Richard Powers : Drei Bauern auf dem Weg zum Tanz

Drei Bauern auf dem Weg zum Tanz
Originalausgabe: Three Farmers on Their Way to a Dance Beech Tree Books, William Morrow & Co, 1985 Drei Bauern auf dem Weg zum Tanz Übersetzung: S. Fischer Verlag, Frankfurt/M 2011 ISBN: 978-3-10-059026-8, 463 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Dem Ich-Erzähler P. fällt in Detroit eine zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstandene Fotografie auf. Sie zeigt "drei Bauern auf dem Weg zum Tanz". P. beginnt mit Nachforschungen. Ebenso obsessiv sucht Peter Mays, der Protagonist in einem zweiten Handlungsstrang, nach einer rothaarigen Frau, die er bei einer Parade sah. Auf der dritten Erzählebene verfolgen wir die teilweise grotesken Biografien der drei auf dem Foto porträtierten Männer ...
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Kritik

Richard Powers wechselt in "Drei Bauern auf dem Weg zum Tanz" von Kapitel zu Kapitel zwischen drei Handlungssträngen. Zwei spielen in den 80-er Jahren, einer von 1914 bis 1945. Essayistische Einschübe erschweren die Lektüre des überambitionierten Romans.
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Am 1. Mai 1914 sind drei junge Männer im Westerwald in Sonntagsanzügen und mit Spazierstöcken unterwegs zu einer Kirmes.

Adolphe Schreck ist mit knapp 19 Jahren der älteste der drei. Seine verwitwete, zum zweiten Mal verheiratete Mutter und sein Stiefvater haben einen Bauernhof am Rand des Westerwalds. Dort quartierten sich vor Kurzem auch Peter Kinder und Hubert Minuit ein. Woher der Analphabet Hubert stammt, der drei Jahre jünger ist als Adolphe, weiß niemand. Jedenfalls verleugnen er und Peter gegenüber den Behörden ihre Herkunft, denn sie wollen die deutsche Staatsangehörigkeit bekommen. Bei Peter Kinder – er ist eineinhalb Jahre jünger als Adolphe Schreck – handelt es sich um einen Niederländer aus Maastricht. Seine französische Mutter lebt in der Provinz Süd-Limburg. Sie hatte Adolphes Vater Jan Kinder dazu verführt, seine Ehefrau zu betrügen. Peter und Adolphe sind also Halbbrüder. Ihr gemeinsamer Vater starb im Januar 1914.

Auf ihrem Weg zur Mai-Kirmes werden die drei Männer von einem Radfahrer angehalten, der sich als Fotograf vorstellt und eine Freilichtaufnahme von ihnen machen möchte. Adolphe, Peter und Hubert lassen sich dazu überreden, auf der matschigen Straße zu posieren: Hubert links, Peter in der Mitte und Adolphe rechts.

Nachdem der Fotograf mit der belichteten Platte Richtung Köln weitergefahren ist, setzen die drei Männer ihren Weg zum Kirmesplatz fort. Dort amüsiert sich auch Alicia Heinecke. Einige Wochen später täuscht sie Adolphe eine Schwangerschaft vor und bringt ihn dazu, sie kurz vor seinem 19. Geburtstag zu heiraten. Bald darauf wird er zum Kriegsdienst einberufen.

Peter und Hubert kehren mit ihren Fahrrädern nach Maastricht zurück.

Dort besucht Peter nicht nur seine Mutter, sondern auch die Witwe eines Tabakhändlers, deren Sohn zwei Jahre älter ist als er. Weil die überaus dicke Frau gern Sex mit Peter hat, aber ihrem verstorbenen Ehemann treu bleiben möchte, sorgt sie dafür, dass ihr Liebhaber sich in einer ihrer Hautfalten statt in ihrer Vagina abreagiert.

Hubert treibt es mit der 14 Jahre alten nymphomanischen Polizistentochter Wies.

