Henrik Ibsen : Peer Gynt
Inhaltsangabe
Kritik
1. Akt
„Peer, du lügst!“, schimpft Aase Gynt ihren zwanzigjährigen Sohn Peer, nachdem dieser sich wieder einmal tagelang herumtrieb und ihr ein fantasievolles Lügenmärchen über seine angeblichen Erlebnisse erzählte. Die Witwe weiß kaum, wie sie sich und den Jungen durchbringen soll, denn ihr Mann Jon hatte das von seinem Vater Rasmus geerbte Gut heruntergewirtschaftet, bevor er starb. An eine Instandsetzung des verfallenen Hauses ist gar nicht zu denken. Ein Segen wäre es gewesen, wenn Peer die Tochter des reichen Haegstad-Bauern geheiratet hätte. Ingrid hätte ihren Vater wohl gern überredet, Peer als Schwiegersohn zu akzeptieren, aber nun ist sie Mads Moën versprochen, und morgen wird Hochzeit gefeiert.
Peer Gynt will dem Bräutigam zuvorkommen, und als seine Mutter ihn davon abzuhalten versucht, setzt er sie kurzerhand aufs Dach der zum Gut gehörenden alten Mühle, bevor er sich auf den Weg macht.
Zu dem Fest kommt auch Solveig mit ihrer kleinen Schwester Helga und den Eltern. Peer Gynt fordert die anmutige junge Frau zum Tanz auf, doch sie zögert, denn sie hat inzwischen gehört, dass ihn die anderen für einen Taugenichts halten. Der Zurückgewiesene droht, sie nachts heimzusuchen:
Hör zu, du musst nämlich wissen, ich kann mich verwandeln in einen Troll, und liegst du heute in deinen Kissen, ich komm an dein Bett, wenn die Mitternacht voll. Hörst du ein Fauchen dann und ein Gekratze, so denke nur ja nicht, es wäre die Katze. Nein, das bin ich! Ein Werwolf bei Nacht! Ich fresse dein Schwesterchen, gib nur Acht, und dir sauge ich aus den Adern das Blut – (Seite 49)
Nach dieser argen Rede tanzt Solveig erst recht nicht mit Peer Gynt. Während sich sein Intimfeind, der Schmied Aslak, mit ein paar anderen Burschen zusammenrottet, um ihn zu verprügeln, bittet ihn der tölpelhafte Bräutigam um Hilfe, denn Ingrid hat sich auf dem Dachboden eingeschlossen und weigert sich, Mads Moën zu öffnen. Peer Gynt lässt sich nicht zweimal bitten, aber statt mit der Braut zur Gesellschaft zurückzukommen, entführt er sie in die Berge.
2. Akt
Sobald das Abenteuer vorbei ist, langweilt ihn die junge Frau. Ingrid versucht ihn zu überreden, bei ihr zu bleiben: „Nimmst du mich, so erwirbst du Gut und Ehre.“ (Seite 52) Doch Peer Gynt hat genug von ihr und steigt weiter in die Berge hinauf, denn er weiß, dass die Gemeinde mit Knüppeln bewaffnet hinter ihm her ist.
Er trifft auf eine Schöne im grünen Kleid, die behauptet, ihr Vater sei König. Daraufhin gibt Peer Gynt sich lachend als Prinz aus. Bevor die Grüne mit ihm auf einem angeblichen Pferd, das allerdings wie ein Schwein aussieht, nach Hause reitet, weist sie ihn darauf hin, dass der Schein trügt:
[…] Du musst nämlich wissen, alles bei uns hat ein zwiefach Gesicht. Darum, kommst du zu meines Vaters Palast, so könntest du leicht dem Irrtum erliegen, dass du einen wüsten Schutthaufen vor dir hast. (Seite 58)
Beim Vater der Grünen handelt es sich um den Dovre-Alten, den Trollkönig. Der ist nach einer kurzen Prüfung bereit, Peer Gynt als Schwiegersohn aufzunehmen und sein Reich mit ihm zu teilen, aber er besteht auf einer Kur wider die menschliche Natur, einer Augenoperation, um Peer Gynt den schiefen Blick der Trolle zu verschaffen. Auf keinen Fall will Peer Gynt sich in die Augen schneiden lassen. Es kommt zum Streit, und der Dovre-Alte befiehlt den Trollen und Wichteln, Peer Gynt zu zerschmettern und ihn in die nahe Schlucht zu werfen.
