Javier Marías : Dein Gesicht morgen

Dein Gesicht morgen
Originalausgaben: Tu rostro mañana 1 Fiebre y lanza (2002) 2 Baile y sueño (2004) 3 Veneno y sombra y adiós (2007) Verlag Alfaguara, Madrid Übersetzung: Elke Wehr, Luis Ruby Klett-Cotta, Stuttgart 2004 / 2006 / 2010 ISBN 3-608-93636-X, 488 Seiten ISBN 3-608-93715-3, 430 Seiten ISBN 978-3-608-93716-9, ca. 730 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der Spanier Jaime Deza arbeitet für eine Sondereinheit des britischen Geheimdienstes MI6. Seine Aufgabe ist es, Personen z. B. bei Vernehmungen zu beobachten und sie in Hinblick auf ihre Aufrichtigkeit und ihr späteres Verhalten einzuschätzen. Inhalt und Handlung spielen in "Dein Gesicht morgen" allerdings nur eine unwesentliche Rolle. Entscheidend ist die Form.
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Kritik

Javier Marías ist ein Klangvirtuose. "Dein Gesicht morgen" besteht wie ein Musikstück aus Themen, Wiederholungen, Variationen, Drehungen und Verschiebungen, weit ausgreifenden Figuren und Miniaturen.
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Javier Marías: Dein Gesicht morgen. 1 Fieber und Lanze

„Man sollte niemals etwas erzählen […]“ Mit diesen Worten beginnt der Spanier Jaime Deza – je nachdem, mit wem er gerade spricht, heißt er auch Javier, Jacopo, Giacomo, Juan, Jacques oder Jack – zu erzählen. („In Wirklichkeit sollte man niemals etwas erzählen„, heißt es noch einmal in „Tanz und Traum“, Seite 252.) Jaime war früher einmal als Lektor für spanische Literatur in Oxford tätig. Als seine Ehefrau Luisa sich von ihm trennte und ihn aufforderte, die gemeinsame Wohnung in Madrid zu verlassen, in der sie mit Sohn und Tochter zurückbleiben wollte, ging Jaime erneut nach England.

Da fand er heraus, dass sein früherer Mentor, der inzwischen emeritierte Oxford-Professor Sir Peter Wheeler, für den britischen Geheimdienst MI 6 arbeitete. Weil Jaime in der Lage war, vorherzusehen, wie eine bestimmte Person sich in der Zukunft verhalten wird, brachte Sir Peter ihn mit Bertram („Bertie“) Tupra zusammen, der für den MI6 eine Spezialeinheit leitete, für die Jaimes Begabung nützlich sein konnte. Er sollte Personen zum Beispiel bei Vernehmungen beobachten und sie in Hinblick auf ihre Aufrichtigkeit und ihr zu erwartendes Verhalten einschätzen.

Auf 488 Seiten erzählt Jaime nun von zwei Nächten, die er auf einer Gesellschaft von Sir Peter bzw. mit einer Frau und deren Hund im Regen verbringt.

Javier Marías: Dein Gesicht morgen. 2 Tanz und Traum

Wollte Gott, dass niemand uns jemals um etwas bittet oder auch nur fragt, weder um einen Rat noch um einen Gefallen oder ein Darlehen, nicht einmal um Aufmerksamkeit, wollte Gott, die anderen bäten uns nicht, ihnen zuzuhören, ihren jämmerlichen Problemen und ihren peinlichen Konflikten, die den unseren so sehr gleichen, ihren unbegreiflichen Zweifeln und ihren bloßen Geschichten, die so austauschbar und immer schon geschrieben sind (sie ist nicht sehr breit, die Skala dessen, was man versuchen kann zu erzählen), oder den früher einmal so genannten Nöten, wer hat sie nicht oder sucht andernfalls nicht nach ihnen, „das Unglück erfindet man“, zitiere ich oft für mich, und das Zitat ist wahr, wenn es Missgeschicke sind, die nicht von außen kommen und nicht objektiv unvermeidbar sind, keine Katastrophe, kein Unfall, kein Tod, kein Zusammenbruch, keine Entlassung, keine Seuche, keine Hungersnot oder unerbittliche Verfolgung desjenigen, der nichts getan hat, die Geschichte ist voll von ihnen, auch unsere, und ich meine damit diese unsere unvollendeten Zeiten (und es gibt sogar Entlassungen und Zusammenbrüche und Tode, die tatsächlich gesucht oder verdient oder tatsächlich erfunden sind). Wollte Gott, dass niemand zu uns kommt und „bitte“ sagt oder „sag mal“ […] (Seite 11)

Mit diesen eineinhalb Sätzen beginnt Javier Marías den zweiten Band („Tanz und Traum“) beziehungsweise das dritte Kapitel („Tanz“) seines dreibändigen Romans „Dein Gesicht morgen“.

