Thomas Lehr : Nabokovs Katze

Nabokovs Katze
Nabokovs Katze Originalausgabe: Aufbau Verlag, Berlin 1999 ISBN: 3-351-02869-5, 511 Seiten Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 2001 ISBN: 3-7466-174-3, 511 Seiten Carl Hanser Verlag, München 2016 ISBN 978-3-446-25389-6, 549 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Als 15-Jähriger hält Georg Camille für seine feste Freundin, aber sie trennt sich von ihm, bevor er mehr tun konnte, als sie zu küssen und eine ihrer Brüste anzufassen. Das traumatische Erlebnis treibt Georg jahrzehntelang um. In der Jugend und als Student versucht er seine erotische Fixierung auf Camille durch den Verstand in den Griff zu bekommen, dann bricht er das Mathematikstudium ab und kreiert sich als Filmemacher seine eigene Welt ...
mehr erfahren

Kritik

Thomas Lehr spielt virtuos mit der Sprache. "Nabokovs Katze" funkelt vor geistreichen Einfällen und brillanten Formulierungen. Aber als Leser quält man sich auch immer wieder durch breit ausgewälzte Passagen.
mehr erfahren

Georg und sein Freund Hermann sind 15, als sie im Juli 1972 in ihrer Heimatstadt S. irgendwie in den Besitz von zwei LSD-Pillen gekommen sind. Weil Hermann Kopfschmerzen vorschützt, schluckt Georg beide Pillen – und erlebt daraufhin einen Höllentrip.

Es kommt aus mir, ich bilde mir das nur ein!, beschwor sich Georg. Er schloss die Haustür. Hermanns Schatten zog sich blitzschnell hinter dem rauen Glas zu einem Punkt zusammen, als sei die Nacht draußen wie eine Bildröhre zerstört worden. Bald würden Georgs Eltern von einem Besuch bei Freunden zurückkommen. Er musste die Unordnung im Wohnzimmer beseitigen. Quallenartige, tennisballgroße Gebilde stiegen vom Boden her auf, krochen über seinen Körper und zerplatzten funkensprühend an der Decke des Flurs.

Nachts, als seine Eltern längst wieder zu Hause sind und schlafen, weckt Georg sie in Todesangst und lässt sich ins Krankenhaus bringen.

Er hatte seine Kindheit und bisherige Jugend in der Illusion von Unsterblichkeit verlebt, seltsamerweise ganz unbeeindruckt von all den Jesus-Leichen am Kreuz, den blutigen Zeitungsmeldungen, den dahinscheidenden Western- und Krimihelden im Fernsehen.

Nach diesem traumatischen Erlebnis liest Georg Sartre, um den Sinn bzw. Unsinn der Existenz zu begreifen.

In dieser Zeit „geht“ er acht Monate lang mit einem gleichaltrigen Mädchen aus S. namens Camille. Das Verb „gehen“ ist hier wörtlich zu verstehen, denn die beiden unternehmen lange Spaziergänge. Georg versucht seiner Freundin immer wieder zu erklären, was er gelesen hat.

Noch zwei Jahrzehnte später litt Georg an einer zwanghaften Assoziation kaffeefleckiger weißer Plastiklöffelchen mit dem französischen Existenzialismus – hervorgerufen durch die exemplarischen Nöte des Tchibo-Stehcafés, in dem er Camille das Geworfensein und die Faktizität des Fürsich zu erörtern versuchte.

Als Camille ihn einmal fragt, was er werden wolle, antwortet Georg:

„Ich weiß nicht genau. Ich glaube, ich will ein besonderer Mensch werden.“

Camille verspricht Georg zwar, sie werde ihn nie verlassen, erlaubt ihm jedoch lange Zeit nicht, ihre Brüste zu berühren. Eines Tages arbeitet er sich endlich unter der Kleidung zu ihrer rechen Brust vor und lässt die Hand darauf liegen, während sie sich küssen. Nach einer Weile meint Camille: „Bei dir schläft man ja ein!“

Im Frühling 1973 diskutieren Georg und Camille in einem Eiscafé in S. über den Vietnam-Krieg. Als sie sich dann küssen, beschimpft der Besitzer sie wegen „Hurerei“ und wirft sie hinaus.

