Milan Kundera : Das Fest der Bedeutungslosigkeit

Das Fest der Bedeutungslosigkeit
Originalausgabe: La fête de l'insignificance Gallimard, Paris 2014 Das Fest der Bedeutungslosigkeit Übersetzung: Uli Aumüller Carl Hanser Verlag, München 2015 ISBN: 978-3-, 140 Seiten,
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die Handlung – sofern man überhaupt von einer Handlung sprechen kann – beginnt und endet mit im Park flanierenden Herren. D'Ardelo lügt, er habe soeben die Diagnose einer unheilbaren Krebserkrankung erhalten und seine Geburtstagsparty in drei Wochen werde deshalb zugleich sein Abschiedsabend sein. Als Ramon glaubt, die Geburtstags­feier endlich unauffällig mit Julie verlassen zu können, stellt er fest, dass sie bereits fort ist. Und dann haut Stalin auf den Tisch ...
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Kritik

Unsere Existenz sei sinnlos, meint Milan Kundera in seinem tragi­komischen Roman "Das Fest der Bedeutungslosigkeit". Mit schein­barer Leichtigkeit und verspielter Fabulierlaune skizziert er Figuren und Episoden.
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Paris. Zum wiederholten Mal hat Ramon vor, die Chagall-Ausstellung im Musée du Luxembourg anzuschauen, aber die Menschenschlange schreckt ihn erneut ab und er schlendert stattdessen in den Jardin du Luxembourg. Dort trifft er auf D’Ardelo, einen früheren Kollegen, der soeben vom Arzt kommt, der ihm das Gesamt­ergebnis mehrerer Untersuchungen mitteilte. D’Ardelos Befürchtung, todkrank zu sein, hat sich nicht bestätigt. Als Ramon jedoch meint, D’Ardelo führe ein vergnügliches Leben, reagiert dieser spontan mit der Lüge, er habe gerade die Diagnose erhalten, unheilbar an Krebs erkrankt zu sein; seine Geburtstagsparty in drei Wochen werde deshalb auch ein Abschiedsabend sein.

Den Auftrag für das Catering bei D’Ardelos Party vermittelt Ramon seinem Freund Charles.

Charles erzählt gern eine Anekdote über Stalin, die er in dem Buch „Chruschtschow erinnert sich“ gelesen hat und spielt mit dem Gedanken, daraus ein Stück fürs Marionettentheater zu machen. Eines Abends sitzt der Diktator mit seinen Genossen zusammen und berichtet von einer Jagd.

Er zieht einen alten Parka über, schnallt Skier an, nimmt eine Flinte und legt dreizehn Kilometer zurück. Da sieht er vor sich auf einem Baum Rebhühner sitzen. Er bleibt stehen und zählt. Es sind vierundzwanzig. Aber was für ein Pech! Er hat nur zwölf Patronen dabei! Er schießt, tötet zwölf, dann kehrt er um, fährt die dreizehn Kilometer zurück nach Hause und holt noch ein Dutzend Patronen. Wieder legt er die dreizehn Kilometer zurück, um wieder bei den Rebhühnern anzukommen, die noch immer auf demselben Baum sitzen. und er tötet sie endlich alle …

Keiner der Genossen glaubt die Geschichte, aber niemand wagt es, sich zu äußern. Erst als sie zusammen die Toilette aufsuchen und unter sich sind – Stalin benutzt einen eigenen Abort –, schimpfen sie aufgebracht über den Lügner, ohne zu ahnen, dass Stalin an der Tür horcht und sich amüsiert.

Ein arbeitsloser Schauspieler, den Charles beim Catering als Kellner beschäftigt und der von seinen Freunden nach einer Rolle in William Shakespeares Theaterstück „Der Sturm“ mit dem Namen Caliban angesprochen wird, erzählte die Jagdgeschichte Alains deutlich jüngerer Freundin Madeleine und berichtet nun, die 20-Jährige habe nichts davon verstanden. Die Männer rechnen nach, dass Ramon bei Stalins Tod bereits auf der Welt war, Charles dagegen erst 17 Jahre später und Madeleine sogar vier Jahrzehnte später geboren wurde. Daraus leitet Ramon folgenden Gedanken ab:

„Menschen begegnen sich im Leben, plaudern, diskutieren, streiten miteinander, ohne sich bewusst zu machen, dass sie aus großer Entfernung miteinander sprechen, jeder von einem Beobachtungsposten aus, der an einem anderen Ort in der Zeit steht.“