Ende September 1914, zwei Monate nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, tauchen in dem Tabakladen in Maastricht zwei Deutsche auf, die nach dem „falschen Schreck“ fragen. Peter sagt ihnen, sie könnten Hubert Schreck bei seinem Freund Willy Hoven finden, einem Arbeiter in Rente. Aber die beiden Deutschen suchen nicht nach Hubert, sondern nach ihm, und als sie herausfinden, dass er der Mann im Tabakladen ist, kehren sie zurück, um ihn zwangsweise für den Kriegsdienst zu rekrutieren. Peter ist allerdings nicht da, und die Witwe hält die Männer hin. Bevor die beiden am nächsten Tag erneut in den Tabakladen kommen, geht Peter ins Gasthaus auf der anderen Straßenseite, um dort abwarten, bis sie wieder fort sind. Dabei kommt er mit dem Journalisten Theo Langerson ins Gespräch. Der klagt darüber, dass er für seine Zeitung als Kriegskorrespondent an die Front müsse. Als er hört, dass Peter von den Deutschen gesucht wird, schlägt er ihm einen für sich und ihn nützlichen Identitätstausch vor: Peter soll als angeblicher Reporter nach Frankreich reisen und auf diese Weise dem Kriegsdienst entgehen. Theo will in Maastricht bleiben und anhand der Nachrichten, die Peter ihm schicken wird, Berichte für seine Zeitung schreiben.

Hubert schießt mit der Schrotflinte seines Freundes Willy Hoven auf belgische Ingenieure, die er für eine Vorhut der deutschen Armee hält. Er verfehlt die Belgier zwar, aber einer von ihnen wird in der Leistengegend von hochgeschleuderten Steinen getroffen. Die Männer verteidigen sich und erschießen Hubert. Mit einem Teil des Sprengstoffes, den sie für die Sprengung einer Brücke bei sich haben, heben sie ein Grab aus und beerdigen Hubert mit Fahrrad und Schrotflinte.

Auf der Suche nach ihrem Liebhaber kommt Wies in den Tabakladen, trifft dort auf Peter und treibt es mit ihm.

Bald darauf reist Peter Kinder bzw. Schreck als Theo Langerson durch Belgien und weiter nach Paris. Monatelang schickt er dem echten Theo Langerson Notizen nach Maastricht, die dieser für seine Zeitungsberichte nutzt. Als der echte Theo schließlich aufgrund eines der Briefe glaubt, Peter wolle sich nicht länger an die Abmachung halten und ihn auffliegen lassen, setzt er sich aus Maastricht ab und mietet ein Boot, mit dem er nach Schweden segeln will. Ein deutsches U-Boot fischt ihn am 1. Mai 1915 auf. Sechs Tage später versenkt das U-Boot mit ihm an Bord vor der irischen Südküste die „Lusitania“.

Adolphe kämpft inzwischen in der deutschen Armee. Als der Rekrut sich bei seinem Oberst meldet und behauptet, mit einer seiner Zahnfüllungen einen russischen Funkspruch aufgefangen zu haben, schickt der Offizier ihn zum Nervenarzt.

Alicia ist inzwischen tatsächlich schwanger. Ihr Sohn erhält den Namen Adolphe.

Als sich der Autobauer Henry Ford im Winter 1915/16 an Bord des „Friedensschiffes“ „Oscar II“ auf den Weg nach Skandinavien macht, um für eine Beendigung des Krieges zu werben, reist Peter Kinder alias Theo Langerson nach Norwegen. Henry Fords Pressekonferenz in Oslo läuft aus dem Ruder. Danach spricht Ford mit dem Reporter Theo Langerson und sagt ihm einen Ford T zu. Als die Pressefotografen Henry Ford und seinen jungen Begleiter ablichten, stellt der Unternehmer seinen Begleiter vor: „Meine Herren, ein Begünstigter.“

Tatsächlich erhält Peter alias Theo einige Zeit später über das Pariser Pressebüro Post aus Detroit. Er schickt Wies den Brief vom 1. Mai 1916 zusammen mit dem auf den Tag genau zwei Jahre zuvor im Westerwald entstandenen Foto. Wies hat inzwischen einen Sohn: Peter Hubertus Schreck. Er wurde 1914 gezeugt, aber von wem, das weiß auch die Mutter nicht so genau. Nachdem sie Henry Fords Brief gelesen und Peter auf dem Foto erkannt hat, nennt sie ihren Sohn Langerson statt Schreck.

