Milan Kundera : Die Unsterblichkeit

Die Unsterblichkeit
Manuskript (tschechisch): 1988 Erstausgabe: L'Immortalité: Paris 1990 Die Unsterblichkeit Übersetzung: Susanna Roth Carl Hanser Verlag, München / Wien 1990
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

"Wenn jemand verrückt genug ist, heute noch Romane zu schreiben, muss er sie, wenn er sie schützen will, so schreiben, dass sie sich nicht adaptieren lassen, mit anderen Worten, dass man sie nicht erzählen kann." (Milan Kundera)
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Kritik

Milan Kundera komponiert den wunderbaren Roman "Unsterblichkeit" aus einzelnen Episoden, Aphorismen und kleinen Essays. Klug, ironisch und melancholisch spielt er dabei mit Fiktion und Realität, Motiven und ihren Wiederholungen.


Die Frau mochte sechzig, fünfundsechzig Jahre alt sein. In einem Fitness-Club im obersten Stock eines modernen Gebäudes, durch dessen breite Fenster man ganz Paris sehen konnte, beobachtete ich sie von einem Liegestuhl gegenüber dem Schwimmbecken aus. Ich wartete auf Professor Avenarius, den ich hier gelegentlich traf, um mit ihm zu plaudern. Doch der Professor kam nicht, und ich betrachtete die Dame; sie stand, bis zur Taille im Wasser, allein im Schwimmbecken und schaute zu dem jungen Bademeister in Shorts hinauf, der ihr das Schwimmen beibrachte […] Ich sah sie fasziniert an […], bis mich ein Bekannter ansprach und meine Aufmerksamkeit ablenkte. Als ich die Frau nach einer Weile wieder beobachten wollte, war die Lektion beendet, die Frau ging am Becken entlang und am Bademeister vorbei hinaus, und als sie vier oder fünf Schritte von ihm entfernt war, drehte sie nochmals den Kopf, lächelte und winkte ihm zu. In diesem Augenblick krampfte sich mir das Herz zusammen. Dieses Lächeln, diese Geste gehörten zu einer zwanzigjährigen Frau! Ihre Hand schwang sich mit bezaubernder Leichtigkeit in die Höhe. Es war, als würfe sie ihrem Geliebten einen bunten Ball zu. […] Ich war auf merkwürdige Weise gerührt. Und vor mir tauchte das Wort Agnes auf. Ich habe nie eine Frau mit diesem Namen gekannt.“ (Seite 9f)

Mit diesen Worten beginnt Milan Kundera seinen Roman „Die Unsterblichkeit“. Aus dieser Geste einer sechzigjährigen Frau entwickelt er ihn. Am nächsten Morgen stellt er sich Agnes vor, wie sie erwacht, nachdem ihr Mann das Haus verlassen hat.

Jetzt steht sie direkt vor dem Bett, und ich sehe sie zum ersten Mal nackt, Agnes, die Heldin meines Romans. Ich kann die Augen nicht von dieser schönen Frau abwenden, und sie, sie geht, als spüre sie meinen Blick, ins Nebenzimmer, um sich anzuziehen. (Seite 13)

Agnes ist mit einem Rechtsanwalt namens Paul verheiratet, wohnt ihn Paris und hat eine Tochter: Brigitte. Ihre Schwester Laura ist acht Jahre jünger als sie. Die Mutter starb vor sechs, der Vater vor fünf Jahren. Bei ihren Urgroßeltern mütterlicherseits hatte es sich um zweisprachige Bauern aus dem Grenzgebiet zwischen der deutschen und der französischen Schweiz gehandelt; die deutschen Eltern des Vaters waren in Ungarn ansässig gewesen.