Charles erzählt seinen Freunden weiter von Stalin. Der wusste, dass Michail Iwanowitsch Kalinin, der Vorsitzende des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR, wegen einer vergrößerten Prostata alle paar Minuten zur Toilette musste. Kalinin war zwar das formelle Staatsoberhaupt, hatte aber in Wirklichkeit nichts zu sagen. Wenn Stalin einen Witz erzählte und das verkrampfte Gesicht Kalinins sah, der verzweifelt versuchte, seinen Schließmuskel zu beherrschen, machte er sich einen Spaß daraus, die Pointe hinauszuzögern, bis sich Kalininis Gesicht entspannte. Sobald Kalinin den Kampf wieder einmal verloren hatte, beendete Stalin die Zusammenkunft; alle standen auf, und der Vorsitzende des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR versuchte die Einnässung seiner Hose hinter einer Stuhllehne zu verbergen. Zu den Treppenwitzen der Geschichte zählt, dass zwar die nach Marx, Lenin und Stalin benannten Städte inzwischen (wieder) Chemnitz, St. Petersburg und Wolgograd heißen, aber die Stadt Immanuel Kants den 1946 verliehenen Namen Kaliningrad behalten hat.

Einmal fragt Stalin Kalinin und die anderen Genossen, was Kants wichtigste Idee gewesen sei, und weil niemand die Antwort kennt, gibt er sie selbst: das „Ding an sich“. Aber, fährt Stalin fort, da habe sich Immanuel Kant geirrt, denn es gebe hinter den menschlichen Vorstellungen und Wahrnehmungen keine andere Wirklichkeit. Die Welt sei nichts als Wille und Vorstellung, das habe Arthur Schopenhauer richtig erkannt. Andrei Alexandrowitsch Schdanow protestiert: Stalin habe doch immer gesagt, das sei eine Lüge der idealistischen Philosophie der bürgerlichen Klasse! Unbeirrt fragt Stalin ihn, was die Haupteigenschaft des Willens sei – und gibt auch wieder gleich selbst die Antwort:

„Seine Freiheit. Er kann behaupten, was er will. Doch genug davon. Die wirkliche Frage lautet: Es gibt ebenso viele Vorstellungen der Welt, wie es Menschen auf dem Planeten gibt; das schafft zwangsläufig Chaos; wie kann man Ordnung in dieses Chaos bringen? Die Antwort ist klar: Indem man allen eine einzige Vorstellung aufzwingt. Und die kann nur von einem einzigen Willen aufgezwungen werden, einem einzigen, ungeheuren Willen, einem Willen über allen anderen Willen. Eben das habe ich getan, soweit meine Kräfte es mir erlaubt haben.“

Zwei Stunden bevor D’Ardelos Party beginnt, treffen Charles und Caliban bei ihm ein, und Mariana, das portugiesische Dienstmädchen der Familie D’Ardelo, hilft ihnen bei den Vorbereitungen. Die beiden Männer machen sich einen Spaß daraus, Caliban als Pakistani auszugeben, der kein Wort Französisch spricht. Der Schauspieler äußert sich denn auch nur in einer Pseudosprache, und Charles tut so, als dolmetsche er.

Der Star des Abends ist La Franck. Die über 50 Jahre alte schöne Frau lässt sich nichts anmerken, aber einige wissen, dass ihr Geliebter vor drei Wochen starb.

Ramon wundert sich darüber, auch Quaquelique bei der Party anzutreffen. Der unauffällige Mann sagt ihm unumwunden, er sei auf der Suche nach einer neuen Freundin.

Es freut Ramon besonders, Julie wiederzusehen. Doch als er glaubt, die Party endlich unauffällig mit ihr verlassen zu können, stellt er fest, dass sie bereits fort ist. Er weiß allerdings nicht, dass Quaquelique sie nach Hause begleitet.

Ramon durchschaut, dass die Farce mit der angeblich pakistanischen Sprache Caliban dazu dient, sich auch als Lakai in der gehobenen Gesellschaft amüsieren zu können.

