Andreï Makine : Das französische Testament

Das französische Testament
Originalausgabe: Le Testament Français Verlag Mercure de France, Paris 1995 Das französische Testament Übersetzung: Holger Fock, Sabine Müller Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1997 Diana Verlag, München 2008 ISBN: 978-3-453-35264-3, 334 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

In seinem Roman "Das französische Testament" erzählt Andreï Makine in der Ich-Form von einem russischen Schüler, der in den Sommerferien seine in Paris geborene Großmutter Charlotte besucht, die es nach dem Ersten Weltkrieg nach Russland verschlagen hatte. Von ihr erfährt er viel über Frankreich und wird davon so geprägt, dass er vorübergehend glaubt, sich entscheiden zu müssen, ob er Russe oder Franzose sein möchte. Mit 25 verlässt er Russland, zieht nach Paris und wird Schriftsteller ...
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Kritik

"Das französische Testament" ist ein ruhiger, poetischer Roman mit einer Fülle einprägsamer Bilder und ergreifender Miniaturen, nur wenigen freudigen und vielen traurigen Passagen. Beim Verweben der Elemente beweist Andreï Makine ein sicheres Gespür für den richtigen Rhythmus.
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Der Ich-Erzähler Aljoscha und seine zwei Jahre ältere Schwester wachsen in einer für Ausländer gesperrten Millionenstadt an der Wolga auf. Die Sommerferien verbringen sie jedes Jahr bei ihrer Großmutter Charlotte Lemonnier in Saranza, einer Stadt am Rand der russischen Steppe.

Charlotte unterhält sich zwar mit den Nachbarinnen, aber sie setzt sich nie zu ihnen auf die Bank. Sie ist keine von ihnen, keine Babuschka, sondern wurde am 22. Juli 1903 in Frankreich geboren. Und wenn sie abends mit den Kindern auf dem Balkon sitzt, erzählt sie ihnen von Paris.

Aljoscha ist zehn Jahr alt, als ihm bei seiner Großmutter ein Foto auffällt, auf dem eine ihm unbekannte junge Frau abgebildet ist.

Ich erblickte es, als ich aus reiner Neugier einen großen Umschlag öffnete, der zwischen der letzten Seite [eines Fotoalbums] und dem Einband herausgerutscht war […] Eine junge Frau, deren Kleidung sich auf eigenartige Weise von der Eleganz der Leute unterschied, die auf den anderen Fotos zu sehen waren. Sie trug eine weite, wattierte Jacke in schmutzigem Grau und eine Tschapka mit heruntergeklappten Ohrenschützern. Sie hatte sich mit einem Baby ablichten lassen, das sie, eingemummt in eine Wolldecke, an die Brust drückte.
„Wie hat sie es nur geschafft“, fragte ich mich, „sich bei diesen Männern und Frauen in Frack und Abendrobe einzuschleichen?“ […] Sie schien aus einer anderen Zeit, aus einer anderen Welt, unerklärlich. In ihrer Aufmachung, die heutzutage nur noch Frauen tragen, die im Winter auf den Straßen den Schnee schippen, schien sie ein Eindringling in unserer Ahnengeschichte zu sein … (Seite 13f)

Als seine Großmutter den Raum betritt, fragt er sie: „Wer ist diese Frau?“ Statt die Frage zu beantworten, macht Charlotte ihn auf einen ungewöhnlich großen Totenkopf-Schwärmer aufmerksam. Bei genauerem Hinsehen stellt er fest, dass es sich um zwei Schmetterlinge handelt. Er hält sie für siamesische Zwillinge, fängt sie staunend ein, und als er sie in die Luft wirft, trennen sich die beiden. Das Foto vergisst er darüber.

Weil die Großmutter einmal erwähnte, dass Neuilly-sur-Seine in ihrer Kindheit noch ein Dorf gewesen sei, stellt Aljoscha sich den Pariser Vorort als russisches Dorf vor. Paris wird für ihn zu einem märchenhaften Atlantis, in dem die Ereignisse, von denen Charlotte erzählt, gleichzeitig stattfinden: drei Abgeordnete fahren während der Überschwemmung (Anfang 1910) im Boot zur Sitzung der Nationalversammlung, der französische Staatspräsident Félix Faure begrüßt den russischen Zaren Nikolaus II. und dessen Gemahlin Alexandra in der Bahnhofshalle der Gare du Ranelagh, und der russische Zar legt den Grundstein für die Seine-Brücke Alexandre III. (1896; nicht 1886, wie es im Buch auf Seite 40 heißt).