Beim nächsten Treffen beendet Camille die Beziehung mit Georg. Er fragt sich:

Welchen Sinn hat das Universum, und weshalb verlässt mich Camille, anstatt mit mir zu vögeln?

Zwei Tage später stößt er auf der Straße mit einer schätzungsweise 40-jährigen Frau zusammen und schrammt sich den rechten Unterarm auf. Die Frau, sie heißt Lisa, nimmt ihn mit in die Wohnung, holt dort einen Verbandskasten und verarztet ihn. Sie sei nur zu Besuch in S., erzählt sie, und die Wohnung gehöre ihrer jüngeren Schwester. Schließlich öffnet sie den Reißverschluss seiner Hose und nimmt seinen zunächst noch kindlich schlaffen Penis in den Mund. Dann zieht sie sich aus und sorgt dafür, dass er sie penetriert.

Nach einer Weile wurde ihm klar, dass er sich bewegen musste. Es fragte sich nur, wie (Auf und ab? Kreisförmig? Im Uhrzeigersinn?) und wie schnell.

Georg findet das ungeheuerlich. Seine Mutter ist 39, und Lisa mindestens genauso alt.

Er schwänzt die Schule und fälscht Atteste. Nach Jean-Paul Sartre und Martin Heidegger liest er Sigmund Freud.

Die meisten Schulfächer erschienen ihm so langweilig und seinem Genie abträglich, dass er unter der Schulbank bedeutsamere Bücher las. Seine Klassenarbeiten in Mathematik und in den Naturwissenschaften gab er bereits nach einigen Minuten ab, da er nicht sah, wie man sich in diesen Disziplinen als selbstständiger Kopf erweisen konnte. Infolge heftiger Auseinandersetzungen mit einigen Lehrern, die er als Menschen begriff, die eine akademische Ausbildung genossen hatten, ohne vom Geist auch nur gestreift worden zu sein, hagelte es Verweise und Arreste.

Wegen seiner ungenügenden schulischen Leistungen wird Georg nicht versetzt. Als das neue Schuljahr im Herbst 1973 beginnt, wechselt er in ein anderes Gymnasium in einer 20 Kilometer von S. entfernten, 150 Jahre alten Stadt.

In der Bücherei bestellt er Edmund Husserls gesammelte Werke, aber dann nimmt er doch nur die ersten beiden Bände mit und lässt die anderen 15 oder vielleicht sogar 20 Bände da. Er liest nach wie vor viel und weigert sich, mit den anderen Schülern Joints zu rauchen oder Rotwein aus Zwei-Liter-Flaschen zu trinken.

Im Park geriet er an einen französischen Soldaten, der von phänomenologischer Ontologie nicht die leiseste Ahnung hatte, aber Georg gerne küssen wollte. Georg stellte fest, dass seine Fähigkeit zur polymorphen Perversion schon von dem versuchten Zungenkuss eines Schwulen beschränkt wurde, und er stieß den glücklicherweise schmächtig gebauten jungen Soldaten von sich.

Sex hat Georg nun mit der Gymnasiastin Stella. Nachdem sie es mit Kondomen versucht hatten, es dabei jedoch zu unfreiwillig slapstickhaften Szenen gekommen war, gewöhnt Georg sich an, Stella nicht zu penetrieren, sondern nur seine Eichel an ihrer Vulva zu reiben und dann auf ihren Bauch zu ejakulieren. Erst nach fast einem Jahr, mit 16, bekommt Stella die Pille verschrieben, und sie legt sich für die Defloration zurecht. Obwohl Georg ihr so wenig wie möglich weh tun möchte, schreit sie vor Schmerzen auf, als er in sie einzudringen versucht. Es stellt sich heraus, dass ihre Vagina verengt ist und durch eine Operation erweitert werden muss.