Peter Hubertus Langerson schwängert 1934 im Alter von 19 Jahren eine Frau und heiratet sie daraufhin. Sie bekommen eine Tochter.

1940 besetzen die Deutschen die Niederlande. Peter Hubertus Langerson wird von einem Nachbarn als Deutscher denunziert und daraufhin in den Westerwald deportiert, wo er ein Lager leiten muss.

Eines Tages kommt ein Leutnant in das Lager, der sich als sein Cousin zu erkennen gibt. Sein Vater Adolphe Schreck sei tot, sagt er, und die verwitwete Mutter Alicia lebe auf einem Bauernhof im Westerwald. Peter Hubertus leidet von Geburt an unter einer Nervenkrankheit. Adolphe, der sich vor dem Zweiten Weltkrieg zum Veterinär ausbilden ließ, öffnet seinem Cousin ohne Betäubung mit einem Taschenmesser den Schädel und operiert ihn.

Wegen des verbotenen Eingriffs wird Adolphe zum Tod verurteilt. Ein Sadist lässt ihn zunächst lebendig begraben, dann ausschaufeln und wiederbeleben. Anschließend muss Adolphe sich hinknien, und während eine in seinen Nacken gehaltene Pistole abgedrückt wird, kracht ein Schuss einer anderen Waffe. Erst als Adolphe einen Tritt verspürt, begreift er, dass er nicht tot ist und die Pistole in seinem Nacken ungeladen war.

Peter Hubertus wird zur Strafe für den unerlaubten Eingriff zu Einzelhaft verurteilt. Die Kopfwunde bleibt unversorgt. Als die Alliierten im Frühjahr 1945 in den Ardennen vorrücken, verschleppen die Deutschen Peter Hubertus in ein Todeslager.

Nach dem Krieg reüssiert Adolphe Schreck als Geschäftsmann. Peter Hubertus Langerson kehrt in die Niederlande zurück und wird dort wegen Kollaboration mit den Nazis einen halben Tag lang eingesperrt. Seine von den Deutschen ermordete Mutter Wies hinterließ ihm Henry Fords Brief an Theo Langerson und das am 1. Mai 1914 im Westerwald aufgenommene Foto von drei Männern auf dem Weg zum Tanz.

Wies‘ Tochter heiratet einen nach dem Zweiten Weltkrieg reich gewordenen Niederländer. In den Sechzigerjahren wandert das kinderlose Paar in die USA aus und nimmt Peter Hubertus Langerson mit. Der gibt bei der Einreise den Namen Peter Hubertus Kinder Schreck Langerson van Maastricht an. Daraus macht der Beamte „Peter Mays“.

Peter Mays gleichnamigem Enkel fährt in den Achtzigerjahren zur Jobsuche von Chicago über Detroit nach Boston. Bei seinem Zwischenstopp besucht er das Detroit Institute of Arts. Dort beeindruckt ihn das 1932 von Diego Rivera gemalte Fresko, und in der Ausstellung zieht ihn die Fotografie von drei jungen Männern an: Bauern aus dem Westerwald auf dem Weg zum Tanz, 1914. Als Fotograf ist der Österreicher August Zander angegeben. Über das Bild vergisst Peter Mays seinen Anschlusszug nach Boston.

Obsessiv versucht er, mehr über das Foto herauszufinden.

Auf einer Weihnachtsfeier erzählt er Mrs Schreck von dem Bild. Die 80-jährige, aus Deutschalnd stammende Putzfrau sagt, sie kenne den Namen des Fotografen ebenso wie den Ort und das Datum der Aufnahme. Weil sie Peter Mays auch noch von Henry Fords Friedensreise nach Europa erzählen möchte, besucht er sie. In ihrer Wohnung sieht er das gerahmte Bild der drei Bauern. Mrs Schreck deutet auf den Mann mit der Zigarette im Mundwinkel. Das sei Hubert Schreck, sagt sie. Der fiel im Ersten Weltkrieg, bevor sie heiraten konnten. Das Bild entdeckte sie, als sie nach dem Krieg mit ihrer Schwester unterwegs war und ein Rad fahrender Fotograf sie zu einer Aufnahme überreden wollte. Um seine Seriosität zu beweisen, zeigte er ihnen einige seiner Aufnahmen, und darunter war auch die von den drei Männern. Sie war so davon angetan, dass sie ihm das Foto abkaufte. Später wanderte sie in die USA aus, und auf Ellis Island nahm sie den Namen Schreck an. Mrs Schreck gesteht schließlich, dass sie nicht wisse, wer die drei Männer sind und sich nur an die Vorstellung klammere, der linke sei Hubert Schreck.