Aljoscha stöbert in einem großen, mit alten französischen Zeitungsartikeln gefüllten Koffer, den die Großmutter unter dem Bett aufbewahrt. Dabei findet er einen Bericht über den von der Bevölkerung bejubelten Sturz des Zaren Nikolaus II. und über dessen Ermordung. Als er in der Schule von dem glanzvollen Besuch des Zaren in Paris schwärmt, weist ihn der Lehrer zurecht: Nikolaus II. habe am 9. Januar 1905 auf friedliche Demonstranten schießen und ein Blutbad anrichten lassen. Aljoscha bringt die beiden verschiedenen Bilder nicht zusammen, kann sich nicht vorstellen, dass der Besucher in Paris und „Nikolaus der Blutige“ ein und dieselbe Person waren.

Tatsächlich stand mir beim Aussprechen des russischen Wortes Zar ein grausamer Tyrann vor Augen, während das französische Wort „tsar“ erfüllt war von Sonne, Rauschen und Wind, vom Glanz der Lüster, vom Schimmer nackter Frauenschultern und von vermischten Düften […] (Seite 61)

Vor dem Ersten Weltkrieg kam Charlotte mit ihren Eltern nach Bojarsk in Sibirien, wo ihr Vater Norbert Lemonnier als Arzt praktizierte. Er war sechsundzwanzig Jahre älter als seine Ehefrau Albertine. Nach seinem Tod reiste Albertine Lemonnier noch zwei- oder dreimal mit Charlotte nach Paris, aber sie kehrte stets in ihre Wahlheimat zurück, so auch im Juli 1914. Diesmal ließ sie ihre elfjährige Tochter allerdings in Paris zurück.

In der zum Lazarett umfunktionierten Schule sah Charlotte zum ersten Mal einen nackten Mann, einen blutigen und schwer verwundeten Soldaten.

Nach dem Krieg, 1921, schloss sie sich einer Abordnung des Roten Kreuzes an, um ihrer Mutter nachreisen zu können. An der Wolga stieß sie auf Menschen, die durch Kannibalismus überlebt hatten. Sie beobachtete einen Prahm, den die Bauern mit langen Stangen vom Ufer fernhielten, bis die klagenden Typhuskranken auf dem schwimmenden Friedhof verhungert waren. In Moskau trennte sie sich von ihrer Gruppe und fuhr allein weiter. Unterwegs wurde der Zug überfallen. Die Banditen ermordeten den Zugführer, aber Charlotte blieb wie durch ein Wunder unbehelligt. 1922 traf sie bei ihrer Mutter in Bojarsk ein.

Um die Genehmigung für Albertines Ausreise zu bekommen, suchte sie den Sekretär des neuen Parteiführers von Bojarsk auf.

Mit ungläubigem Staunen stellte Charlotte fest, dass die Erwiderungen des Funktionärs wie ein seltsam verformtes Echo ihrer Fragen an ihn klangen. Sie erzählte vom französischen Hilfswerk, und ein knapper Vortrag über die Ziele des westlichen Imperialismus unter dem Deckmantel der bürgerlichen Menschenliebe hallte zurück. Sie erwähnte ihren Wunsch, nach Moskau zurückzukehren, um … Sein Echo fiel ihr ins Wort: Interventionistische Kräfte aus dem Ausland und der Klassenfeind im Innern waren dabei, den Aufbau der jungen Sowjetrepublik zu untergraben … Nachdem die Unterhaltung sich auf diese Weise eine Viertelstunde hingezogen hatte, hätte Charlotte am liebsten geschrien: „Ich will weg hier! Sonst nichts!“ Doch sie war in der absurden Logik des Gesprächs gefangen. (Seite 86f)

Schließlich wurde der Sekretär wütend und drohte, sie als Spionin hinter dem „Scheißhaus im Hof erschießen“ zu lassen. Da begriff Charlotte, dass in Russland eine neue Ordnung angebrochen war und eine neue Sprache gesprochen wurde.

Im Winter wären Albertine und Charlotte verhungert, wenn sie nicht ein halb totes Zigeunerkind bei sich aufgenommen hätten. Um es am Leben zu halten, bettelte Charlotte auf dem Markt, wühlte in der Mülltonne neben der Parteikantine und entlud Eisenbahnwaggons für einen Laib Brot. Auf diese Weise überlebten auch Albertine und Charlotte die Hungersnot. Im Frühjahr wurde das Mädchen von der Mutter oder Schwester wortlos abgeholt.