Während Georg damit anfängt, seinen Zivildienst in einem Altersheim in S. abzuleisten, beginnt Camille ihr Biologie-Studium in einer 50 Kilometer entfernten Stadt. Sie kommt nur noch jedes zweite Wochenende nach S.

Ein dreiviertel Jahr nach dem Abbruch ihrer Beziehung beschließen Georg und Camille, mit den gemeinsamen Freunden Erika und Norbert nach Berlin zu fahren. Camille sagt im letzten Augenblick ab, aber die drei anderen fahren los. In Berlin wohnen sie in der WG eines Bekannten von Camille. Dort lernt Georg die blonde Medizinstudentin Kristina kennen. Eines Abends beabsichtigen sie alle, sich im Kino „Barry Lyndon“ anzuschauen. Kristina behauptet dann aber, noch lernen zu müssen, und Georg versteht den Wink: Er bleibt ebenfalls da – und geht mit Kristina ins Bett. Dass er mit Stella zusammen ist und Kristina einen Assistenzarzt als festen Freund hat, hindert sie nicht daran.

Zu Stellas 17. Geburtstag schenkt Georg ihr 1974 „Das andere Geschlecht von Simone de Beauvoir.

Im Dezember 1975 feiert Georg mit Stella, seinen Freunden Hermann und Jürgen und ein paar weiteren Schülern die Vollendung eines 23 Minuten langen Super-8-Films mit dem Titel „Die Olympiade der Ideologien“. Stella und Georg schrieben das Drehbuch, Georg und Hermann führten Regie, Hermann war darüber hinaus für die Kameraführung und den Schnitt zuständig. Während der Party trifft Georg im Flur auf Jürgens Mutter. Sie klammert sich wie eine Ertrinkende an ihn, „während ihre Hände ihn schnell und seltsam systematisch abtasteten und ihm zumute war, als erginge eine Flughafenkontrolle über ihn“.

Nachdem Stella einen Scientology-Kurs in München besucht hat, trennt sie sich 1976 von Georg. Drei Jahre später wird er von ihrem Suizidversuch erfahren, und Mitte der Neunzigerjahre wird ihm seine Mutter schreiben, sie habe die 37-Jährige in S. getroffen. Stella lebe schon lange mit ihrem Mann und den Kindern auf einem Bauernhof im Elsass.

Norbert nimmt Georg 1977 mit zu einem Besuch bei seiner Freundin Erika, die inzwischen im Schwarzwald wohnt. Während Norbert in München Geologie studiert, beabsichtigt Erika, nach Hamburg zu ziehen und dort Psychologie zu belegen. Später wird Georg erfahren, dass Erika in Hamburg eine Abtreibung hinter sich hat und sich nicht zwischen zwei Liebhabern entscheiden kann.

Georg studiert in Berlin Mathematik. Von 1979 an lebt er mit der angehenden Architektin Maria zusammen, aber sie haben sich darauf geeinigt, dass ihre Beziehung sexuell nicht exklusiv ist. Georg schläft also zwischendurch auch weiterhin mit Kristina.

Im Frühjahr 1983 besucht Georg seinen Freund Hermann und dessen Lebensgefährtin Rike in Amsterdam, wo Hermann Psychologie studiert, weil seine Abiturnoten nicht für einen Studienplatz in Deutschland gereicht hatten. Aus Amsterdam ruft Georg Camille an, die inzwischen in K. studiert und kündigt seinen Besuch an. Dann kehrt er nach Berlin zurück, nimmt von dort einen anderen Zug nach K., denn einen Führerschein besitzt er nicht, und wird von Camille am Bahnhof abgeholt.

Camille hat einen acht Jahre älteren Freund, der sich gerade auf seine Habilitation vorbereitet. Georgs Besuch verläuft in einer verkrampften Atmosphäre.

