Katharina Hacker : Eine Dorfgeschichte
Inhaltsangabe
Kritik
Die Ich-Erzählerin, deren Namen wir nicht erfahren, verbrachte als Kind jeden Sommer mit ihren Großeltern mütterlicherseits, den Eltern, dem älteren Bruder Simon und dem jüngeren Bruder Frederik in einem Dorf im Odenwald. In der übrigen Zeit des Jahres wohnten sie in der Stadt. Zu Weihnachten mietete der Vater jeweils einen kleinen Lastwagen und brachte die Dinge, die sich in der Stadtwohnung nicht bewährt hatten, aufs Land.
Der Großvater wollte nicht über den Krieg reden, aber zu den Verlierern scheint er nicht gehört zu haben. Die Großmutter stammte aus Tschechien. Ihr waren Tiere zuwider.
Ihr Gesicht war angenehm, es blieb, was ihr auch begegnete, angenehm, sie verzog es nicht, nur wenn von den Nazis die Rede war und wenn einer von Tieren sprach.
Die Enkel durften nicht einmal Tiernamen aussprechen. Das hing vielleicht mit Großmutters Vertreibung zusammen. Als sie nämlich auf der Flucht erschöpft vom Wagen gerutscht war, war der Hund ihr nachgesprungen, hatte sie mit seinem Körper gewärmt und gejault, bis jemand sie auf einen Karren gehoben hatte. Sie hatte nach Hundefell gerochen und den Hund gehört, aber nicht dagegen protestiert, dass er zurückgelassen worden war.
Der Großvater schnarchte, und die Großmutter schlief auf einem Sofa in einem Zimmer, in dem die Kinder bei schlechtem Wetter tagsüber spielten.
Zwischen den Eltern und den Großeltern kam es mitunter zu Auseinandersetzungen, aber die Kinder verstanden nicht, worum es ging.
Als die Eltern einmal im Sommer für zehn Tage nach Italien reisten, passten die Großeltern auf die Kinder auf.
Wenn der Großvater mit den Enkeln ein Kartoffelfeuer anzündete, sagten die Bauern nichts, denn er war der Schwiegervater des Herrn Doktor. Der Großvater kaufte dann selbst einen abschüssigen Acker von einem Bauern aus dem Nachbardorf. Frederik glaubte, dass dort Geister umgingen. Nach einiger Zeit vergaß der Großvater den Acker wieder. Die Kinder fanden dort eine blaue Mütze und das Schwarz-Weiß-Foto eines jungen Mannes. Später erfuhr die Ich-Erzählerin von der alten Frau Brenner, ein junger Bauer habe ihren Vater geliebt, sei darüber schwermütig geworden, beim Pflügen auf eben diesem abschüssigen Acker mit dem Trecker umgestürzt und darunter eingeklemmt gestorben. Er wurde auf dem Friedhof beerdigt, obwohl einige murrten.
Früher kam die Hebamme aus dem Nachbardorf, um bei einer Geburt zu helfen. Später ließen sich die Frauen nach Tauberbischofsheim, Miltenberg oder Würzburg bringen, wenn die Wehen einsetzten.
Die Vorratskeller im Dorf fanden sich nicht unter den Häusern, sondern, vom Hof getrennt, oft auf der anderen Straßenseite, als wolle man sicher sein, dass ein Brand nicht gleich die Vorräte – Kartoffeln, Eingemachtes, Apfelwein – mit vernichtete.
Ein im Dorf geborener Mann war fortgezogen und kam später blind zurück. Weil er irgendwo Orgel spielen gelernt hatte, vertraute ihm der Pfarrer die Schlüssel der Kirche an, damit er zu jeder Tages- und Nachtzeit üben konnte. Eine Flüchtlingsfrau brachte dem Blinden das Korbflechten bei. Damit verdiente er dann seinen Lebensunterhalt. Als die Erzählerin sieben oder acht Jahre alt war, lud er sie ein, ihm in die Kirche zu folgen, und sie hörte seinem beseelten Orgelspiel zu. Kurz darauf starb er.