Die jüngeren Trolle: Dürfen wir nicht erst ein bisschen ihn jagen? Ihn kratzen und beißen? Katz und Maus mit ihm spielen?
Der Dovre-Alte: Also gut, meinetwegen. Aber macht’s kurz. Ich bin verärgert und will zu Bett. (Seite 64)
Es gelingt Peer Gynt, den Trollen zu entkommen.
3. Akt
Wegen des Brautraubs muss Aase Gynt dem Haegstad-Bauer ihr gesamtes Hab und Gut überlassen. Doch über ihren Sohn lässt sie nichts kommen.
Da ihn alle verlassen, muss ich, seine Mutter, doch zu ihm halten und nach Kräften ihm helfen; das ist meine Pflicht. (Seite 70)
Solveig, die sich bei der Begegnung während der Hochzeitsfeier in den rebellischen Peer Gynt verliebt hat, verlässt ihre Familie, um seine Frau zu werden. Kurz nachdem sie bei der Waldhütte eingetroffen ist, in der Peer Gynt haust, taucht in der Nähe ein ältliches Weib mit einem hässlichen kleinen Jungen auf: Es ist die Grüne mit ihrem von Peer Gynt gezeugten Sohn. Der Vater wider Willen scheucht sie fort, aber danach wagt er sich nicht mehr zu Solveig in die Hütte.
Da hineingehn? Jetzt? So befleckt und entehrt? In Gesellschaft all dieser üblen Gespenster? Reden, und doch die Wahrheit nicht sagen? Beichten, und doch das Schlimmste verschweigen? (Seite 76)
Ohne von Solveig Abschied zu nehmen, schleicht sich Peer Gynt ins Heimatdorf zurück. Er darf sich nicht sehen lassen, denn er gilt als vogelfrei. Aber er möchte seine Mutter besuchen. Aase liegt im Sterben. Da lässt Peer Gynt wieder seine Fantasie spielen und gaukelt ihr liebevoll eine wunderschöne Reise zum „Soria-Moria-Schloss“ und zur Himmelspforte vor.
Am Tore, da steht Sankt Peter und bittet dich höflich herein. (Seite 79)
4. Akt
Dreißig Jahre später bewirtet Peer Gynt an der Küste von Marokko vier Herren aus Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Schweden. Durch Sklavenhandel ist er reich geworden. „Den letzten Posten Negerware“ setzte er auf seiner eigenen Plantage in Carolina ein. Außerdem schickte er Missionare nach China. Die vier Besucher sollen ihm helfen, Kaiser der Welt zu werden. Doch über den griechischen Freiheitskampf gegen die Osmanen kommt es zum Streit. Während der Brite, der Franzose, der Deutsche und der Schwede die Griechen unterstützen wollen, meint Peer Gynt:
Was gehen mich die Griechen an! Ich unterstütze den, der stärker, und leih mein Geld dem Muselman. (Seite 88)
In einem unbeobachteten Augenblick segeln die vier Herren mit dem einzigen verfügbaren Schiff davon und lassen Peer Gynt allein in der Wüste zurück. Der fleht verzweifelt Gott an, ihm zu helfen. Im nächsten Augenblick beobachtet er, wie das Schiff in der Ferne explodiert und untergeht.
Während sich eine Diebesbande vor kaiserlichen Reitern in einer Höhle versteckt, kommt zufällig Peer Gynt vorbei, der gerade davon träumt, Meerwasser in die Wüste zu leiten und sie fruchtbar zu machen. Er hört ein von den Dieben zurückgelassenes Vollblut wiehern – und reitet damit weiter.