Von K. fährt Georg weiter nach S. Dort geht er in das Eiscafé, aus dem er und Camille geworfen wurden. Brigitte, die den Schulbesuch kurz vor dem Abitur abgebrochen hatte und das Café vor drei Jahren von ihren Eltern übernahm, erkennt Georg wieder. Als Jugendliche hatten sie eine Affäre. Inzwischen ist Brigitte allein erziehende Mutter einer Tochter; der Vater des Kindes machte sich aus dem Staub. Georg erzählt ihr, er betreibe sein Mathematikstudium nur noch nebenbei, eigentlich schreibe er Drehbücher und wolle Filme machen. Sie schlafen noch einmal miteinander, bevor Georg nach Berlin zurückfährt.

Seit zwei Jahren schreibt er an einem Drehbuch über Chandrasekkars Reise von Indien nach England. Um möglichst viel über das Filmemachen zu lernen, beteiligt Georg sich an Kurzfilmprojekten. Und mit dem Geld, das er als Komparse verdient, bezahlt er entsprechende Seminare. 1984 verschickt er 20 Kopien des Drehbuchs „Die Reise nach England“. Aber statt einer Zusage erhält er nur eine Einladung von einem Fernsehredakteur in Köln, der ihm davon abrät, als Erstes gleich einen abendfüllenden Kinofilm anzustreben.

Georg trennt sich von Maria. Seine neue Partnerin ist die Chemikerin Judith. In ihrer Fachsprache bezeichnet sie die Beziehung als „schwache Bindung“. Nach ihrer ersten gemeinsamen Nacht schlägt sie vor, dem Drehbuch über seinen kurzen frustrierenden Besuch bei Camille in K. den Titel „Nabokovs Katze“ zu geben. Georg wird nie erfahren, was sie damit meint.

Er geht einer weiteren Filmidee nach: „Cantors letzte Jahre“. Mathematische und metaphysische Gedanken sollen in Kamerabilder umgesetzt werden. Thorsten Maier, der die Kamera übernehmen soll, malt sich Kamerafahrten auf einer zum Möbiusband gedrehten Schiene aus und denkt sich Variationen zu Grafiken von M. C. Escher aus. Außerdem kauft er sich das Buch „Gödel, Escher, Bach. Ein Endloses Geflochtenes Band“ von Douglas R. Hofstadter.

Die Ärztin Kristina, mit der Georg nach wie vor hin und wieder schläft, leidet darunter, dass sie sich in einen ihrer Patienten, einen Cellisten der Berliner Philharmoniker, verliebt hat.

1986 hat Georg 15 000 D-Mark für das Filmprojekt „Die Reise nach England“ gespart. 20 000 Mark erhält er aus Filmfördermitteln, und Thorsten Maier treibt weitere 35 000 Mark auf. Georgs Freundin Lore, eine Deutschlehrerin, übernimmt die Versorgung des Filmteams. Hermann, der inzwischen in Berlin promovierte, macht als Regie-Assistent mit. Karl Herfeld ist der Produzent. Alle sind mit voller Begeisterung dabei.

Dennoch erforderte die Arbeit das Überredungsvermögen eines Versicherungsvertreters, das Charisma eines Sektenführers, die fürsorglichen und nutritiven Tugenden der Mutter einer kinderreichen Familie. Am Morgen des ersten Drehtages taumelte Georg gleich nach der ersten Tasse Kaffee ins Badezimmer. Danach hatte er keine Zeit mehr, sich zu erbrechen.

Nach sechs Wochen Dreharbeit verschwindet Georg einen Monat lang mit einer 60 Jahre alten Cutterin einem Schneideraum. Dann ist der abendfüllende Film fertig.

Eine erstaunliche Vorsicht (oder Klugheit) hatte ihn auch davon abgehalten, mit dem 70 000-Mark-Budget Robert und Anna zu realisieren; das Thema lag ihm zu sehr am Herzen, um es durch mäßige Schauspieler, schlechte Ausstattung und die eigene, noch sehr unsichere Hand zu verderben.