Als Agnes und Laura noch klein waren, kam zu ihrem Vater – einem Mathematikprofessor – regelmäßig eine vierzigjährige Sekretärin, um Post zu bringen und zu holen. Einmal sah Agnes durchs Fenster, wie die Dame sich vor dem Gartentor umdrehte, lächelte und die „Hand mit einer unerwarteten, leichten und fließenden Bewegung in die Luft“ warf (Seite 51). Diese Geste imitiert sie mit sechzehn, nachdem sie mit einem Mitschüler ins Kino gegangen war, der sie auch auf dem Nachhauseweg nicht zu küssen gewagt hatte.

Sie gaben sich also nur die Hand, und sie ging den schmalen Gartenweg hinauf, der zwischen den Beeten hindurch zur Haustür führte. Sie spürte, wie der Junge reglos dastand und ihr nachschaute. Wieder tat er ihr Leid, sie empfand für ihn das Mitgefühl einer älteren Schwester und tat in diesem Augenblick etwas, was sie eine Sekunde zuvor noch nicht geahnt hatte. Sie drehte ihm im Gehen den Kopf zu, lächelte und warf den rechten Arm fröhlich in die Luft, leicht und fließend, als würfe sie einen bunten Ball in die Höhe. (Seite 50f)

Nach dem Abitur studierte Agnes Mathematik. Dass sie Paul heiratete und eine ganz gewöhnliche Stelle bei einem Computerhersteller annahm, statt eine wissenschaftliche Karriere anzustreben, nahm Laura ihr übel. Laura studierte Gesang am Konservatorium in Paris, obwohl sie besser Klavier spielte als sie sang. Im Gegensatz zu Agnes strengte sie sich zwar an, scheiterte jedoch mit ihrer Karriere als Sängerin. Als ihre Nichte Brigitte zehn Jahre alt war, heiratete Laura und wollte mit ihrem Mann eine Familie gründen. Aber sie verlor ihr ungeborenes Kind und konnte danach keine Kinder mehr bekommen. Ihre Ehe zerbrach nach sechs Jahren. Von da an nahm sie sich einen Liebhaber nach dem anderen. Einer von ihnen gab ihr das Geld für die Einrichtung eines Modegeschäfts.

Laura fühlt sich vom Leben betrogen, und Agnes ist auch nicht glücklich.

[…] in letzter Zeit wurde sie [Agnes] von dem Gedanken verfolgt, dass hinter ihrer Liebe zu Paul nichts anderes stand als der bloße Wille: der bloße Wille, ihn zu lieben; der bloße Wille, eine glückliche Ehe zu führen. Würde dieser Wille für einen Augenblick nachlassen, flöge die Liebe davon wie ein Vogel, dessen Käfig man geöffnet hat. (Seite 55)

Gestört fühlt sie sich von Menschen, die rücksichtslos auf sich aufmerksam machen, etwa eine junge Frau, die schon beim Betreten einer Sauna verkündet, dass sie nur kalt dusche und Warmduscher verabscheue, oder ein Mädchen mit langen schwarzen Haaren auf einem Motorrad mit abmontierten Schalldämpfern.

Es war nicht die Maschine, die diesen Lärm veranstaltete, es war das Ich der Schwarzhaarigen; sie hatte, um gehört zu werden und sich ins Bewussein der anderen zu drängen, einen überlauten Auspuff an ihre Seele gebunden. (Seite 32f)

Diesen Menschen geht es um die Unsterblichkeit. Das hat nichts mit dem Glauben an eine unsterbliche Seele zu tun. Es handelt sich vielmehr um eine profane Unsterblichkeit im Gedächtnis der Nachfahren. Professor Avenarius würde gern eine Meinungsumfrage durchführen und erfahren, wieviele Männer lieber eine Nacht mit Rita Hayworth im Bett verbringen würden als sich einen Tag lang mit ihr in der Öffentlichkeit zu zeigen. Er vermutet, dass die meisten auf dem Fragebogen die Nacht im Bett ankreuzen, doch in Wirklichkeit einen Tag auf dem Marktplatz vorziehen würden, weil das Staunen der Mitmenschen für ihr Ego wichtiger sei und der Sehnsucht der Menschen nach Unsterblichkeit (in dem hier definierten Sinn) entspreche.