Als Moslem verkleidet, gelangt Peer Gynt in das Zeltlager eines Beduinenstamms, wo die laszive Vorsängerin und –tänzerin Anitra seine Geliebte wird. Er entführt sie auf dem Pferd. Um ihr seine Liebe zu beweisen, sitzt er ab, geht zu Fuß neben der Reiterin und schenkt ihr Schmuck.
Ich bin ein verliebter Gockelhahn. (Seite 99)
Sobald er ihr alles überlassen hat, was er bei sich hat, zieht sie ihm die Peitsche über die Hand, mit der er das Pferd führt und reitet zurück zu ihren Leuten.
In Ägypten tut Peer Gynt so, als sei er Orientalist. Bei der Sphinx begegnet er einem Berliner namens Begriffenfeldt, der ihm von einem Orden der Weltausleger vorschwärmt und ihn einlädt, mitzukommen. Erst als Begriffenfeldt das Tor zugesperrt hat, merkt Peer Gynt, dass sie sich in einer Irrenanstalt befinden, deren inzwischen verrückt gewordener Direktor Begriffenfeldt ist. Die Irren krönen Peer Gynt mit einem Strohkranz zum Kaiser der Narren.
5. Akt
Auf einem Segelschiff ist Peer Gynt unterwegs in seine Heimat, doch vor der norwegischen Küste laufen sie im Sturm auf Grund, und das Schiff sinkt. Peer Gynt rettet sich auf den Kiel eines gekenterten Beibootes. Weil er befürchtet, dass es nur einen Mann tragen kann, stößt er den Koch, der sich ebenfalls anklammert, ins Wasser zurück, und der Jüngere, der Frau und Kinder hinterlässt, versinkt in den Wellen.
Peer Gynt überlebt als Einziger und kehrt in sein Heimatdorf zurück. Die alte Mühle auf dem Gut seiner Eltern ist eingestürzt, der Bach ausgetrocknet.
Beim Schälen einer Zwiebel räsoniert er:
Das nimmt ja kein Ende! Lage um Lage! Tritt denn der Kern nicht endlich zutage? Nein, soll man es glauben – da ist gar keiner! Nichts als Schalen – nur immer kleiner und kleiner! (Seite 124f)
Der so genannte Knopfgießer weist ihn darauf hin, dass er wie eine missratene Bleifigur umgeschmolzen werden soll.
Nachdem du doch niemals du selbst gewesen – was hast du dagegen, dich aufzulösen? (Seite 130)
Um die Anschuldigung, er sei niemals er selbst gewesen, widerlegen zu können, bittet Peer Gynt um Aufschub. Doch der Dovre-Alte, der inzwischen alles verloren hat und als Bettler herumzieht, will nicht bezeugen, dass Peer Gynt an seiner Selbstverwirklichung interessiert war und meint, dieser habe stets nach dem Motto der Trolle gelebt: „Sei dir selbst genug.“ Nach dem Fehlschlag gewährt der Knopfgießer Peer Gynt eine zweite Frist. Doch bei seiner Bemühung, aufgrund einer Beichte von einem Geistlichen seine Sünden bestätigt zu bekommen, gerät er ausgerechnet an einen mageren Teufel in Soutane. Der zeigt kein Interesse an dem Fremden, denn die Vergehen, die dieser ihm eingesteht, sind ihm zu unbedeutend.
Peer Gynt: Ich verlange nicht viel.
Der Magere: Hm – ein Zimmer mit Heizung?
Peer Gynt: Nicht allzu warm; die Hauptsache wäre mir, offen gestanden, das Recht, jederzeit auszuziehn, um, nun ja, da oben ein Stübchen zu mieten – falls sich doch noch die Gelegenheit dazu bieten sollte. (Seite 137)
Schließlich sagt der Teufel, er habe es eilig, denn er sei auf der Suche nach einem gewissen Peer Gynt. Der gibt sich nicht zu erkennen und schickt den Teufel in die Irre.