Um sich von den Strapazen zu erholen, will Georg 1988 ein paar Sommertage bei seinen Eltern in S. verbringen. Wie 1983 auch, fährt er über K. und besucht Camille. Ob sie inzwischen kurz vor der Promotion steht oder bereits damit fertig ist, weiß er nicht. Sie legt ihm ihren Schlafsack auf das Sofa im Zimmer ihres Mitbewohners Siegfried. Im Dunkeln glaubt Georg, ihr Liebesgestöhne zu hören. Weil er das nicht erträgt, verbringt er die restlichen Stunden der Nacht im Garten. Aber am Morgen stellt er fest, dass er sich getäuscht hat.

In S. redet Georg mit seinem Vater. Der 60-jährige Elektroingenieur ist noch immer enttäuscht, weil Georg sein Studium abgebrochen hat und kein Wissenschaftler wird.

Bei der Rückfahrt kommt Georg mit einer Frau namens Klara ins Gespräch, die ihm gegenüber sitzt.

Judith ärgert sich über seine unangekündigte tagelange Abwesenheit, ist aber glücklich, ihn wiederzusehen – bis er ihr eröffnet, dass er mit einer anderen Frau zusammenleben wolle. Auch Klara trennt sich von ihrem Partner. Einen Monat später heiraten Klara und Georg.

Georg sitzt mit Klara, der Mathematik- und Englischlehrerin Verena und Hermanns Freundin Beatrix, einer Psychologin, in einem Café. Am Nebentisch glaubt er Camille zu sehen und gewinnt den Eindruck, dass sie ihn auch bemerkt, aber sie nehmen keinen Kontakt miteinander auf. Als er nach Hause kommt, schreibt er „Die Lust der Anderen“ auf ein Blatt Papier. Es ist der Titel eines neuen Drehbuchs.

Auch über ein Sequel zu „Die Reise nach England“ denkt Georg nach. Dabei schwebt ihm ein Film über den indischen Mathematiker Srinivasa Ramanujan vor.

Die Innenaufnahmen für „Die Lust der Anderen“ entstehen in den Bavaria-Studios bei München. Es folgen zehn Drehtage in Rom.

1994 trifft Georg zufällig Monika aus S. wieder. Sie erzählt ihm, sie habe von Erika gehört, dass Camille inzwischen verheiratet sei und zwei Kinder habe.

Georg fällt ein, dass Camilles Gesicht indianische Züge aufweist.

„Indianer – ich muss Indianer sehen.“

Kurz entschlossen bucht der 37-Jährige einen Last-Minute-Flug von Berlin nach Mexico City. Neben ihm sitzt eine amerikanische Ethnopsychologin, die einen Lehrauftrag an der Columbia University in New York und einen weiteren in Kalifornien hat. Sie heißt Mary. Da sie einige Jahre in Berlin und Wien lebte, spricht sie gut Deutsch. In Mexico City teilen sie sich zunächst ein Taxi und verabreden sich dann mehrmals. Mary erzählt, sie habe zwei Ehen hinter sich. Erst nach einiger Zeit gehen sie in Marys Hotelzimmer zum ersten Mal miteinander ins Bett.

Während Mary in Los Angeles zu tun hat, lässt Georg sich mit mexikanischen Straßenmädchen ein. Eines von ihnen ist blind, und dieMutter kassiert das Geld.

Sieben Monate lang bleibt Georg in Mexiko. Klara lässt sich von ihm scheiden.

Georg kennt eine Seite aus ihrem Tagebuch auswendig:

Hoffnungslos mit G. Immer nur seine Filme. Muss mich endlich aufraffen, es ihm ins Gesicht schreien: Ich bin kein Automat! Anschaltbar, abschaltbar. Eine eigene Wohnung suchen. Männersuche! Mein Leben muss endlich wieder spannend werden. Erotik! Verführung! G. schreibt über eine Jugendliche – weil er seit Jahren kalt und leer ist. Er ist der Automat! Die Kunstmaschine. Vollkommen schizoid.