Der Jäger nahm sie mit zur Pirsch. Sie schlief ein, und als sie aufwachte, sah sie ganz in der Nähe drei spielende Fuchsjunge und ein Muttertier. Der Jäger legte an, aber sie biss ihn und verhinderte, dass er die Füchsin erschoss. Er trug sie daraufhin Huckepack nach Hause. Einige Zeit später erhängte er sich im Wald.
Die alte Frau Trunk kam früher zur alten Frau Schneider, die damals gar nicht alt war, und brachte Brot, das sie eben frisch gebacken hatte, der alte Brotofen stand in Trunks Scheune. Sie kam manchmal zur Melkzeit in den Stall, mit dem noch warmen Brot, ich erinnere mich, wie sich der Geruch des Brotes mit dem Geruch von Kuhmist mischte, der in Schubkarren geschaufelt wurde. Mit dem Schubkarren musste man das schmale Brett hinauf auf den Misthaufen, bis oben hin, dort den Mist auskippen. Wenn Frau Trunk mit dem Brot in den Stall oder in die Scheune kam, ging Frau Schneider in die Küche, und wir liefen hinterher, dort wurde das Brot angeschnitten, wir bekamen jeder eine Scheibe, mit Butter bestrichen.
Auf einem der Höfe gab es zwei Söhne. Der jüngere war gehbehindert und wurde nur der „Hinker“ gerufen. Er schaffte zwar den Hauptschulabschluss nicht, erwies sich jedoch als geschickt, wenn es darum ging, ein Auto oder einen Trecker zu reparieren. Auf die Idee, dafür Geld zu verlangen, kam er nicht. Das tat Werner, sein älterer Bruder. Dessen Hund Rolf verbellte den Gehbehinderten.
Der mag nicht, was der Herrgott nicht gewollt hat, sagten manche im Dorf. Nicht weil der Hinker hinkte sondern weil er kurz vor der Hochzeit geboren war.
Als der Vater der beiden Brüder starb, erbte der Jüngere statt des Älteren den Hof. Einmal fuhren sie zusammen mit dem Trecker in den Wald. Dort rutschte Werner mit der Motorsäge in der Hand aus, stürzte und verletzte sich schwer. Sein Bruder, der bereits ein Handy besaß, obwohl der Empfang im Dorf noch unregelmäßig war, wählte den Notruf und rettete ihm das Leben. Danach hörte er auf, in den Bus zu steigen, der die Behinderten aus den Dörfern zur Lebenshilfe fuhr, und wenn er ein Auto oder einen Trecker reparierte, verlangte er von da an Geld dafür. Er starb später an Krebs.
In einem Sommer spielte und sang die Erzählerin den Mäusen in der Scheune etwas vor. Eine Maus wurde so zutraulich, dass sie Apfelstücke aus der Hand fraß. Simon beobachtete seine Schwester heimlich, und bevor die Familie in die Stadt zurückkehrte, fing er die Maus in einer Lebendfalle. Eigentlich erwartete er, dass seine Schwester das Tier mitnehmen würde, aber sie ließ die Maus frei.
Inzwischen ist die Ich-Erzählerin längst erwachsen und hat selbst zwei Töchter. Als Johanna knapp zwei Jahre alt ist, fährt die Mutter mit ihr, dem Baby Aline und ihrem Mann erstmals nach Jahren wieder in das Dorf. Ihre Eltern und Großeltern sind bereits verstorben. Die Großeltern hatten Simons Krankheit noch mitbekommen, aber nicht mehr seinen Tod. Seine Schwester saß bei ihm am Bett, als er starb, aber nicht sein ausgewanderter Bruder.