Dabei findet Milan Kundera es ungerecht, dass nur einige wenige Menschen in der Erinnerung der Allgemeinheit weiterleben und damit unsterblich sind.

Millionen Europäer, die nichts bedeuten, gegen fünfzig Namen, die alles repräsentieren! (Seite 404)

Laura verliebte sich schließlich in den acht Jahre jüngeren Journalisten Bernard Bertrand, einen jungen Freund Pauls, dessen Rundfunkmoderationen am Morgen Milan Kundera nerven. Bernard stammt aus einer der bedeutendsten Familien Frankreichs: Sein Großvater war der Abgeordnete Arthur Bertrand, und sein Vater Bertrand Bertrand macht ebenfalls im französischen Parlament von sich reden. Als Laura nach zwei Jahren zu spüren glaubt, dass Bernard nicht an sie denkt, fordert sie ihn törichterweise zur Heirat auf. Daraufhin zieht er sich allmählich von ihr zurück, und schließlich möchte er einen vierzehntägigen Urlaub in der Villa, die seine Familie auf Martinique besitzt, allein verbringen. Laura lässt sich von verschiedenen Ärzten Schlaftabletten verschreiben und kündigt ihrer Schwester an, sie werde vor Bernard nach Martinique fliegen.

Bei seinem Eintreffen soll Bernard in der Villa auf ihre Leiche stoßen. Mitten in der Nacht ruft sie Agnes und Paul aus Martinique an: In der Aufregung habe sie die zwanzig Schachteln Schlaftabletten in Paris vergessen, aber sie habe in der Villa eine Pistole gefunden und werde sich in einem roten Badeanzug erschießen. Einige Tage später steht sie bei Paul und Agnes in der Tür. Ihre Augen verbirgt sie hinter einer dunklen Brille. Paul ist allein zu Hause. Laura schimpft über Bernard, und ihr Schwager pflichtet ihr bei. Agnes kommt hinzu, spürt das erotische Knistern zwischen den beiden, nimmt die Brille in die Hand, die Laura auf den Kaminsims legte, lässt sie absichtlich auf den Steinboden fallen, wo die Gläser zerspringen, und verbietet ihrer Schwester weitere Besuche.

Milan Kundera hört in den Nachrichten von einer jungen Frau, die sich nachts auf die Straße setzte, mit dem Rücken gegen die Fahrtrichtung. Drei Autofahrer wichen ihr im letzten Augenblick aus und rasten in den Straßengraben. Es gab Tote und Verletzte. Die Selbstmörderin blieb unverletzt und verschwand spurlos.

Diese Nachricht finde ich so entsetzlich, dass ich nicht mehr einschlafen kann. […] Ich muss diese Vorstellung gewaltsam verscheuchen, weil ich an meinem Roman weiterarbeiten will, der, wie Sie sich vielleicht erinnern, an einem Schwimmbecken anfing, wo ich auf Professor Avenarius wartete und dabei eine mir unbekannte Dame sah, die ihrem Bademeister zum Abschied zuwinkte. Diese Geste haben wir nochmals gesehen, als sich Agnes vor der Villa von ihrem schüchternen Mitschüler verabschiedete. (Seite 115)

Als die Computerfirma, in der Agnes beschäftigt ist, eine Filiale in Bern eröffnet und ihr die Leitung der Forschungsabteilung dort anbietet, sagt sie sofort zu.

Ein paar hundert Kilometer von Paris entfernt, setzt sie sich genau in der Mitte einer Fahrbahnhälfte auf den Asphalt – mit dem Rücken gegen die Fahrtrichtung – und kauert sich zusammen. Sie hört ein Auto kommen, aber statt einen tödlichen Aufprall zu spüren, quietscht und kracht es im Straßengraben. Zwei weitere Autofahrer verunglücken bei ihren Ausweichmanövern. Da springt Agnes auf und läuft fort.

