha in einer bescheidenen Einzimmerwohnung in Berlin lebende Mutter ihn nach zehn Jahren zum ersten Mal sehen möchte und zu Besuch kommt.

Peter versteckt sich auf dem Heuboden. Durch eine Ritze sieht er hinüber zum Wohnhaus. Er beobachtet, wie seine Mutter ankommt. Der Onkel ruft nach ihm, aber Peter rührt sich nicht. Ein paar Stunden später reist seine Mutter wieder ab. Dass sie ihn 1945 auf dem Bahnhof aussetzte, kann er ihr nicht verzeihen.

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Der Titel „Die Mittagsfrau“ bezieht sich auf eine sorbische Sage.

„Die Mittagsfrau“ ist eine Lausitzer Legende. Sie erzählt, dass zur Mittagsstunde eine weiß gekleidete Frau mit einer Sichel über den Köpfen derjenigen erscheint, die mittags arbeiten. Die Mittagsfrau verhängt einen Fluch über sie. Die Menschen können diesen Fluch nur aufheben, indem sie ihr eine ganze Stunde von der Verarbeitung des Flachses erzählen. (Julia Franck in einem Interview mit Susanne Geu; „Die Zeit“, 10. Oktober 2007)

Sprechen und Erzählen kann dieser Legende zufolge Leben retten. Aber Selma Würsich und später auch ihre Tochter Helene ziehen sich in ihr Schweigen zurück.

Die Protagonistin Helene verliert ihre Sprache im Laufe des Buches und zieht sich immer mehr in Schweigen zurück. Das Schweigen erscheint ihr geradezu lebensnotwendig, dadurch wird sie aber für ihr Kind unnahbar. (Julia Franck, a.a.O.)

In dem Roman „Die Mittagsfrau“ entwickelt Julia Franck das komplexe Psychogramm einer zerbrochenen Frau und Mutter. Niemand außer Carl Wertheimer schätzt Helenes Bildung und Intellekt. In der Gesellschaft der Zwanziger- und Dreißigerjahre gelten andere Eigenschaften für Mädchen und Frauen als erstrebenswert. Helene wird durch die Frustationen und Demütigungen, die sie erleiden muss, zwar nicht böse wie ihre Mutter, aber die Liebe, die ihr Kind erwartet, überfordert sie aufgrund ihrer eigenen Traumatisierung.

Im Vergleich zu der differenzierten und subtilen Darstellung der Protagonistin wirken Carl Wertheimer, Wilhelm Sehmisch, Fanny Steinitz und andere Figuren ein wenig klischeehaft, auch wenn an mehreren Stellen Sarkasmus aufblitzt. Ebenso kolportagehaft ist das Bild, das Julia Franck von den „Goldenen Zwanzigerjahren“ in Berlin entwirft, wenn Martha und Helene aus der Provinz in die mondäne Reichshauptstadt kommen, in der die Lebensgier Blüten treibt und Ausschweifungen aller Art in Mode sind.

Julia Franck gliedert die zwischen dem Beginn des Ersten und dem Ende des Zweiten Weltkriegs spielende Handlung in drei Kapitel – (1) Die Welt steht uns offen, (2) Kein schönerer Augenblick als dieser, (3) Nachtfalle – und umrahmt sie mit einem Prolog und einem Epilog. Während sie im Hauptteil auf Helene fokussiert, wählt sie für den Prolog und den Epilog die Perspektive Peters, allerdings nicht in der Ich-Form, sondern in der dritten Person Singular. Dieser Aufbau ist überzeugend.

Für ihren anspruchsvollen Roman „Die Mittagsfrau“ erhielt Julia Franck (* 1970) den Deutschen Buchpreis 2007. Die Jury begründete das so:

Vor dem Hintergrund zweier Weltkriege erzählt Julia Franck die verstörende Geschichte einer Frau, die ihren Sohn verlässt, ohne sich selbst zu finden. Das Buch überzeugt durch sprachliche Eindringlichkeit, erzählerische Kraft und psychologische Intensität. Ein Roman für lange Gespräche.

In einem Interview erwähnte Julia Franck eine Parallelität in ihrer eigenen Familiengeschichte:

Mein Vater wurde 1937 in Stettin geboren. Er ist 1945 im Zuge der Vertreibung mit seiner Mutter gen Westen aufgebrochen. Auf dem ersten Bahnsteig westlich der Oder-Neiße-Grenze hat sie ihn aufgefordert zu warten und gesagt, dass sie gleich wieder kommen würde. Das tat sie nie. Meinen Vater hat das sehr geprägt. Er war ein sehr feinsinniger und intelligenter Mensch. Mit 49 Jahren ist er an einem Hirntumor gestorben. In der Zeit hatte ich ihn gerade erst etwas kennengelernt. Ich besuchte ihn oft im Krankenhaus, wir besprachen vieles, redeten aber nie über seine Mutter. Als ich jetzt vor fast sieben Jahren mein erstes Kind bekam, wurde es zu einer brennenden Frage, was eine Frau dazu gebracht haben kann, ihr Kind auszusetzen und überzeugt zu sein, dass es ihm überall anders besser gehen würde als bei ihr selbst […] Ende der Neunzigerjahre habe ich mich auf die Suche nach dieser Großmutter gemacht und herausgefunden, dass sie 1996 in der Nähe von Berlin gestorben ist. Entfernte Bekannte meiner Großmutter berichteten mir, dass sie über Jahrzehnte mit ihrer Schwester in einer Einzimmerwohnung zusammengelebt habe und beide niemanden in ihr Leben gelassen hätten. Sie erwähnte nie ein Kind. Den Entschluss eine Mutterschaft und eine Bindung zu einem Kind absolut zu leugnen, finde ich seltsam und beunruhigend zugleich. Ich wollte dem nachgehen und eine Geschichte für diese Frau finden. (Julia Franck, a.a.O.)

Barbara Albert verfilmte den Roman „Die Mittagsfrau“ von Julia Franck 2023.

Originaltitel: Die Mittagsfrau – Regie: Barbara Albert – Drehbuch: Meike Hauck, Barbara Albert nach dem Roman „Die Mittagsfrau“ von Julia Franck – Kamera: Filip Zumbrunn – Schnitt: Sophie Blöchlinger, Martin Arpagaus – Musik: Kyan Bayani – Darsteller: Mala Emde, Max von der Groeben, Thomas Prenn, Liliane Amuat, Fabienne Elaine Hollwege, Laura Louisa Garde, Eli Wasserscheid, Helena Pieske, Maria Matschke Engel, Finjen Kiefer, Lilia Herrmann, Laurids Schürmann, Steve Karier, Monique Reuter, Karin Pfammatter, Dimitri Stapfer, Jürg Plüss, Sven Schelker, Carolin Karnuth, Genet Zegay u.a.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2009
Textauszüge: © S. Fischer Verlag

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Marita A. Panzer - Don Juan de Austria
"Don Juan de Austria. Karriere eines Bastards" ist eine gut geschriebene Biografie. Für ein Sachbuch enthält die Darstellung an manchen Stellen vielleicht zu viele Daten und Einzelheiten, doch wenn man darüber hinwegschaut, liest sich die Biografie leicht und vermittelt ein lebendiges Bild des Siegers von Lepanto.
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