Der Fotograf hieß nicht Zander, sondern August Sander, und er war kein Österreicher, sondern ein in Österreich tätiger Deutscher, 1876 in Herdorf im Westerwald geboren. Er besuchte nur die Grundschule – wie Henry Ford. Mit 13 begann er als Haldenjunge zu malochen. Als er einem für die Bergwerksgesellschaft arbeitenden Fotografen assistierte, faszinierte ihn dieses Medium. Später nahm er sich eine alle Gesellschafts- und Berufsgruppen erfassende Fotosammlung vor, die den Titel „Menschen des 20. Jahrhunderts“ tragen sollte. Als ersten Band veröffentlichte er 1929 „Antlitz unserer Zeit“, aber das Buch wurde 1934 auf Anweisung der Reichskammer der Bildenden Künste verbrannt.

1984 steht Peter Mays an einem Fenster und schaut sich die Veterans Day Parade an. Dabei fällt ihm eine rothaarige Klarinettistin auf. Der Anblick lässt ihn nicht mehr los. Sie wiederzufinden, wird zur Obsession für den jungen Mann, der für die Fachzeitschrift Micro Monthly News arbeitet. Seine Chefin Caroline Brink schickt ihn schließlich zu ihrem Lebensgefährten Leonard („Lenny“) Bullock, und mit dessen Hilfe findet Peter Mays heraus, dass es sich bei der Rothaarigen um die Schauspielerin Kimberley Greene handelt.

Sie tritt mit der Solo-Show „Ich wohne in der Möglichkeit“ im Your Move Theatre auf. Peter Mays geht mit der Kellnerin Alison Stark hin.

Vor Mays stand die eindrucksvolle, ungreifbare Person, die sein Leben länger und intensiver mit Sinn und Zweck erfüllt hatte als alles Materielle; das Objekt, das die Saiten der Erinnerung angeschlagen hatte, das einzige Geheimnis in einer langweiligen, sicheren Routine. Endlich konnte Mays die Frau sehen.

Kimberley Greene mimt auf der Bühne nacheinander verschiedene berühmte Frauen, vor der Pause zuletzt Sarah Bernhardt. Bevor die Vorstellung dann weitergeht, werden Fotos aus Chicago projiziert, darunter ein altes Zeitungsbild mit der Unterschrift „Einer der reichsten Männer der Welt und sein Erbe?“ Peter Mays kann es nicht fassen: Auf dem Foto erkennt er sich selbst! Er steht neben Henry Ford, und der hat ihm den Arm auf die Schultern gelegt. Sofort fällt ihm ein, dass seine Mutter oft sagte: „Was hätte Ford nicht alles für meine Familie tun können.“ War das doch nicht nur eine Redensart? Aber Henry Ford starb 1957, zehn Jahre vor Peters Geburt!

Nach dem Schlussapplaus stellen sich Peter und Alison zu den Bewunderern der Schauspielerin, die vor der Garderobe auf sie warten. Kimberley Greene, die nun wieder Sarah Bernhardt imitiert, kann kaum verbergen, dass ihr das Händeschütteln lästig ist. Aber als sie Peter Mays erblickt, reagiert sie verblüfft, geht in die Garderobe zurück und bringt ihm das nach der Pause projizierte Foto: Sie hat ihn wiedererkannt.