„Wir haben seit langem begriffen, dass es nicht mehr möglich ist, diese Welt umzustürzen oder neu zu gestalten oder ihr unseliges Vorwärtsrennen aufzuhalten. Es gab nur noch einen einzigen möglichen Widerstand: sie nicht ernst zu nehmen. Aber ich stelle fest, dass unsere Witze ihre Macht verloren haben.“

Aber Ramon warnt Caliban: Das Spiel sei gefährlich, meint er, denn fände jemand heraus, dass Caliban kein Pakistani, sondern ein Franzose ist, würde ihn das verdächtig machen. Niemand würde ihm glauben, dass es nur ein Witz sein sollte.

„Scherze sind gefährlich geworden.“

Dann spricht Ramon mit Caliban über Georg Wilhelm Friedrich Hegel:

„Hast du jemals Hegel gelesen? Natürlich nicht. Du weißt nicht mal, wer das ist. In seiner Reflexion über das Komische sagt Hegel, der wahre Humor sei undenkbar ohne die unendliche gute Laune, hör gut zu, was er wörtlich sagt: die unendliche Wohlgemutheit. Nicht der Spott, nicht die Satire, nicht der Sarkasmus. Nur von den Höhen der unendlichen guten Laune kannst du unter dir die ewige Dummheit der Menschen beobachten und darüber lachen.“

Sobald die letzten Gäste gegangen sind, packen Charles und Caliban ihre Sachen zusammen, und Mariana hilft ihnen dabei. Caliban gefällt ihr, und sie würde gern mit ihm reden, aber er fällt nicht aus seiner Rolle. Als er sie auf den Mund küsst, lässt sie die Lippen keusch geschlossen. Das gefällt Caliban.

Obwohl es spät ist, fahren die beiden Männer nach der Party zu ihrem Freund Alain, um noch etwas mit ihm zu trinken.

Wenige Minute nach Alains Geburt verließ die Mutter ihn und seinen Vater. Als er zehn Jahre alt war und sein Vater ein Ferienhaus gemietet hatte, besuchte sie die beiden. Nachdem Alain im Pool geschwommen war, spürte er ihren Blick auf seinem Nabel, und sie berührte ihn dann auch dort mit dem Zeigefinger. Damals sah er sie zum letzten Mal. Später verriet ihm der Vater, dass die Mutter kein Kind haben wollte. Anders als Alain wissen wir als Leser, dass die schwangere junge Frau mit einem Auto zu einer Fußgängerbrücke fuhr und ins Wasser sprang. Aber die Überlebensreflexe des Körpers ließen sie nicht untergehen. Ein Jugendlicher eilte ihr zu Hilfe, aber sie drückte ihn unter Wasser und ertränkte ihn. Dann schwamm sie ans Ufer und fuhr wieder nach Hause.

Während D’Ardelos Party saß Alain in seinem Apartment und glaubte, seine Mutter zu hören. Sie sprach davon, dass die biblische Eva keinen Nabel gehabt haben könne und ließ ihn wissen, dass sie es schon immer entsetzlich gefunden habe, Menschen ungefragt zu zeugen und zu gebären.

„Auch dein Geschlecht hast du nicht gewählt. Deine Augenfarbe auch nicht. Dein Jahrhundert auch nicht. Deine Heimat auch nicht. Deine Mutter auch nicht. Nichts von dem, was wichtig ist. Die Rechte, die ein Mensch haben kann, betreffen nur Belanglosigkeiten, für die zu kämpfen oder großartige Erklärungen zu verfassen es keinen Grund gibt!“

Alain hat in seiner Wohnung keinen Alkohol außer einer Flasche sehr alten Armagnacs. Als Caliban auf einen Stuhl klettert und sie von Alains Kleiderschrank herunterholen will, haut Stalin mit der Faust auf den Tisch. Caliban stürzt zu Boden und zerbricht die Flasche.

Den Schlag hört auch Julie. Sie schreckt im Bett hoch. Quaquelique steht bereits an der Tür und sagt: „Es war sehr schön“. Nun erst erinnert sie sich, dass sie den unauffälligen Unbekannten von der Party mit nach Hause nahm und mit ihm schlief.

Charles muss nach Tarbes, weil seine Mutter im Sterben liegt. Er kann deshalb nicht, wie geplant, Alain, Ramon und Caliban zur Chagall-Ausstellung im Musée du Luxembourg begleiten. Weil Ramon die Menschenschlange immer noch für zu lang hält, flanieren die Freunde im Jardin du Luxembourg. Dort fällt ihnen ein 50-Jähriger mit Schnauzbart in einem schäbigen Parka auf. Der schießt mit einer Flinte auf einen anderen Mann, der hinter einer Statue von Maria de‘ Medici steht und uriniert. Der Schuss fetzt der französischen Königin die Nase ab, aber der Pinkelnde wird nicht getroffen und flüchtet hinter die Statue von Valentina Visconti.