Albertine und Charlotte verließen Bojarsk und baten in einem Dorf einen wortkargen Kulaken, sie als Tagelöhnerinnen zu beschäftigen. Er stellte klar, dass er ihnen nichts bezahlen würde, und sie erklärten sich bereit, für Essen und Unterkunft zu arbeiten. Als sie im Herbst weiterzogen, gab er ihnen überraschend großzügig Lebensmittel mit.

Zwei Jahre später starb Albertine.

Im folgenden Frühjahr heiratete Charlotte – Charlotta Norbertowna, wie man sie in Russland nannte – einen Volksrichter, der aus einem Dorf am Ufer des Weißen Meeres stammte. Drei Monate nach der Hochzeit wurde Fjodor nach Buchara versetzt, ans andere Ende der Sowjetunion.

Aljoscha hört den Erwachsenen zu, wenn diese sich in der Küche unterhalten. Unauffällig hält er sich im Hintergrund, bis er bemerkt und ins Bett geschickt wird.

Einzelheiten, die kaum angesprochen worden waren, dehnten sich in meinem Kopf und bildeten ein geheimes Universum. Andere Begebenheiten, denen die Erwachsenen große Aufmerksamkeit schenkten, beachtete ich dagegen nicht. (Seite 96)

Einmal hört er, wie erzählt wird, dass sein Urgroßvater Norbert Lemonnier einen Demonstrationszug von Arbeitern warnte, nachdem er von einem Patienten erfahren hatte, dass die Polizei die Demonstranten an einer Straßenkreuzung mit Maschinengewehren erwartete. Wieso bewahrte ein Arzt Arbeiter davor, in einen Hinterhalt zu geraten? Das versteht er nicht.

Häufig fragte ich mich, warum dieser „Bourgeois“, dieser Privilegierte, so gehandelt hatte. Wir waren gewohnt, die Welt in Schwarzweiß zu sehen. Es gab Reiche und Arme, Ausbeuter und Ausgebeutete, kurz: Klassenfeinde und Gerechte. Die Tat von Charlottes Vaters verwirrte mich. Aus der Masse, die so praktisch in gute und schlechte Menschen aufgeteilt war, tauchte plötzlich der Mensch mit seiner unberechenbaren Freiheit auf. (Seite 99)

Die Erwachsenen sprechen viel von Charlotte, denn sie erlebte entscheidende Augenblicke der Zeitgeschichte.

Sie hatte unter dem Zaren gelebt und die stalinistischen Säuberungen überstanden, sie hatte den Krieg mitgemacht und war Zeuge des Sturzes so vieler Halbgötter gewesen. Vor dem Hintergrund des blutigsten aller Jahrhunderte in der Geschichte des Reiches gewann Charlottes Leben in ihren Augen epische Ausmaße. (Seite 122)

Fjodor wurde verhaftet, als er gerade als Weihnachtsmann vor seinem zwölfjährigen Sohn Sergej und seiner Tochter stand. Man hielt ihn für einen Volksfeind, weil er mit einer Ausländerin verheiratet war, die noch dazu aus einer bourgeoisen Familie stammte. Aber die Polizei konnte beim besten Willen nicht behaupten, dass Fjodors Familie etwas verheimlichte: Charlotte besaß ganz offiziell einen französischen Pass, und die Kinder wuchsen zweisprachig auf. Der Spionage-Vorwurf war nicht zu halten. Trotzdem wurde Fjodor in eine Stadt an der polnischen Grenze versetzt. Von dort fuhr er für zwei Tage nach Moskau, um eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu erwirken – doch in der Nacht, bevor er zurückkommen wollte, griffen die Deutschen die UdSSR an, und Charlotte wartete vergeblich auf ihn. Sie ging mit den Kindern zum Bahnhof, aber von dem Gebäude stand nur noch eine Ruine, und der letzte planmäßige Zug nach Osten war gerade abgefahren. Wie viele andere Menschen auch, kletterte Charlotte mit den Kindern in einen Güterzug. In Minsk sahen sie den planmäßigen Zug, genauer: die Wracks der bei einem Luftangriff zerfetzten Waggons. Als Charlotte den Kindern etwas Wärmeres zum Anziehen und ein paar Kekse geben wollte, stellte sie fest, dass sie in der Aufregung statt des Koffers mit Kleidung und Proviant den mit den französischen Zeitungsausschnitten mitgenommen hatte.