Daraufhin meldet Peter sich bei Caroline Brink krank und reist zu seiner Mutter nach Chicago, um sie zu fragen, welche Bedeutung der Spruch über Henry Ford gehabt habe. Die verwitwete Mrs Mays hat die Redensart von ihrer Mutter übernommen, ohne sich darüber Gedanken zu machen. Ihr Vater war ein einfacher Polizist, und sie kann sich nicht vorstellen, dass einer der Vorfahren mit Henry Ford zusammen fotografiert wurde.

Peter durchsucht das Gerümpel auf dem Dachboden. Dabei erfährt er, dass sein Vater als Waise in die USA einwanderte und nach dem Besuch einer Grundschule in Waterloo/Ohio bei der Eisenbahn arbeitete. Kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs kam er zur Armee. Nach dem Krieg scheiterte er mit dem Versuch, Aschenbecher zu produzieren und zu verkaufen. Schließlich wurde er Hörfunk-Moderator. Den Namen Mays übernahm er bei der Eheschließung von seiner Frau. Unter den abgelegten Sachen findet Peter das am 1. Mai 1914 aufgenommene Foto der drei Männer im Westerwald und Henry Fords Schreiben an seinen Urgroßvater Theo Langerson vom 1. Mai 1916.

Ein Ford T kostete 1916 500 Dollar. Mit 9 Prozent Zinsen pro Jahr müsste daraus inzwischen eine Viertelmillion geworden sein. In dem Brief steht, dass das Kapital 30 Jahre lang nicht angetastet werden dürfe und das Geld nur an einen Blutsverwandten Theo Langersons ausbezahlt werde, der wie dieser als Journalist tätig sei. Diese Bedingungen sind erfüllt. In Erwartung eines Millionenerbes ruft Peter Alison an und fragt sie, was sie von einer Eheschließung halte. Außerdem plant er die Gründung einer Stiftung, die Reisestipendien für Technikstudiengänge vergeben soll.

In der Ford-Zentrale in Detroit wird Peter von einem PR-Manager namens Nichols empfangen. Der bestätigt die Echtheit des Schreibens von 1916 und weist ihn auf dessen Wert hin. Aber aus der erhofften Viertelmillion Dollar wird nichts, denn die von Ford beauftragten Juristen fanden inzwischen heraus, dass die 500 Dollar damals nicht in gültiger Währung hinterlegt wurden, sich also nicht verzinsten. Peter erhält nichts weiter als hundert längst nicht mehr gültige Münzen.

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August Sander wurde am 17. November 1876 in Herdorf im Westerwald geboren. Er besuchte nur die Grundschule. Mit 13 begann er als Haldenjunge zu arbeiten. Als er einem für die Bergwerksgesellschaft tätigen Fotografen assistierte, begann ihn das neue Medium zu faszinieren. 1902 eröffnete er mit einem Geschäftspartner zusammen ein Fotoatelier in Linz, das zwei Jahre später in seinen Alleinbesitz überging. 1910 zog er mit seiner Familie nach Köln. In den Zwanzigerjahren konzipierte er eine alle Gesellschafts- und Berufsgruppen erfassende Fotosammlung mit dem Titel „Menschen des 20. Jahrhunderts“. Als ersten Band veröffentlichte er 1929 „Antlitz unserer Zeit“, aber die Nationalsozialisten verboten das Buch. August Sander starb am 20. April 1964 in Köln.

Von August Sander stammt die auf dem Cover des Buches „Drei Bauern auf dem Weg zum Tanz“ abgebildete Fotografie, die in dem Roman von Richard Powers eine zentrale Rolle spielt. Sie trägt den Titel „Jungbauern“. Ob das Bild vor oder nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs entstand, ist unbekannt. (Richard Powers datiert es im Roman auf den 1. Mai 1914.)

Dieses Foto fiel dem Programmierer Richard Powers (* 1957) in einer Ausstellung im Museum of Fine Arts in Boston auf. Die Bildunterschrift lautete: „Young Westerwald Farmers on Their Way to a Dance, 1914“. Richard Powers war von August Sanders Fotografie ähnlich beeindruckt, wie der Ich-Erzähler des Romans, den er daraufhin schrieb: „Drei Bauern auf dem Weg zum Tanz“.

Die Nachforschungen des Ich-Erzählers über das Foto verbinden sich mit einem Panorama des 20. Jahrhunderts – also in Romanform das, was August Sander mit seiner Foto-Sammlung „Menschen des 20. Jahrhunderts“ vorschwebte.