Ein Kinderchor stellt sich im vollendeten Halbkreis auf.

Der Leiter, ein zehnjähriger Junge, den Taktstock in der Hand, macht sich bereit, das Zeichen zu geben, damit das Konzert beginnt. Doch er muss noch ein Weilchen warten, da eine von zwei Ponys gezogene, rot-gelb gestrichene kleine Kalesche sich geräuschvoll nähert. Der Schnauzbärtige in seinem schäbigen alten Parka hebt seine Flinte. Der Kutscher, auch er ein Knirps, gehorcht und hält. Der Schnauzbärtige und der alte Mann mit Spitzbart steigen ein, setzen sich, grüßen zum letzten Mal die Zuschauer, die entzückt winken, während der Kinderchor anhebt, die Marseillaise zu singen.
Die kleine Kalesche fährt an und verlässt den Jardin du Luxembourg über eine breite Allee und verschwindet langsam in den Straßen von Paris.

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Den zentralen Satz des Romans „Das Fest der Bedeutungslosigkeit“ legt Milan Kundera der Romanfigur Ramon in den Mund:

„[…] Die Bedeutungslosigkeit, mein Freund, ist die Essenz unserer Existenz. Sie ist immer und überall bei uns. Sie ist sogar dort gegenwärtig, wo niemand sie sehen will: In den Gräueln, in den schlimmsten Kämpfen, im schlimmsten Unglück. Das erfordert oft Mut, sie unter so dramatischen Umständen zu erkennen und bei ihrem Namen zu nennen. Aber es geht nicht nur darum, sie zu erkennen, man muss sie lieben, die Bedeutungslosigkeit, man muss lernen, sie zu lieben. […] sie ist der Schlüssel zur Weisheit, sie ist der Schlüssel zur guten Laune …“

Das Leben ist sinnlos, und niemand kann mitbestimmen, ob er geboren werden soll. Die Desillusionierung lässt sich nur mit Humor und Gleichgültigkeit ertragen. Umso schlimmer, dass uns Scherz und Witz abhanden gekommen sind!

Milan Kundera befasst sich in seinem tragikomischen Roman „Das Fest der Bedeutungslosigkeit“ mit einem ernsten Thema, aber er tut es mit scheinbarer Leichtigkeit und verspielter Fabulierlaune. Die Figuren ebenso wie die Episoden wirken skizzenhaft und artifiziell. „Das Fest der Bedeutungslosigkeit“ beginnt und endet mit im Jardin du Luxembourg flanierenden Herren. Eine Handlung im engeren Sinne gibt es nicht. Charakteristisch für „Das Fest der Bedeutungslosigkeit“ ist eine Abendgesellschaft, bei der die Gäste eine unter der Decke schwebende kleine Feder beobachten, bis diese auf dem erhobenen Zeigefinger einer schönen, Kuchen essenden Frau landet.

An einigen Stellen tritt Milan Kundera als Autor hinter dem Vorhang hervor, und es wird deutlich, dass er die Romanfiguren wie ein Marionettenspieler bewegt. So ist es möglich, dass ein Faustschlag Stalins auf einen Tisch ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod Menschen in Paris aufschreckt.

Bemerkenswert sind auch altmodische Kapitelüberschriften wie zum Beispiel „Alain meditiert über den Nabel“, „Ramon geht im Jardin du Luxembourg spazieren“, „Beim nächsten Mal hält Charles seinen Freunden eine Vorlesung über Kalinin und über die Hauptstadt Preußens“, „Das erste Mal wurde er vom Mysterium des Nabels gepackt, als er seine Mutter zum letzten Mal sah“ …

Den Roman „Das Fest der Bedeutungslosigkeit“ von Milan Kundera gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Sebastian Koch (Regie: Roman Neumann, ISBN 978-3-8445-1779-8).

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2015
Textauszüge: © Carl Hanser Verlag

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Antonio Scurati - M. Der Sohn des Jahrhunderts
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M. Der Sohn des Jahrhunderts