Nachsichtig gewährt ihm der Knopfgießer eine dritte Chance. Peer Gynt hört Solveig singen und nähert sich der Waldhütte, in der er sie vor Jahrzehnten zurückgelassen hatte. Gerade tritt sie aus der Tür, um zur Kirche zu gehen. Inzwischen ist sie erblindet, aber sie erkennt ihn. Er fordert sie auf, Klage gegen ihn zu erheben, aber sie dankt ihm stattdessen dafür, dass er zurückgekommen ist; er sei immer in ihrem Glauben, ihrer Hoffnung und ihrer Liebe gewesen.
Der willensschwache Egoist und Fantast Peer Gynt, der in seiner Lebensgier vieles anpackt, aber nichts vollendet und sich auf der Suche nach seinem Kern zwischen Norwegen, Marokko und Ägypten herumtreibt, während zu Hause seine einzige große Liebe auf ihn wartet, gilt als „Faust des Nordens“. „Peer Gynt“ ist ein Appell, sich auf die eigene Bestimmung zu besinnen: „Sei du selbst!“ Auf seiner Reise begegnet Peer Gynt nicht nur den verschiedensten Menschen, sondern auch Sagengestalten, und es ist Henrik Ibsen gelungen, in dem turbulenten und unterhaltsamen Stück Reales und Surreales so zu verbinden, dass man „Peer Gynt“ für einen Vorläufer des absurden Theaters halten kann.
Henrik Ibsen schrieb „Peer Gynt“ 1867 auf Ischia und in Sorrent als dramatisches Gedicht und ließ sich dabei von norwegischen Märchen inspirieren, die Peter Christen Asbjørnsen 1845 bis 1848 unter dem Titel „Norske Huldre-Eventyr og Folkesagn“ veröffentlicht hatte. Erst einige Jahre später erarbeitete Henrik Ibsen eine Bühnenfassung von „Peer Gynt“, die am 24. Februar 1876 in Kristiania (heute Oslo) uraufgeführt wurde, und zwar mit der von Edvard Grieg (1843 – 1907) dazu komponierten Musik. Weil man später zu der Auffassung gelangte, dass die nationalromantische Musik des norwegischen Komponisten nicht zu dem ironischen Versdrama passt, schrieb Harald Sæverud eine neue Bühnenmusik dazu, die 1948 erstmals aufgeführt wurde.
Übertragungen des Versdramas ins Deutsche gibt es von Ludwig Passarge, Christian Morgenstern, Hermann Stock, Hans Egon Gerlach und anderen.
Werner Egk (1901 – 1983) machte aus dem Versdrama von Henrik Ibsen eine Oper in drei Akten: „Peer Gynt“. Sie wurde unter seiner Leitung am 24. November 1938 in der Staatsoper Unter den Linden in Berlin uraufgeführt. Weil der Librettist und Komponist unverkennbar mit den gleichmacherischen Trollen auf die Nationalsozialisten anspielte, kam es bei den wenigen Aufführungen der Oper in Deutschland zu Tumulten. Nach dem Zweiten Weltkrieg galt sie jedoch als Zeugnis des Widerstands.
„Peer Gynt“ wurde mehrmals verfilmt, so zum Beispiel 1915 von Oscar Apfel, 1919 von Richard Oswald, 1934 von Fritz Wendhausen, 1941 von David Bradley, 1976 von John Selwyn Gilbert, 1988 von István Gaál und 2006 von Uwe Janson („Peer Gynt von Henrik Ibsen“).
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2006
Textauszüge: © Verlag Philipp Reclam jun.
Uwe Janson: Peer Gynt
Henrik Ibsen (Kurzbiografie)
Henrik Ibsen: Nora oder Ein Puppenheim
Henrik Ibsen: Gespenster