Graf Zeppelin hatte alle Hände voll damit zu tun, seine Luftschiffe vor dem Explodieren zu bewahren. Diesel war verschwunden, und deutsche und britische Geheimdienste schoben sich gegenseitig die Schuld daran in die Schuhe. (In Wahrheit hatte sich der Erfinder das Leben genommen, weil er auf dem Markt schwere Verluste erlitten hatte.) Zarin Alexandra blieb lange mit ihrem kranken Sohn auf, einem Bluter; sie hatte kürzlich einen Mann aufgetan, der die Blutungen stoppen konnte. De Broglie, Planck, Heisenberg und Einstein interpretierten die Entdeckungen ihres Wunderjahres. Mahler versuchte, seine neunte Symphonie zusammenzuhalten, in der ständig alles auseinanderfiel. Sun Yat-sen war eifrig damit beschäftigt, eine halbe Milliarde Menschen zu befreien. Die Suffragette Emily Davison warf sich beim English Derby vor das Pferd des Königs und blieb dank dieser symbolischen, durch ein erstaunlich gutes Foto dokumentierten Tat für immer dem Theater fern.
Die Wrights werkelten, Stalin schrieb Zeitungsartikel, Kafka stempelte amtliche Formulare. Hearst stiftete seine Reporter zur Verunglimpfung des Ragtime an. Schweitzer schrieb über Bach und schlug sein Lager in Afrika auf. Und Alexander Fleming, der die wichtigste Substanz des Jahrhunderts entdeckte, stellte Tausende von Petrischalen auf und wartete auf die Spore, die aus einer Brauerei in Schnupfenschnodder geweht wurde und zufällig die Wirkung von Penizillin enthüllte. Außerdem gab es noch all jene, die die Leistungen der genannten Persönlichkeiten weit in den Schatten hätten stellen können. Wo ist die Sarah der Jahrhundertmitte? Wo ist Ubus Erbe? Das fragte sich ein Dichter und Journalist auf den Schlachtfeldern Flanderns.

„Drei Bauern auf dem Weg zum Tanz“ beginnt mit dem Ich-Erzähler P., der August Sanders Foto in den Achtzigerjahren in Detroit entdeckt. Parallel dazu entwickelt Richard Powers die teilweise grotesken Biografien der drei auf dem Bild aus dem Jahr 1914 abgelichteten Männer. In einem dritten, in den Achtzigerjahren spielenden Handlungsstrang lautet der Name des Protagonisten Peter Mays, und am Ende des Buches erfahren wir, dass es sich dabei um den Ich-Erzähler handelt. Von Kapitel zu Kapitel wechselt Richard Powers zwischen diesen drei Erzählebenen. Dabei hält er sich nicht an die Chronologie, zumal er einen Großteil der zurückliegenden Ereignisse von Romanfiguren rekonstruieren lässt.

Während August Sander die Fotografie repräsentiert, die im 20. Jahrhunderts zu einem Massenphänomen wurde, steht Henry Ford für die Verbreitung des Autos und die Massenproduktion am Fließband. Reale Persönlichkeiten wie August Sander und Henry Ford interagieren in dem Roman „Drei Bauern auf dem Weg zum Tanz“ mit fiktiven Figuren.

Richard Powers geht es vor allem um die Wirkung, die ein Bild auf den Betrachter haben kann. Er umkreist das Thema „Mensch und Technik“, beschäftigt sich in diesem Zusammenhang mit der Industrialisierung und dem technischen Fortschritt, aber auch mit Kunst, Geschichte und Philosophie. Die zum Teil mehrere Seiten langen essayistischen Einschübe erschweren die Lektüre und haben etwas von Bildungshuberei an sich. Der zu hohe Anspruch des Autors schadet dem Roman.

Mit „Drei Bauern auf dem Weg zum Tanz“ debütierte Richard Powers 1985 als Romancier. Eine deutsche Übersetzung (von Henning Ahrens) erschien erst 26 Jahre später.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2014
Textauszüge: © S. Fischer Verlag

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