Die 86 Jahre alte Frau Scholz meint abweisend, im Dorf gebe es keine Geschichten, aber dann erzählt sie der Schriftstellerin doch von ihrem verstorbenen Ehemann. Der trug immer ein in Leder gebundenes Buch unter dem Arm und machte sich damit wichtig. Dabei war es in kyrillischer Schrift gedruckt.
Er wollte immer was Besseres sein, ein Flüchtling und von früher her ein Freiherr, ein Gutsbesitzer, bloß kein Bauer, bloß nicht hier aus der Gegend. Und woher kam er?, fragte ich.
Aus Michelstadt, und die hatten nichts. Der Hof kam von mir, und was er verkauft hat, um das Pferd zu kaufen, war meins, der Wald, die Wiesen, alles hat mir gehört, und ein Glück, dass wir nur eine Tochter haben und dass sie Lehrerin studiert hat.
Die Ich-Erzählerin hält sich noch einmal einige Zeit in dem Dorf auf, um darüber zu schreiben.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Die alte Frau Schneider schaffte sich immer noch zum Gemüsegarten. Vom Hof gackerten die Hühner, gehörten aber nicht mehr ihr, sondern einem Nachbarn. Die Ställe waren lange leer. Eigentlich sahen ihre Augen auch nichts mehr, andererseits noch Kartoffelkäfer und die Nacktschnecken. Hier kannst du bestimmt gut schreiben, sagte sie mir, vielleicht Dorfgeschichten. Dorfgeschichten gibt es auch in Berlin, erwiderte ich.
Von ihren Kindern sind alle noch am Leben, nur die jüngste Tochter starb, als ich ein Kind war, weil ihre Tante, die im gleichen Zimmer schlief, auch gestorben war, nicht merkte, dass die zuckerkranke junge Frau bewusstlos wurde, zwar lag der Würfelzucker mit dem Insulin bereit, Hermine aber war gestorben. Wer tot ist, kann keinen anderen am Sterben hindern. Hermine war die dünne Tante, die dicke hieß Rosa.
Katharina Hacker erzählt keine Dorfgeschichte mit einer durchgehenden Handlung, sondern komponiert einen Prosa-Text aus Erinnerungen einer namenlosen Ich-Erzählerin. „Eine Dorfgeschichte“ besteht aus Anekdoten und Gerüchten, Eindrücken, Bildern und anderen sprachlichen Miniaturen, die allenfalls lose miteinander verknüpft und auch nicht chronologisch angeordnet sind. Die Protagonisten der einzelnen Episoden werden nicht näher charakterisiert, sie bleiben blass und schemenhaft. Es geht hier weniger um die Figuren als um die Atmosphäre, in dem das Dorfleben stattfindet.
Zeitlich sind in „Eine Dorfgeschichte“ zwei Ebenen zu unterscheiden, zwischen denen Katharina Hacker immer wieder wechselt. Der eine Teil der Geschichte – der Geschichten, müsste man eigentlich sagen – spielt in der Kindheit der Ich-Erzählerin, der andere in der Gegenwart.
Die Erzählerin und ihre beiden Brüder verstanden damals einiges nicht, und manches wie zum Beispiel das Teufelsgrab am Dorfausgang fanden sie unheimlich. Die Erwachsene, die sich daran erinnert, behält die kindliche Sichtweise bei und versucht sich nicht an nachträglichen Erklärungen. Deshalb bleibt einiges offen, ungereimt und lückenhaft.
Zu Beginn und am Ende der Kapitel sind kursiv gedruckte Textpassagen im Flattersatz eingeschoben, die wie eine zweite Stimme wirken.
In „Eine Dorfgeschichte“ wird die Gemeinde Kirchzell auf der unterfränkischen Seite des Dreiländerecks Bayern / Hessen / Baden-Württemberg erwähnt, zu der seit 1975 außer dem Markt Kirchzell die Dörfer Watterbach, Breitenbuch und Dörnbach gehören. Mit dem Dorf im Buch ist wohl Breitenbuch gemeint.
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2013
Textauszüge: © S. Fischer Verlag
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