Im Krieg pflegte sie Verwundete.

Häufig begleitete Charlotte den Arzt zum Bahnhof, um die Waggons voller schwer verwundeter Soldaten in Empfang zu nehmen. Manchmal sah sie auf dem gegenüberliegenden Gleis noch einen Zug, voll besetzt mit Soldaten, die man gerade einberufen hatte und die in entgegengesetzter Richtung an die Front unterwegs waren. (Seite 134)

Einem Soldaten mussten unzählige Holzsplitter aus dem Bein entfernt werden. Ein Granatsplitter hatte ihn unterhalb des Knies getroffen und einen im Stiefelschaft steckenden Holzlöffel zertrümmert. Ein Verwundeter klagte darüber, dass er das Jucken an seinem eingegipsten Bein nicht länger aushalte. Der Chefarzt, der jeden Tag zwölf Stunden lang operierte, hielt den Mann für einen Jammerlappen, aber Charlotte brachte ihn dazu, ein Loch in den Gips zu schneiden – und zog dann mit der Pinzette weiße Würmer aus dem Fleisch des Patienten. Einen anderen Soldaten ertappte Charlotte zufällig dabei, wie er seine Wunde mit einem Schwamm bearbeitete, damit sie nicht heilte und sich seine Rückkehr an die Front verzögerte. Der Arzt wollte ihn melden. Aber Charlotte verhinderte, dass der Mann vors Kriegsgericht kam, indem sie den Arzt davon abbrachte und überredete, die Wunde eingipsen zu lassen.

Nach dem Krieg war Charlotte allein, denn Sergej besuchte eine Militärschule und seine Schwester eine höhere Schule in der nächsten Stadt.

Sie schöpfte wieder Hoffnung, als sie anderthalb Jahre nach der ersten Todesmeldung eine zweite erhielt. Fjodor konnte nicht zweimal gefallen sein, also war er vielleicht noch am Leben, dachte sie. (Seite 141)

Im September 1945, nach der Niederlage Japans, kehrte Fjodor als menschliches Wrack aus dem Krieg zurück. Er starb innerhalb eines Jahres.

Als der inzwischen dreizehn Jahre alte Aljoscha und seine Schwester wieder die Sommerferien bei der Großmutter verbringen, erzählt diese, der französische Staatspräsident Félix Faure sei in den Armen seiner Geliebten Marguerite Steinheil gestorben. Diese Vorstellung wühlt den pubertierenden Jungen auf. Charlotte spricht auch von Caroline Otero, „la belle Otéro“ (eigentlich: Augustine Caroline Otero Iglesias), der schönen Mätresse von zahlreichen Industriellen, Fürsten und Königen, die es durch deren Geschenke zu sagenhaftem Reichtum brachte. Sie erklärt den Kindern, dass das Essen für die Franzosen keine schlichte Nahrungsaufnahme, sondern eine kunstvolle Inszenierung darstelle. Außerdem berichtet sie von Zeitungsausträgern in Paris. Dass jemand durch die Straßen läuft und „Die Prawda!“ ruft, übersteigt Aljoschas Vorstellungsvermögen.

Um die Wahrheit zu sagen, in unseren Köpfen herrschte ein heilloses Durcheinander: der Louvre, der Cid an der Comédie-Française, die Barrikaden, die Schusswechsel in den Katakomben, die Abgeordneten im Boot, ein Komet und die Lüster, die einer nach dem anderen von der Decke fielen, dazu Ströme von Wein, der letzte Kuss des Präsidenten … Und die Frösche, die aus ihrem Winterschlaf gerissen wurden! Wir hatten es mit einem Volk zu tun, das eine unglaubliche Vielfalt an Gefühlen, Meinungen und Ansichten kannte, und auf ebenso viele Arten und Weisen konnte es sich ausdrücken, schöpferisch sein und lieben. (Seite 115)

Nach der Rückkehr aus Saranza liest Aljoscha in der Schulbücherei alles über Frankreich. In seiner Klasse gilt er wegen seiner besonderen Interessen als Außenseiter, genauso wie Paschka, ein fauler, ungepflegter und ungehobelter Mitschüler, der zwei Jahre älter als die anderen in der Klasse ist. Einmal erzählt Aljoscha ihm den Inhalt eines Gedichts von Victor Hugo – und wundert sich über Paschkas Betroffenheit. Da beginnt er zu begreifen, welche Wirkung Dichtung haben kann.