Mary nimmt Georg mit zu einer Frauenkonferenz und fährt mit ihm in von der Ejército Zapatista de Liberación Nacional beherrschte Gebiete. Ein Bus, mit dem sie unterwegs sind, kippt über die Böschung hinunter, aber niemand wird ernsthaft verletzt.

Anschließend an den Mexiko-Aufenthalt nimmt Mary ihren deutschen Liebhaber mit in ihre Wohnung in Manhattan.

Er will nicht mehr filmen, weiß aber nicht, was er stattdessen machen soll.

Als Camille so alt ist, wie Lisa damals bei seinem ersten Koitus war, besucht Georg sie in Heidelberg. Dr. Camille Sesemann-Graf ist inzwischen Professorin oder wird es in Kürze. Von ihrem Mann hat sie sich getrennt.

Drei Monate lang schreibt Georg an einer E-Mail, die er dann Mary von Japan aus schickt. Darin berichtet er über seinen letzten Besuch bei Camille in Heidelberg, als er zum ersten und einzigen Mal mit seiner Jugendfreundin im Bett war.

Natürlich ist dies auch nichts weiter als eine weitere Frau, in die ich gerade glücklich hineingeraten bin. […] und Camilles nasser Schoß ist nur, ist zu meinem ungläubigen, doch bis zur Wurzel dringenden Glück ein Schlitz in ihrem Fleisch, sacht parfümiert, mit leisen Nebentönen von Urin und Moschus, gefüllt mit dem göttlichen Schaum der Aphrodite. […] Ich spanne meine Bauchmuskeln an und kann doch nichts mehr gegen dieses befürchtete, blöde, sich freudig schüttelnde Hundeglück in ihrem Schoß unternehmen, außer entschuldigend und flehend ihren Kopf zu umfassen und an mich zu pressen.

Mary, die seit Dezember 1995 von ihrem Ehemann Manfred geschieden ist, beklagt sich in ihrer Antwort über einen lästigen Verehrer („Frank will ständig an meine Titten“) und gesteht, dass sie es lieber mit Dieter treibe. Außerdem schreibt sie:

Ich habe keine Lust, auf Deinen Ton einzugehen, von dem man nie weiß, ob es sich um einen Gebetstext handelt oder um Pornografie.

Solltest Du mich tatsächlich erfunden haben, dann ist es Dir nicht so gut gelungen, wie ich es mir hätte wünschen können.

– – –

Im Dezember 1994 unterhält Georg sich in Manhattan mit Hermann.

„Ich muss das Ende erst noch erfunden“, sagt Georg […] „Dabei weiß ich nicht einmal den Anfang.“
„Erfinde den doch auch“, schlägt Hermann vor. „Oder fang dort an, wo du gerade bist.“

Georg zieht es vor, die Geschichte im Dezember 1995 – also in der Zukunft – in Heidelberg enden zu lassen.

Hier sollte die Geschichte wie folgt enden: Exit without saving? (Y)es, (N)no or (A)bort.

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Georg wurde Ende 1957 in S. geboren. In dem Roman „Nabokovs Katze“ von Thomas Lehr verfolgen wir seinen Werdegang vom 15. Lebensjahr an bis in die Mitte der Neunzigerjahre. Als Jugendlicher versucht er, das Dasein durch die Lektüre von Sartre, Heidegger und Freud zu begreifen, mit dem Verstand also. Dazu passt, dass er Mathematik studiert.

„Ich war Mathematiker. Ich glaube an den Big Bang, an die Kameralinse, an elaborierten Sex und analytische Philosophie – nicht an den Großen Kojoten.“

Aber als Georg einsieht, dass er das Universum – und vor allem seine obsessive erotische Fixierung auf Camille – rational nicht in den Griff bekommt, bricht er das Studium ab und schafft sich mit Filmen seine eigene Welt.