Bertie Tupra beauftragt Jaime, ihn zu einer Verabredung mit dem italienischen Ehepaar Arturo und Flavia Manoia in eine Londoner Diskothek zu begleiten. Jaimes Aufgabe ist es, sich um Flavia zu kümmern, während sein Chef – der sich an diesem Abend „Mr Reresby“ nennt – mit Arturo Manoia, bei dem es sich um einen einflussreichen Diplomaten des Vatikans zu handeln scheint, ein Gespräch führen möchte.

Jaime tanzt mit Flavia Manoia und spürt, dass sich die Brüste der nicht mehr ganz jungen Dame „hart wie Kloben […] und spitz wie Pflöcke“ (Seite 84) anfühlen. Plötzlich sieht er Rafael („Rafita“) de la Garza, einen Attaché der spanischen Botschaft in London hereinkommen. Im Gegensatz zu seinem Vater, dem früheren spanischen Botschafter Don Pablo de la Garza, ist Rafita ein ungebildeter, prahlerischer und geschwätziger Frauenheld. An diesem Abend kommt er Jaime vor wie ein Zuhälter in der „Aufmachung eines Neger-Aspiranten“ (Seite 92). De la Garza bestaunt ungeniert die „Bollwerke“ (Seite 96) von Jaimes Tanzpartnerin, macht sich an Flavia heran und setzt sich mit ihr und seinen Freunden an einen Tisch, während Jaime zu „Mr Reresby“ und Arturo Manoia zurückkehrt, die ihn jedoch nicht weiter beachten.

Meine Unruhe wuchs: wegen De la Garza, der sich im verbalen Sturmangriff auf Flavia befand (ich vertraute darauf, dass er sich nicht zum taktilen oder digitalen verstieg), oder wegen Flavia, die ohne jedes Schutzschild war gegen die Pfeile, die dieser ordinäre und zugleich manierierte Einfallspinsel ihr ins Gesicht schleudern mochte: im Augenblick lachte sie (gutes oder schlechtes Zeichen, je nach dem Auge des Betrachters), ich versuchte, die beiden nicht länger als ein paar Sekunden aus dem Blick zu verlieren […] (Seite 110f)

Unvermittel sind die beiden verschwunden. „Mr Reresby“ fordert Jaime auf, in den Toiletten nachzusehen und Mrs Manoia unverzüglich zurückzuholen: „Bring her back. Don’t linger or delay.“ (Seite 135)

Ich stand auf und rückte meinen Stuhl ein wenig zur Seite, um entschlossener zu wirken. (Seite 128) – Und so stand ich auf und rückte meinen Stuhl ein wenig zur Seite. (Seite 134)

Jaime sieht zunächst in der Herren-, dann in der Behindertentoilette nach. Dort sind Mrs Manoia und De la Garza nicht. In der Damentoilette gibt er sich als jemand vom Sicherheitsdienst aus, inspiziert den Waschraum und späht danach unter den Türen hindurch in die acht besetzten Kabinen.

Ich warf einen Rundblick unter die amputierten Türen, zwei faltige Hosen und sechs Röcke oder eher nicht – die Röcke dürften hochgeschoben sein und waren nicht zu sehen –, vielmehr sechs Beinpaare mit heruntergelassenen Strümpfen und Slips (ein Tanga war darunter, und eine der Frauen trug keine Strümpfe, das war seltsam in England selbst im Sommer, bestimmt eine Ausländerin […] Flavias Beine schienen sich nicht unter den sechzehn zu befinden, die jünger waren, fast alle Füße sehr gut beschuht – das fand meine Anerkennung: sie waren festlich –, mir fielen die eleganten Stöckelschuhe der Frau auf, die keine Strümpfe trug oder sie vor dem Hinsetzen ausgezogen hatte, ebenso den Slip – nichts hing um ihre Knöchel […] (Seite 140ff)

Da fällt ihm ein, wie er einmal bei Mrs Berry einen winzigen Bluttropfen auf der Treppe entdeckte und überlegte, ob es sich um Menstruationsblut handeln konnte, vielleicht von einer Frau, die keine Unterwäsche trug. Zwei Tage später rief er Luisa in Madrid an und fragte sie, ob das „technisch und physiologisch“ möglich sei.

In der Damentoilette sind die Gesuchten auch nicht, aber als Jaime von dort zurückkommt, bemerkt er sie auf der Tanzfläche.

Sie befanden sich mitten auf der raschen Tanzfläche und tanzten wie Besessene, ein jeder, als riefe er nach einem Exorzisten […] (Seite 202)

Während „Mr Reresby“ Flavia Manoia zur Damentoilette begleitet, damit sie sich frisch machen und eine kleine Schramme im Gesicht überschminken kann, beauftragt er Jaime, mit De la Garza in der Behindertentoilette auf ihn zu warten.

Nach zehn Minuten kommt „Mr Reresby“ in die Behindertentoilette und übergibt De la Garza ein Koks-Briefchen. Der spanische Diplomat kniet sich neben eine der Klosettschüsseln, zieht auf dem Deckel mit seiner Platin-Kreditkarte eine Linie und rollt eine Fünf-Pfund-Note zusammen, um das Kokain zu schnupfen. Aber bevor er damit anfangen kann, zieht „Mr Reresby“ ein Schwert aus einem Futteral in seinem Mantel und holt zum Schlag aus. De la Garza hält seine Arme schützend über seinen Nacken, was so „nutzlos wie ein Regenschirm bei einem Unwetter auf See“ (Seite 292) ist. Unmittelbar, bevor die Klinge ins Fleisch gedrungen wäre, hält „Mr Reresby“ inne. Mit dem dritten Schlag trennt er De la Garza, der in seiner atavistischen Angst die Augen geschlossen hat und sich die Ohren zuhält, ein künstliches Haarteil ab. Dann nimmt er das Briefchen wieder an sich, klappt den Deckel und die Brille hoch, stößt De la Garzas mit dem Kopf in die Klosettschüssel und spült mehrmals. Als De la Garzas Handy klingelt, zertrümmert „Mr Reresby“ es an der Wand. Er reißt den Attaché hoch und schleudert ihn fünfmal gegen die metallischen Griffe.

Während sich De la Garza mit mehreren gebrochenen Rippen am Boden der Behindertentoilette krümmt, verlassen „Mr Reresby“, das Ehepaar Manoia und Jaime die Diskothek. „Mr Reresby“ fährt Mr und Mrs Manoia ins Hotel Ritz und lässt es sich nicht nehmen, seinen Mitarbeiter nach Hause zu bringen, aber dann überlegt er es sich anders und nimmt ihn mit zu seiner Wohnung, um ihm dort noch ein Video zu zeigen. Unterwegs maßregelt er Jaime, weil dieser ihn im Beisein von De la Garza mehrmals mit seinem richtigen Namen ansprach. Jaime wiederum denkt darüber nach, wieso er seinem Chef nicht in den Arm fiel, als er glaubte, dieser werde De la Garza köpfen.

Javier Marías: Dein Gesicht morgen. 3 Gift und Schatten und Abschied

Als Jaime Deza von seinem Einsatz für den MI6 in London nach Madrid zurückkehrt, wird er sich bewusst, dass niemand vor Gewalt und Verrat gefeit ist.

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Während Javier Marías sich im ersten Band seines Romans „Dein Gesicht morgen“ damit beschäftigt, was aus den verbalen Äußerungen einer Person gefolgert werden kann, dreht sich der zweite Band um die Unwägbarkeiten, die mit der Erfüllung einer Bitte oder eines Auftrags verbunden sind. Immer geht es um die Unergründlichkeit der menschlichen Psyche.

In beiden Bänden erinnert sich der Vater des Ich-Erzählers an den Spanischen Bürgerkrieg. In „Tanz und Traum“ berichtet er von einem spanischen Schriftsteller, der damit prahlte, wie er und andere Falangisten am 16. September 1936 in Ronda einen politischen Gegner, den Andalusier Emilio Marés, zu Tode hetzten. In „Fieber und Lanze“ erzählt er von einem jahrelangen Freund, der ihn an die Franco-Anhänger verriet, worauf er monatelang eingesperrt wurde.

Diese Geschichte, die meinem Vater [Julián Marías] passierte, vielmehr dem Vater des Erzählers im Roman, bildet einen der zentralen Punkte im Buch. Wie ist es möglich, dass einem nahe stehende Personen, Freunde, Ehefrauen, eine Frau, plötzlich wie unbekannt vorkommen, dass wir ihr Gesicht von morgen nicht kennen, wie es der Titel metaphorisch ausspricht. Mein Vater konnte im wirklichen Leben nicht voraussehen, dass ihn sein lange Jahre bester Freund verraten würde, bei der franquistischen Polizei anzeigen würde, am Ende des Bürgerkriegs. Der falsche Freund hat mit ihm Schluss gemacht. Mein Vater hätte erschossen werden können. Das war der Krieg. (Javier Marías)

Inhalt und Handlung spielen in „Dein Gesicht morgen“ nur eine unwesentliche Rolle. Entscheidend ist die Form. Da experimentiert Javier Marías mit einer extremen Dilatation der Zeit: Zwanzig Seiten lang bedroht Jaime Dezas Chef den spanischen Attaché Rafita de la Garza mit einem Schwert („Tanz und Traum“, S. 281 – 300), und die gesamte, sich innerhalb weniger Minuten abspielende Szene in der Behindertentoilette dehnt sich sogar auf hundert Seiten (S. 266 – 365). An action interessierte Leser werden sich dabei langweilen. Wer jedoch ein Gefühl für die Sprache hat, erlebt die elegante Wortkunst von Javier Marías wie ein Musikstück, mit Themen, Wiederholungen, Variationen, Drehungen und Verschiebungen, weit ausgreifenden Figuren und Miniaturen. Javier Marías ist ein Klangvirtuose.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2006 / 2009
Textauszüge: © J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.