Mit vierzehn fährt Aljoscha zum ersten Mal ohne seine Schwester, die inzwischen in Moskau studiert, zur Großmutter nach Saranza. Das Zusammensein mit Charlotte in der abendlichen Stille kommt ihm nun albern vor. Statt sich Märchen erzählen zu lassen, prahlt er mit seinem Wissen über Frankreich. Während er früher glaubte, die vom Balkon aus zu hörende Schmalspurbahn fahre in ferne Länder, weiß er jetzt, dass sie nur auf der zwei oder drei Kilometer langen Strecke zwischen der Ziegelei und dem Bahnhof von Saranza verkehrt.

Sein Vater Nikolai gehört zu einer Brigade, die Hochspannungsleitungen verlegt. Seine Mutter hatte zwar die Aufnahmeprüfung für die Universität bestanden, durfte jedoch nicht studieren, weil sie in einem Fragebogen als Staatsangehörigkeit der Mutter „russisch“ angegeben hatte. Sie wurde daraufhin Übersetzerin in einer Fabrik. In diesem Herbst muss sie ins Krankenhaus. Aljoscha bleibt bei seinem Vater. Erst nachdem seine Schwester und seine Großmutter angereist sind, erfährt er, dass seine Mutter tot ist.

Eine seit zwanzig Jahren verwitwete ältere Schwester seines Vaters kommt mit ihren beiden Söhnen, um den Haushalt zu führen. Der Vater der beiden Jungen besucht sie hin und wieder. Aljoscha lauscht den Gesprächen der beiden. Dimitritsch und seine Tante reden beispielsweise über Berija, einem der mächtigsten Politiker unter Stalin. Es heißt, er lasse sich in einer Limousine mit getönten Scheiben durch die Straßen von Moskau fahren, bis ihm eine Passantin gefalle. Die werde dann festgenommen, zu ihm gebracht und von ihm vergewaltigt. Von den Opfern höre man nie wieder etwas. Die Tante und ihr Liebhaber reden auch über Charlotte. Als sie noch eine junge Frau war, wurde sie von sechs oder sieben Aufständischen vergewaltigt. Einer schoss auf sie, aber die Kugel riss ihr nur die Kopfhaut auf und blieb im Sand neben ihr stecken. Der letzte der Vergewaltiger mühte sich noch auf ihr ab und hätte ihr wahrscheinlich nach dem Orgasmus die Kehle durchgeschnitten, wenn nicht seine ungeduldigen Kumpane losgeritten wären, sodass er in den Sattel springen musste. Weil die Vorstellungen Aljoscha erregen, ohrfeigt er sich, als er im Bett liegt.

Bei paramilitärischen Wettkämpfen himmelt er eine Fünfzehnjährige an, die ebenso flink wie geschmeidig mit Waffen umgeht. Nach ihrem Vorbild macht es ihm Spaß, mit einer Kalaschnikow zu schießen. Das sowjetische Leben begeistert ihn plötzlich, und als er in die Schule zurückkommt, gibt er sich nicht länger als Außenseiter, sondern schließt sich den Mitschülern an, die sich nun gern Geschichten von ihm erzählen lassen.

Paschka nimmt ihn eines Abends mit zu einem am Wolga-Ufer vertäuten Lastkahn. Durch ein Bullauge sieht Aljoscha das gelangweilte Gesicht einer Frau, die sich auf den Ellbogen abstützt und rhythmisch nickt. Durch ein anderes Bullauge blickt er auf ihr nacktes Gesäß und einen Soldaten, der die Hose heruntergelassen hat und sich an der Prostituierten zu schaffen macht.

Bald darauf lernt Aljoscha ein nicht besonders attraktives und leicht betrunkenes Mädchen kennen, das an einem Treffpunkt der Jugendlichen übriggeblieben ist, als die anderen paarweise in den Gebüschen verschwanden. Er geht mit ihr zum Flussufer, und sie legen sich auf die morschen Planken einer ausrangierten Fähre.

Die Lust flammte auf wie ein Streichholz im Eiswind – ein Feuer, an dem man sich gerade noch die Finger verbrennen konnte, bevor es verlosch und einen blinden Fleck in den Augen zurückließ. (Seite 236)

Seine Partnerin lässt alles stumm über sich ergehen und bleibt dann mit geöffneter Bluse und hochgeschobenem Rock liegen. Aljoscha verabscheut sie, weil ihn ihre spitzen kleinen Brüste schon eine Sekunde nach dem Orgasmus nicht mehr erregen und ihr Körper ihm nutzlos vorkommt.

Charlotte erzählt ihm von ihrem Aufenthalt in Moskau zwei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Unvorbereitet traf sie auf Kriegsverletzte ohne Arme und Beine, sogenannte Samowars. Erschrocken hielt sie einem von ihnen einen Geldschein hin. Er konnte ihn allerdings nicht ergreifen, denn er hatte zwar noch eine Hand, aber keine Finger. Die Banknote fiel in die fahrbare Kiste, mit der er sich fortbewegte. Ein anderer Krüppel, der zwar keine Beine mehr hatte, aber noch beide Hände, raubte sie ihm. Der Bestohlene verfolgte den Dieb.

Unter dem ohrenbetäubenden Rattern der Rollen raste der Einarmige mit seiner Kiste das abschüssige Sträßchen herunter […] Und aus seinem zu einer scheußlichen Fratze verzerrten Mund ragte ein Messer, das er mit den Zähnen festhielt. (Seite 251)

Die Krüppel kämpften auf Leben und Tod, bis die Miliz eingriff.

Während der letzten Ferien, die Aljoscha bei seiner Großmutter verbringt, kommt die vier- oder fünfundsechzig Jahre alte Frau auf ihre Vergewaltigung zu sprechen und erzählt ihm, wie sie damals überlebte. Sie folgte einer angeschossenen Saiga-Antilope, bis diese zusammenbrach und verendete. Am anderen Morgen erklomm sie die Düne, vor der das tote Tier lag – und erblickte einen See. An dessen Ufer wurde Charlotte dann gefunden. Bei der Vergewaltigung war ein Kind gezeugt worden: ihr Sohn Sergej.

Aljoscha braucht sich nicht mehr zu entscheiden, ob er sich mehr als Russe oder mehr als Franzose fühlen soll; er akzeptiert beide Seiten an sich.

Bevor er Russland mit fünfundzwanzig verlässt, trifft er seine Großmutter noch einmal kurz.

Jetzt sitzt er in einem Café in Paris und erinnert sich, wie er vor zwanzig Jahren, nach seinen letzten Ferien in Saranza in einem russischen Bahnhofsrestaurant saß.

Weil der Ostblock zusammengebrochen ist, sind die Dissidentensendungen im Hörfunk, an denen er mitwirkte, überflüssig, und er verliert seinen Arbeitsplatz. Heimlich quartiert er sich in einer Grabkammer auf einem Friedhof ein. In der Nähe der Seine fällt ihm eine Markierung auf: „Hochwasser, Januar 1910“. Er kauft einen Notizblock und schreibt „Charlotte Lemonnier. Biografische Aufzeichnungen“. In die Grabkammer kehrt er nicht zurück.

Einige Zeit später entdeckt er in der Auslage einer Buchhandlung sein neues Buch.

Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.

Von seiner Großmutter hat er seit vielen Jahren nichts mehr gehört. Als er den russischen Geschäftsmann Alexej Bondartschenko kennenlernt, der sich im Ausland Alex Bond nennt, bittet er ihn, bei der Rückreise nach Moskau einen Umweg über Saranza zu machen und nach Charlotte zu sehen. Am Telefon berichtet Alex Bond schließlich, er habe sie nicht persönlich angetroffen, aber von einer Nachbarin erfahren, dass es ihr gut gehe.

Aljoscha nimmt sich vor, seine Großmutter nach Paris zu holen. Deshalb beantragt er einen französischen Pass. Er gibt sein kleines Zimmer auf, mietet eine größere Wohnung, die er sich eigentlich nicht leisten kann und richtet einen der Räume für Charlotte ein. Nach längerer Zeit wird sein Passantrag abgelehnt. Er legt Widerspruch ein.