Etwa zur gleichen Zeit erklärt Professor Avenarius Milan Kundera, wie man Reifen geparkter Autos durchsticht. Zu diesem Zweck hat Avenarius in einem ausgeklügelten Riemensystem unter dem Jackett ein großes Küchenmesser bei sich. Als er es herauszieht, um es in einen Reifen zu rammen, stößt er unversehens auf eine Passantin. Sie starrt auf das Messer und befürchtet, er wolle sie vergewaltigen. Auf ihre Schreie hin laufen einige Leute zusammen. Ein Polizist fordert Professor Avenarius schließlich auf, sein Jackett zu öffnen und nimmt ihn dann fest. In diesem Augenblick kommt Paul aus seinem Haus, bietet dem Verhafteten seinen Rechtsbeistand an und gibt ihm seine Karte. Durch das Rückfenster des Polizeiautos sieht Avenarius noch, wie Paul wieder aus seinem Auto steigt und sich zu dem durchstochenen Vorderreifen hinunterbeugt.

Paul eilt zurück in die Wohnung und ruft ein Taxiunternehmen an. Er muss dringend zu Agnes, die schwer verunglückt ist. Kein Taxiunternehmen ist bereit, ihn so weit zu fahren. Pauls Assistent hebt nicht ab. In seiner Verzweiflung ruft er Bernard an. Der kommt nach einer halben Stunde. Gleichzeitig mit Bernard trifft zufällig auch Brigitte ein und fährt mit ihrem Vater los. Paul möchte Agnes unbedingt noch einmal lebend sehen. Doch er und Brigitte kommen um eine Viertelstunde zu spät.

Nach dem Tod seiner Frau schläft Paul wie selbstverständlich mit Laura.

Agnes war übrigens zeitweise mit einem Mann liiert, der auf den Spitznamen Rubens hörte. In der Woche vor seiner Hochzeit hatte Rubens noch einmal versucht, mit einer zuvor verstoßenen Geliebten zu schlafen, war aber von ihr abgewiesen worden. Niedergeschlagen ließ er die Zeremonie der Eheschließung über sich ergehen und betrank sich während der anschließenden Feier. In der Hochzeitsnacht sprach er seine Frau versehentlich mit dem Namen der Geliebten an, die sich ihm verweigert hatte. Diese hatte „seine Ehe für immer mit ihrem Namen vermint“ (Seite 344). Nach der Scheidung begegnete Rubens in Rom einer anderen seiner früheren Geliebten. Er konnte sich zwar nicht mehr an den Namen der zehn Jahre jüngeren Frau erinnern – es handelte sich um Agnes –, aber er wusste noch, wie er sie kennen gelernt und mit ihr Tango getanzt hatte. Unvermittelt hatte er ihr eine Hand auf die Brust gelegt und sie ängstlich gefragt: „Hat jemand schon einmal Ihre Brust berührt?“ Die Frage war von ihr verneint worden. Eine Woche nach dem Wiedersehen in Rom verabredeten Agnes und Rubens sich in einem Hotel in Paris. Wieder legte er ihr die Hand auf die Brust und fragte sie, ob sie sich an damals erinnere. „Ja“, sagte sie. Von da an trafen sie sich regelmäßig. Einmal nahm er einen Freund mit, und sie gingen zu dritt aufs Zimmer. Die beiden Männer entkleideten die Frau bis auf den Slip, und Agnes betrachtete sich fasziniert im Schrankspiegel. Bei einem späteren Besuch in Rom stellte Rubens sich eine gekreuzigte, nur mit einem weißen Lendentuch bekleidete Frau vor, die ihre Brüste mit den Händen bedeckt. Man zieht ihr die Arme auseinander bis die Handrücken den Kreuzbalken berühren, und die johlende Menge begafft sie. Jahrelang hörte Rubens nichts mehr von Agnes. Dann ruft er eines Tages bei ihr an und erfährt von Laura, dass sie tot ist.

Auf den Tag genau zwei Jahre nachdem Milan Kundera die Geste von Agnes in der Schwimmhalle sah, sitzt er wieder mit Professor Avenarius in dem Fitness-Club. Zur Feier des Jubiläums, von dem sein Gesprächspartner nichts weiß, hat er eine Flasche Wein bestellt. Da kommt ein fünfzig- bis sechzigjähriger Herr auf sie zu, und Avenarius macht ihn mit Milan Kundera bekannt: Es ist Paul. Kurz darauf erscheint auch Laura. Sie ist inzwischen mit Paul verheiratet, und die beiden haben eine drei Monate alte Tochter. Brigitte hatte vor einem Jahr ohne Abschied das Haus verlassen, aber vor zwei Tagen kehrte sie mit ihrer kleinen Tochter zurück, weil sie von ihrem Geliebten verlassen worden war. Laura und Milan Kundera werden einander vorgestellt. Nach einer kurzen Begrüßung geht sie schwimmen. Dann verlässt sie das Bassin und geht an den Männern vorbei zum Ausgang.

Als sie vor der Schwingtür stand, die von der Schwimmhalle zu den Umkleideräumen führte, geschah etwas Unerwartetes: sie drehte plötzlich den Kopf in Richtung unseres Tisches und warf den Arm mit einer so leichten, charmanten und fließenden Bewegung in die Luft, dass es uns vorkam, als werfe sie einen goldenen Ball in die Höhe, der über der Tür hängen blieb. (Seite 410f)

Paul bezieht die Geste auf sich, aber Milan Kundera weiß, dass sie Professor Avenarius gegolten hat. Offenbar hat dieser ein Verhältnis mit Laura, von dem Paul nichts ahnt. In dem Gerichtsverfahren, in dem Avenarius beschuldigt wurde, eine Frau angegriffen zu haben, erreichte Paul als sein Anwalt zwar einen Freispruch aus Mangel an Beweisen, aber er ist überzeugt, dass die Zeugin von seinem Mandanten bedroht worden war, denn der Angeklagte verschwieg, für welchen Zweck er das Messer bei sich gehabt hatte.

Diese Geschichte erzählt Milan Kundera weder chronologisch noch zusammenhängend, sondern in einzelnen Episoden. Der Autor stimmt auch nicht mit Aristoteles überein, der in seiner „Poetik“ die Schilderung von Episoden grundsätzlich ablehnte.

Das Leben ist mit Episoden gepolstert wie eine Matratze mit Rosshaar, doch der Dichter ist (nach Aristoteles) kein Sattler und muss sämtliche Pölsterchen sorgfältig aus seiner Handlung entfernen, obwohl das wirkliche Leben fast nur aus solchen Pölsterchen besteht. […] niemand kann nämlich garantieren, dass irgendein rein episodisches Ereignis nicht eine kausale Kraft in sich birgt, die diese Episode eines Tages zur Ursache weiterer Ereignisse werden lässt. […] keine Episode ist a priori dazu verdammt, für immer eine Episode zu bleiben, denn jedes, auch das unbedeutendste Ereignis, birgt in sich eine verborgene Möglichkeit, früher oder später zur Ursache anderer Ereignisse zu werden und sich so in eine Geschichte oder in ein Abenteuer zu verwandeln. Episoden sind wie Minen. Die meisten explodieren nie, aber gerade die unscheinbarste verwandelt sich eines Tages in eine Geschichte, die für Sie fatal wird. (Seite 366f)

Zwischendurch schildert Milan Kundera auch noch Episoden über die Beziehung Johann Wolfgang von Goethes mit Bettina von Arnim. Bettinas Mutter, Maximiliane La Roche, war in Goethe verliebt gewesen, doch als ihr Ehemann, ein reicher italienischer Kaufmann namens Brentano, merkte, dass der Dichter seiner Frau schöne Augen machte, warf er ihn aus dem Haus und verbot ihm weitere Besuche. Bettina begeisterte sich schon als Kind für Goethe. Im Alter von zweiundzwanzig Jahren besuchte sie ihn 1807 in Weimar. Als sie sich drei Jahre später zufällig in Teplitz trafen, erzählte sie Goethe von ihrer bevorstehenden Vermählung mit Achim von Arnim. Abends in seinem Zimmer knöpfte der Einundsechzigjährige ihr Kleid auf.

Er legte die Hand auf ihre Brust: „Hat dir noch nie jemand den Busen berührt?“, fragte er. „Nein, mir selbst ist’s so fremd, dass du mich anrührst“, antwortete sie. (Seite 84)

Im Jahr darauf wohnten Bettina und Achim von Arnim beim Ehepaar von Goethe in Weimar. Am 3. September 1811 begleitete Goethes Ehefrau Christiane das frisch vermählte Paar zu einer Kunstausstellung und wiederholte dort die positiven Kommentare, die sie von ihrem Mann gehört hatte. Bettina hielt die Gemälde dagegen für unmöglich und begründete das mit Argumenten, die Christiane nicht verstand. Weil es Christiane nicht entgangen war, dass Bettina mit Goethe kokettierte und es sie ärgerte, dass Bettina den Ansichten ihres Idols widersprach, schlug sie ihr unversehens die Brille von der Nase. Die Gläser zersplitterten auf dem Boden. Goethe, über den Vorfall unterrichtet, hielt zu seiner Frau Christiane und verbot dem Ehepaar von Arnim sein Haus.

In den rund fünfzig Briefen, die Johann Wolfgang von Goethe von Bettina von Arnim erhielt, duzte sie ihn und schrieb von kaum etwas anderem als von der Liebe, aber – so Milan Kundera – es ging ihr nicht um Liebe, sondern um Unsterblichkeit. Nach Goethes Tod ergänzte und modifizierte sie drei Jahre lang die Brieftexte, bis sie die Korrespondenz 1835 unter dem Titel „Goethes Briefwechsel mit einem Kinde“ veröffentlichte. Fast ein Jahrhundert lang glaubte man an die Authentizität des Buches. Dann fand man 1929 die Originale.

Johann Wolfgang von Goethe und Ernest Hemingway unterhalten sich 1988 im Jenseits. Hemingway klagt darüber, dass man Bücher über sein Privatleben schreibe, statt seine Romane zu lesen. Das sei wohl der Preis für die Unsterblichkeit. Goethe entgegnet:

„Haben Sie immer noch nicht begriffen, Ernest, dass die Personen, von denen die Leute reden, gar nicht wir sind?“ (Seite 263)

Schließlich gibt Goethe dem Amerikaner zu bedenken:

„Sie wissen so gut wie ich, dass wir diesen Augenblick nur der frivolen Fantasie eines Romanciers verdanken, der uns sagen lässt, was wir vermutlich nie gesagt hätten.“ (Seite 265)

Und der Autor fügt augenzwinkernd hinzu:

Hemingway und Goethe entfernen sich auf den Wegen des Jenseits, und Sie fragen mich, was das denn nun wieder für ein Einfall war, ausgerechnet diese beiden zusammenzubringen. (Seite 108)

Zwischen all diese (und noch viele weitere) Episoden fügt Milan Kundera auf lockere Weise eine Reihe von Überlegungen zu den verschiedensten Themen ein. Als Romanfigur erklärt er Professor Avenarius den Unterschied zwischen einem stummen, einem poetischen, einem kontrapunktischen und einem Geschichten bildenden Zufall (Seite 275). Er spricht über die Macht der Journalisten und die Umwelt des Menschen im Fernsehzeitalter. Auch über die Literatur denkt er nach.