Dementsprechend erzählt Thomas Lehr einige Passagen aus der Sichtweise eines Drehbuchautors, und es bleibt unklar, was in „Nabokovs Katze“ real sein soll und was Georg sich nur ausdenkt. Camille existiert vielleicht nur in Georgs Fantasie. Immerhin lautet der erste Satz des Romans:

Die Geschichte der Erfindung Camilles könnte in der Badewanne beginnen oder in einem Bordell in Mexico City, wo es zum Äußersten kommt. Auch eine Intensivstation der Zukunft wäre als Ausgangspunkt vorstellbar […]

Und im ersten – paradoxerweise mit „Vorläufiges Ende“ überschriebenen – Kapitel lesen wir:

Camille entspringt der Fantasie, die zum Überleben nötig erscheint und als Dämon wiederkehrt, um den Träumer zu zerstören.

Georg hat dennoch überlebt, wiederum mit Hilfe der Fantasie. Es kommt darauf an, den nächsten Traum zu spinnen, bevor der letzte endet.

Camille war die schlimmste Gärtnerin für den Zeitgarten der untoten Geliebten gewesen!

Ich denke, jeder bemüht sich, eine Lebensgeschichte zu realisieren, die auf eine bestimmte Weise einen Sinn ergibt. Man wünscht sich, dass das Leben aufgeht. Nicht unbedingt wie eine Gleichung, aber doch ganz ähnlich.

Auf dem Höhepunkt seiner Karriere als Drehbuchautor und Filmregisseur gerät Georg in eine Midlife Crisis und Schaffenskrise.

Erotische und sexuelle Fantasievorstellungen gibt es in dem Entwicklungsroman „Nabokovs Katze“ zuhauf. Georg ist sieben Jahre lang (von 1988 bis 1995) mit Klara verheiratet. Auch sonst mangelt es ihm nicht an Frauen im Bett. Nur Camille, die er als 15-Jähriger acht Monate lang für seine feste Freundin hält, beendet die Beziehung, bevor er mehr tun konnte, als ihr philosophische Vorträge zu halten, sie zu küssen und eine ihrer Brüste anzufassen. Das traumatische Erlebnis treibt Georg jahrzehntelang um, bis Mitte der Neunzigerjahre, als sie endlich einmal mit ihm schläft.

Von den Nebenfiguren in „Nabokovs Katze“ erfahren wir kaum mehr als die Namen; sie sind auf die Interaktion mit dem intellektuellen Ego- und Erotomanen Georg reduziert und bleiben schemenhaft. Aber es ist auch kaum möglich, sich mit der Hauptfigur zu identifizieren. Dafür sind sie und der Roman zu verkopft.

Thomas Lehr spielt virtuos mit der Sprache. „Nabokovs Katze“ funkelt vor geistreichen Einfällen und brillanten Formulierungen. Aber als Leser quält man sich auch immer wieder durch breit ausgewälzte Passagen.

Warum Thomas Lehr den Titel „Nabokovs Katze“ gewählt hat, erfahren wir nicht. Einer der Filme des Protagonisten heißt so. Georg hat damit den Vorschlag seiner Geliebten Judith aufgenommen – und nie herausgefunden, was sie damit meinte.

Einfacher ist es, in Georgs Geburtsort S. Speyer zu erkennen, den Ort, an dem auch Thomas Lehr 1957 geboren wurde.

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2013
Textauszüge: © Aufbau Verlag

Deborah Levy - Black Vodka
Die unter dem Titel "Black Vodka" zusammengefassten Kurzgeschichten von Deborah Levy handeln von einsamen Menschen, die zwar Sex haben, anderen jedoch auch dadurch nicht wirklich näher kommen. In jeder der Kurzgeschichten geschieht etwas Irritierendes bzw. Surreales.
Black Vodka

 

(Startseite)

 

Nobelpreis für Literatur

 

Literaturagenturen

 

Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon einen Monat, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte. Aus familiären Gründen reduziere ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik.