Connie Palmen : Logbuch eines unbarmherzigen Jahres
Inhaltsangabe
Kritik
Der niederländische Politiker Hans van Mierlo stirbt am 11. März 2010 im Alter von 78 Jahren an einem Non-Hodgkin-Lymphom, das von den Immunsuppressiva ausgelöst wurde, die er seit einer Lebertransplantation am 21. Mai 2000 nehmen musste.
Seine 24 Jahre jüngere Witwe, die Schriftstellerin Connie Palmen, geht erst Wochen nach seinem Tod wieder auf die Straße. Freunde und Verwandte unternehmen lange Autofahrten mit ihr, um sie abzulenken.
Wann und warum haben wir in unserer Kultur das Lamentieren verboten? Wo sind die Klagelieder für die Toten? Wer schreibt die Elegien für die Väter, Mütter, Söhne und Töchter, Männer und Frauen? Seit wann und warum ist das Klagen, Jammern und Lamentieren eine verbotene Sprache?
Trauer macht schizophren. Wo ich gehe und stehe, habe ich einen Mann an meiner Seite, der nicht mehr ist.
Falling apart, dieser englische Ausdruck für das Zusammenbrechen, für einen Zustand des Wahnsinns, trifft den Kern dessen, was geschieht, wenn ein geliebter Mensch stirbt: Es ist ein Sturz ins Abgespaltensein. Weil etwas auseinandergerissen wird, das zusammengehört. […] Sobald das Wir nicht mehr da ist, bricht das Ich zusammen, zerfällt in Bruchstücke, zertrümmert, kaputt, durch nichts anderes zusammenzuhalten und zu definieren.
In den ersten Monaten nach seinem Tod litt ich vor allem darunter, dass ich ihn nie mehr sehen würde. Hier kommt etwas hinzu, hier rührt meine Trauer auch daher, dass ich nicht mehr von ihm gesehen werde. Es ist grotesk, einen Körper zu haben, wenn er nicht von ihm angesehen, berührt und liebkost wird.
Trauer bedient sich im Körper derselben Sprache wie Verliebtheit, da ist kein Unterschied. Die dummen Organe erzählen von Unruhe und Begierde, ohne eine Ahnung zu haben, dass das Verlangen nach einem Lebenden ein ganz anderes ist als das nach einem Toten.
Er ist der Einzige, der meinen Körper beruhigen könnte, und er ist tot.
Trauer ist Verliebtheit ohne Erlösung.In der Literatur über Trauer werden zwei Elemente unterschätzt: die Scham und das sexuelle Verlangen.
Am 28. April 2010 beginnt Connie Palmen mit Notizen, die sie schließlich im „Logbuch eines unbarmherzigen Jahres“ zusammenfasst.
Ich mache diese Notizen gegen den Abschied des Vergessens, denn ich ertrage keinen Abschied mehr. Schreiben kann man es nicht nennen. Man schreibt, wenn man eine Form gefunden hat, eine Struktur, die die Sätze miteinander verbindet, einen gedanklichen Rahmen, der sie zusammenhält, antreibt und lenkt. Diese zügellosen Notizen verdienen es nicht, Schreiben genannt zu werden.
Ich beginne allmählich Freude an diesem Schreiben zu haben, es bringt mir zumindest die Erinnerung an ein einst gekanntes Glück.
Das Trügerische am narrativen Versprechen von Tagebüchern, Logbüchern, Memoiren und Autobiografien ist, dass man meint, sie seien ehrlich, sie erzählten die Wahrheit. […] Das eigene Gedächtnis ist ein Geschichtenmacher mit einem selbst als Hauptfigur.
Connie Palmen reflektiert im „Logbuch eines unbarmherzigen Jahres“ über Liebe und Tod, Verlust und Trauer. In diesem Zusammenhang erwähnt sie eine Reihe von Büchern, die sie liest, darunter Roland Barthes: Tagebuch der Trauer, Simone de Beauvoir: „Ein sanfter Tod“, Sigmund Freud: „Trauer und Melancholie“, Kristien Hemmerechts: „Der Tod hat mir einen Antrag gemacht“, Anne Philipe: „Nur einen Seufzer lang“, Philip Roth: „Mein Leben als Sohn. Eine wahre Geschichte“, Cornelis Verhoeven: „Das Leidwesen. Betrachtungen über Trost und Kummer, Leben und Tod“. (Der Anhang enthält ein mehr als drei Seiten langes Literaturverzeichnis.) Ihre Notizen und Zitate aus anderen Texten folgen einander nicht chronologisch wie in einem Tagebuch, sondern Connie Palmen erinnert sich auch an frühere Ereignisse und versieht diese mit den entsprechenden Daten. Die erste Eintragung im Buch stammt vom 28. April 2010, die letzte Eintrag vom 11. September 2011, aber dazwischen finden wir auch Daten, die bis zum 14. Februar 1995 zurückreichen.
Damals, am 14. Februar 1995, war ihr erster Ehemann gestorben: Ischa Meijer. Ihm hatte sie das 1998 erschienene Buch „I. M.“ gewidmet („I. M. Ischa Meijer – In Margine, In Memoriam“, Übersetzung: Hanni Ehlers, Diogenes Verlag, Zürich 1999).
Connie Palmen erzählt, wie sie Hans van Mierlo am 1. November 1998 bei Cees Nooteboom und dessen Frau Simone Sassen kennenlernte. Sie erinnert sich, wie sie ihn am 26. Dezember 1998 zum Flughafen Schiphol brachte. Seine Tochter Marie, ihr Mann und die Kinder – die dreijährige Noor und die vier Monate alte Pien – flogen mit ihm nach Teneriffa. Connie Palmen kam am Neujahrstag nach.
Als der Politiker, Publizist und Soziologe Pim Fortuyn am 6. Mai 2002 in Hilversum von einem militanten Tierschützer ermordet wurde, schrieb Connie Palmen einen Essay mit dem Titel „Einen Narren ermordet man nicht“. Besonders nahe ging ihr die Ermordung des Filmregisseurs Theo van Gogh am 2. November 2004 in Amsterdam durch einen Islamisten, denn nach Ischa Meijers Tod war sie eng mit ihm befreundet gewesen.
Im Zentrum steht das Jahr 2010, ein annus horribilis, in dem nicht nur Hans van Mierlo starb.
Annus horribilis, eine beschämende, fast schon unglaubwürdige Häufung von Unglück. Älteste Tochter aggressiver Brustkrebs, jüngste Tochter gerade von einem Sohn entbunden und danach verraten und verlassen, bester Freund des Sohnes an ALS dahinsiechend, liebste Schwiegertochter Krebs, zwei Schwager tot, Bruder einer Freundin Krebs, eigener Bruder nur mühsam genesend nach schwerer Operation, präventiv, um schneller zu sein als der Krebs.
Am 18. Januar 2010 starb Elisabeth Maria Lampe-Soutberg, eine unter dem Pseudonym Bibeb bekannte Journalistin, die sowohl Hans van Mierlo als auch Connie Palmen interviewt hatte.
Auf den Tag genau einen Monat später starb Bob Smits van Waesberghe, der Ehemann von Hans van Mierlos Schwester Tuus.
Während Hans van Mierlo im Sterben lag, erholte sich Connie Palmens Bruder Jos im Amsterdam Medisch Centrum von einem medizinischen Eingriff.
Am 13. Mai starb Hans van Mierlos Schwager Simon Spaapen, der Ehemann seiner Schwester Oliviera, in einem Pflegeheim.
Der Künstler Harrie Martens, der Connie Palmen von ihrem 17. bis 22. Lebensjahr unter seine Fittiche genommen hatte, starb am 3. Juli.
Drei Tage später starb der Journalist und Schriftsteller Jan Blokker, der mit Hans van Mierlo und dessen zehn Jahre jüngerer Schwester Doll eng befreundet gewesen war.
Doll, die seit 42 Jahren in Rom gelebt hatte, erlag am nächsten Tag ihrem Lungenkrebs.
Anfang Oktober gab die Schauspielerin Olga Zuiderhoek Connie Palmen zu verstehen, dass diese nach der Beisetzung ihres am 23. Juli verstorbenen Lebensgefährten, des Jazz-Musikers Willem Breuker, zu viel getrunken und geweint, sich anderen Trauergästen an den Hals geworfen, aber auch gemeine Bemerkungen gemacht habe.
Kitty Mulisch rief Connie Palmen am 13. September an, während diese sich gerade in Vlissingen aufhielt. Zu diesem Zeitpunkt wusste Connie Palmen bereits, dass bei Kittys Ehemann, dem Schriftsteller Harry Mulisch, Krebs diagnostiziert worden war. Sie besuchte den Freund am 14. September im Erasmus Medisch Centrum in Rotterdam (dem ehemaligen Dijkzigt-Krankenhaus).
Am selben Tag starb in Zürich die Malerin Anna Keel, die Ehefrau des Verlegers Daniel Keel (Diogenes Verlag), der die deutschsprachigen Übersetzungen von Connie Palmens Büchern herausbrachte. Die niederländische Autorin hatte ihn und seine Frau 1992 kennengelernt und war eng mit dem Ehepaar befreundet.
Auch der Suizid des Sängers und Schauspielers Antonie Kamerling am 6. Oktober erschütterte Connie Palmen.
Am 30. Oktober starb Harry Mulisch. Connie Palmen hatte ihn kurz zuvor noch ein letztes Mal besucht.
Im halbdunklen Zimmer liegt Harry und stirbt den souveränen Tod, den er immer in sich hatte.
Connie Palmen erwähnt auch drei weitere Sterbefälle: Die Psychotherapeutin Kor Bedee, die Lebensgefährtin von Rini Dippel, starb am 20. November. Kurz darauf wurde Sander Jongergouw, ein Nachbar Connie Palmens in Amsterdam, dem sie regelmäßig in Het Koffiehuis begegnet war, tot in seiner Wohnung aufgefunden.
Nach einem Gespräch mit ihrem Verleger Mai Spijkers rief Connie Palmen den Grafiker Marten Jongema an, der seit 20 Jahren die Cover ihrer Bücher gestaltet hatte. Sie wusste, dass er an einer Amyloidose litt, aber er verabredete sich mit ihr für den 30. März 2011. An diesem Tag fühlte er sich allerdings zu krank, um sich mit ihr zu treffen. Er starb am 7. April.
Als letzten Todesfall führt Connie Palmen den des Witwers Daniel Keel am 13. September 2011 an.
Besonders ausgiebig beschäftigt sie sich mit der Krankheit und dem Sterben ihrer Stieftochter Marie, mit der sie ein sehr enges Verhältnis hatte. Dass Hans van Mierlos älteste Tochter ihr erstes Kind tot zur Welt gebracht hatte, war von Harry Mulisch in dem Roman „Die Prozedur“ aufgegriffen worden. Als Marie 1998 mit ihrem Vater und ihrer Familie nach Teneriffa flog (siehe oben), war sie als Folge einer Chemotherapie kahl. Aber sie überwand damals das Non-Hodgkin-Lymphom. Erst als ihr Vater ebenfalls wegen eines Non-Hodgkin-Lymphoms im Sterben lag, wurde erneut bei ihr Krebs diagnostiziert. Am 21. Juli 2010 nahmen die Ärzte ihr im Antoni-van-Leeuwenhoek-Hospital in Amsterdam beide Brüste ab. Connie Palmen besuchte sie eine Woche später. Ende des Jahres bestand für Marie keine Hoffnung mehr. Sie starb am 29. Juni 2011 im Alter von 45 Jahren.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Connie Palmen versucht, den Tod ihres zweiten Ehemanns nicht in einem Roman, sondern in Notizen zu verarbeiten, die sie unter dem Titel „Logbuch eines unbarmherzigen Jahres“ als Buch zusammenfasst. Dabei erweist sie sich als kluge und genaue Beobachterin. Immer wieder bringt sie eigene Erkenntnisse auf den Punkt.
Liebe ohne Abhängigkeit gibt es nicht.
Selbstverständlich handelt es sich bei „Logbuch eines unbarmherzigen Jahres“ um ein trauriges Buch, aber hin und wieder streut Connie Palmen auch eine schelmische Bemerkung ein.
So wie die Juden ein Steinchen auf der Grabeinfassung oder dem Grabstein zurücklassen, hinterlasse ich die Kippe der Zigarette, die ich bei jedem Besuch an seinem Grab rauche.
An mehreren Stellen geht sie unverblümt auf ihr Alkoholproblem ein.
Die Lektüre ist bewegend und regt zum Nachdenken an. Dennoch stellt sich die Frage, ob es sinnvoll war, das „Logbuch eines unbarmherzigen Jahres“ zu publizieren? Hans van Mierlo hätte vielleicht nichts dagegen gehabt, denn über ihn schreibt Connie Palmen wenig und schon gar nichts Kompromittierendes. Aber der Inhalt des Buches ist doch sehr persönlich. Connie Palmen erwähnt viele Freunde und Bekannte, die wir nicht kennen. (Im Anhang werden einige von ihnen kurz vorgestellt.) Weil kaum etwas von ihnen wissen, interessieren sie uns nicht weiter – während sie für die Autorin wichtig sind.
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2013
Textauszüge: © Diogenes Verlag
Connie Palmen (kurze Biografie)