„Heutzutage stürzt man sich auf alles, was je geschrieben worden ist, um es in einen Film, eine Fernsehsendung oder einen Comic zu verwandeln. Da das Wesentliche in einem Roman aber das ist, was sich nicht anders als durch einen Roman ausdrücken lässt, bleibt in jeder Adaption nur das Unwesentliche enthalten. Wenn jemand verrückt genug ist, heute noch Romane zu schreiben, muss er sie, wenn er sie schützen will, so schreiben, dass sie sich nicht adaptieren lassen, mit anderen Worten, dass man sie nicht erzählen kann. […] bedaure ich, dass fast alle Romane, die je geschrieben worden sind, viel zu gehorsam die Regeln der Einheit der Handlung einhalten. Ich will damit sagen, dass sie alle auf einer einzigen Kausalkette miteinander verbundener Taten und Ereignisse aufgebaut sind. Sie gleichen einer engen Gasse, durch die die Figuren hindurchgepeitscht werden. Die dramatische Spannung ist die wahre Verdammnis des Romans, weil sie alles, auch die schönsten Seiten, die überraschendsten Szenen und Beobachtungen in bloße Stufen verwandelt, die zum Finale führen, in dem alles Vorangegangene seinen Sinn hat. Der Roman wird vom Feuer seiner eigenen Spannung verschlungen und verzehrt wie eine Strohgarbe.“ (Seite 289f)

Milan Kundera beschäftigt sich mit der Frage, was Scham ist und erklärt, dass es peinlich sei, wenn man aus Versehen Tinte verschütte. Beflecke eine Frau dagegen während der Monatsblutung ein fremdes Bett, schäme sie sich.

Die Grundlage der Scham ist nicht irgendein persönlicher Fehler, sondern die Schande, die Erniedrigung, die wir dafür empfinden, dass wir sein müssen, was wir sind, ohne dass wir es uns so ausgesucht haben, und es ist das unerträgliche Gefühl, dass diese Erniedrigung von überall zu sehen ist. (Seite 301)

Scham bedeutet, dass wir uns gegen etwas wehren, was wir wollen, und darüber beschämt sind, dass wir wollen, wogegen wir uns wehren. (Seite 358)

Auf Unterschiede zwischen Mann und Frau geht Milan Kundera ebenfalls ein:

Es beginnt mit dem Schock der ersten Blutung; der Körper ist plötzlich da und die Frau sieht sich in der Rolle eines Maschinisten, der eine kleine Fabrik in Gang halten muss: täglich den Büstenhalter zuhaken, jeden Monat Tampons benutzen, Tabletten schlucken, bereit sein zur Produktion. Deshalb beneidete Agnes alte Männer; ihr schien, dass sie anders altern: der Körper ihres Vaters hatte sich langsam in seinen eigenen Schatten verwandelt, hatte sich entmaterialisiert, war nur noch als reine, unvollkommen verkörperte Seele auf der Erde geblieben. Demgegenüber wird der Körper einer Frau immer mehr Körper, je unbrauchbarer, belastender und schwerer er wird; er gleicht einer alten, abbruchreifen Manufaktur, bei der das Ich der Frau bis zum Schluss als Wächter ausharren muss. (Seite 123f)

Klug, ironisch und melancholisch spielt Milan Kundera mit Fiktion und Realität, Motiven und ihren Wiederholungen. „Die Unsterblichkeit“ ist ein formal und inhaltlich wunderbarer Roman, der sich nicht adäquat nacherzählen lässt, weil er aus einzelnen Episoden, Aphorismen und kleinen Essays komponiert ist.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2004
Textauszüge: © Carl Hanser Verlag

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Milan Kundera: Der Vorhang
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Michael Wolski - 1989 Mauerfall Berlin
Beweisen kann Michael Wolski seine Hypothese nicht, aber er trägt in seinem Buch "1989. Mauerfall Berlin. Auftakt zum Zerfall der Sowjetunion" eine Reihe von Argumenten bzw. Indizien zusammen, und das von ihm geschilderte Szenario ist zumindest denkbar. Es könnte so gewesen sein.
1989 Mauerfall Berlin