Da erhält er eine Nachricht aus Russland: Seine Großmutter starb vor einem Jahr, kurz nachdem Alex Bond in Saranza gewesen war und er den Pass beantragt hatte. Ein Geschäftsmann namens Val Grig verabredet sich mit ihm in der Halle eines Luxushotels und übergibt ihm ein Päckchen mit zwanzig losen Blättern: „Sie hat Ihnen ein Testament hinterlassen.“ Charlotte erzählt vom Leben der Tochter eines Kulaken, Maria Stepanowna Dolina, die als junges Mädchen nach Westsibirien verbannt worden war. Nach dem Zweiten Weltkrieg warf man ihr Propaganda gegen die Kolchosen vor und sperrte sie in ein Lager. Wie andere Frauen auch, wurde sie dort immer wieder vergewaltigt und schließlich schwanger. Kurz vor der während des politischen Tauwetters verkündeten Amnestie geriet sie unter einen Traktor, kam dabei ums Leben und hinterließ einen zweieinhalb Jahre alten Sohn. Aus dem Päckchen zieht Aljoscha das Foto, das ihm als zehnjähriger Junge aufgefallen war, und er begreift, dass er darauf mit seiner Mutter abgebildet ist. Nach deren Tod hatte sich Charlotte seiner angenommen. Mit der in Frankreich geborenen Frau ist er gar nicht verwandt. Er ist Russe.

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In seinem Roman „Das französische Testament“ erzählt Andreï Makine in der Ich-Form von einem russischen Schüler, der in den Sommerferien seine in Paris geborene Großmutter Charlotte besucht, die es nach dem Ersten Weltkrieg nach Russland verschlagen hatte. Von ihr erfährt er viel über Frankreich und wird davon so geprägt, dass er vorübergehend glaubt, sich entscheiden zu müssen, ob er Russe oder Franzose sein möchte. Mit fünfundzwanzig verlässt er Russland, zieht nach Paris und wird Schriftsteller. Inzwischen akzeptiert er längst beide Seiten, das ungehobelte Russland und das Französische, das für Genuss und Raffinesse, Freiheit und Multioptionalität steht. Anfangs nimmt der Ich-Erzähler die Eindrücke als Kind auf; erst allmählich ordnet er sie wie ein Erwachsener. Diese persönliche Entwicklung vollzieht sich vor einem Panorama der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, vom Ende des Zarenreichs bis zum Zusammenbruch des Ostblocks.

Makine erzählt das mit einer bewunderungswürdigen Liebe und Behutsamkeit, er gleitet unmerklich von der Sicht des Kindes in die Erlebnisse Charlottes hinüber oder zurück, sodass sie eine untrennbare Einheit werden, ein unaufhaltsamer, lange nicht mehr erlebter, epischer Fluss, eine atmosphärische Dichte, die so gefangen nimmt, dass es nach dem letzten Buchstaben schwerfällt, sich aus diesem Bann zu lösen […]
Dabei geht es bei aller Zartheit und Delikatesse nicht betulich und verklärend zu, sondern das Buch strotzt von Ungeheuerlichkeiten […]
Andreï Makines „französisches Testament“ ist ein Erinnerungsbuch voll Ahnung und Gegenwart, ein Roman der Selbstfindung genauso wie Dokument eines grandiosen Frauenlebens. Es öffnet sich an jeder Stelle, weil dieser Autor auch die kleinste Episode mit der Intensität eines klaren Traumbilds zu erfüllen vermag. (Harald Eggebrecht, Süddeutsche Zeitung, 23. August 1997)

„Das französische Testament“ ist ein ruhiger, poetischer Roman mit einer Fülle von einprägsamen Bildern und ergreifenden Miniaturen, nur wenigen freudigen und vielen traurigen Passagen. Beim Verweben der Elemente beweist Andreï Makine ein sicheres Gespür für den richtigen Rhythmus.

Für „Das französische Testament“ wurde Andreï Makine 1995 mit den beiden bedeutendsten französischen Literaturpreisen ausgezeichnet, dem Prix Goncourt und dem Prix Médicis.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2010
Textauszüge: © Hoffmann und Campe Verlag, Wilhelm Heyne Verlag, Diana Verlag

Andreï Makine (Kurzbiografie / Bibliografie)
Andreï Makine: Die Frau vom Weißen Meer

Stephan Thome - Fliehkräfte
Stephan Thome erzählt konsequent aus der Perspektive des Protagonisten und wechselt dabei elegant zwischen den Zeitebenen. Die Sprache ist unaufgeregt, und "Fliehkräfte" besticht nicht zuletzt durch lebensnahe Dialoge.
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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.