Richard Powers : Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit
Originalausgabe: The Time Of Our Singing Farrar, Strauss & Giroux, New York 2003 Der Klang der Zeit Übersetzung: Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié S. Fischer Verlag, Frankfurt/M 2004 ISBN 3-100-59021-X, 765 Seiten Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M 2005 ISBN 3-596-15971-7, 765 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Ein immigrierter jüdischer Physiker und eine afroamerikanische Arzttochter heiraten und gründen in New York eine Familie. Sie erziehen ihre Kinder, als ob es keine Rassendiskriminierung in den USA gäbe. Ihr ältester Sohn entwickelt sich zu einem international gefeierten Tenor; der jüngere begleitet ihn am Klavier. Die Tochter lässt sich jedoch vom Erfolg ihrer Brüder nicht blenden und schließt sich den Black Panthers an.
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Kritik

Der grandiose Roman "Der Klang der Zeit" von Richard Powers zeichnet sich nicht nur durch eine Fülle von Einfällen und Gedanken sowie Witz und Humor aus, sondern auch durch gut geführte Dialoge und farbige, packende Szenen.
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Delia und David

Weil der in Europa gefeierten afroamerikanischen Altistin Marian Anderson die Constitution Hall in Washington, D. C., wegen ihrer Hautfarbe verschlossen bleibt, tritt sie am Ostersonntag 1939 am Lincoln-Memorial auf. Zu dem Open-Air-Konzert strömen 75 000 Menschen ‒ darunter der achtundzwanzigjährige jüdische Physiker David Strom, der seit der Flucht vor den Nationalsozialisten an der Columbia University in New York tätig ist, und die zehn Jahre jüngere afroamerikanische Gesangsstudentin Delia Daley, die Tochter eines praktischen Arztes in Philadelphia, Pennsylvania. Die beiden stehen zufällig nebeneinander, und obwohl es eigentlich undenkbar ist, dass ein Weißer und eine Schwarze ein Gespräch führen, reden sie im Taumel des eindrucksvollen Ereignisses über Musik. Gerade als sie sich verabschiedet haben, bemerken sie einen kleinen schwarzen Jungen, der sich verlaufen hat. David und Delia kümmern sich um ihn. Zuerst scheut das Kind vor dem Weißen zurück, aber nach einer Weile fasst er Vertrauen auch zu ihm. Gemeinsam suchen sie nach seinen Angehörigen und übergeben ihn schließlich seinem Bruder.

Delia, die mit ihren Brüdern Charles und Michael sowie den Zwillingsschwestern Lucille und Lorene bei ihren Eltern Dr. William und Nettie Ellen Daley lebt, singt in der „Philadelphia People’s Choral Society“, dem besten afroamerikanischen Chor in Philadelphia. Zuerst trifft sie sich mehrmals heimlich mit David, dann gesteht sie ihrer Mutter, die es ohnehin bereits ahnt, dass sie sich verliebt hat.

[Nettie Ellen Daley:] „Lass mich raten. Er hat kein Geld.“ […]
„Nein, Mama. Arm … ist er eigentlich nicht. Es ist … schlimmer.“
„Er geht nicht in die Kirche.“
Delia senkte den Kopf. Der blanke Fußboden wurde zum Ozean, in dem sie zu ertrinken drohte. „Nein.“ Sie schüttelte ein einziges Mal den bleischweren Kopf. „Nein, er geht nicht in die Kirche.“
„Na, davon geht die Welt nicht unter.“ […]
Nettie lächelte ihre Tochter an […] „Er ist nicht von hier, stimmt’s? Woher kommt er denn?“
Die panische Angst in den Augen ihrer Mutter ließ Delia keine Chance zur Ehrlichkeit. „New York“, sagte sie und sackte noch weiter in sich zusammen.
„New York!“ Ihre Mutter begrüßte diesen Aufschub der Katastrophe mit einem törichten Hoffnungsschimmer. „Dem Himmel sei Dank […] Ich dachte schon, du sagst Mississippi.“
Delia zwang sich zu einem Lachen. Die nächste Lüge.
Ihre Mutter hörte es sofort […] „Spann mich nicht auf die Folter […] Was kann schon so schlimm sein an diesem Mann? Hat er drei Beine oder was? War er schon fünfmal verheiratet? Spricht er kein Englisch?“
Ein furchtbares, tonloses Kichern: „Ja, das auch.“
Nettie Ellen riss den Kopf in die Höhe. „Wieso? Was spricht er denn?“
Dann ein Blick. Mit weit aufgerissenen Augen. Die längst überfällige Erkenntnis […] Die Frage Liebst du ihn wenigstens?, war plötzlich sinnlos.
„Willst du damit sagen, er ist keiner von uns?“ (Seite 165f)

Abschließend meint die Mutter:

„Dann sieh zu, wie du das deinem Vater beibringst.“ (Seite 260)

Dr. William Daley kann es nicht fassen, dass seine Tochter sich in einen Weißen verliebt hat:

„Was ist bloß in dich gefahren, dass du dich auf die Seite von denen schlägst, die deinen eigenen Leuten ?“
„Daddy, ich schlage mich auf niemandes Seite.“ (Seite 261)

„Meinst du, dein kunstsinniger Physiker fühlt sich wohl, wenn er eine Negerin nach Hause bringt?“
Ihr kunstsinniger Physiker hat sich noch nie im Gravitationsfeld der Erde wohl gefühlt. „Er sieht die Hautfarbe gar nicht, Daddy.“
„Dann sollte er zum Optiker gehen. Ich bin praktischer Arzt. Für Sehhilfen bin ich nicht zuständig.“ (Seite 272)

Drei Wochen später wird David Strom von den Daleys zum Essen eingeladen. Nettie Ellen gibt sich große Mühe und bereitet ein Gericht nach Familienrezepten aus Schweinefleisch und Gemüse zu ‒ ohne zu ahnen, dass Juden kein Schweinefleisch essen.

Familiengründung

Am 9. April 1940 heiraten David und Delia vor einem Friedensrichter in Philadelphia. Davids Vermieter in New York wirft das Paar hinaus, aber David und Delia finden in der kinderlosen Witwe Verna Washington in Hamilton Heights eine tolerantere Vermieterin. Ende Januar 1941 wird Delia von ihrem ersten Kind entbunden, einem hellhäutigen Jungen, der den Namen Jonah erhält. Auf eine Taufe verzichten David und Delia bewusst, denn sie möchten ihren Kindern die Freiheit lassen, später selbst über ihre Konfession zu entscheiden.

Die Hautfarbe von Joseph („Joey“), der 17 Monate später geboren wird, ist dunkler als die seines Bruders Jonah, aber heller als die seine Mutter Delia, für die ein Spießrutenlaufen beginnt, sobald sie sich mit den Kindern aus dem Haus wagt und jeder sieht, dass sie sich mit einem Weißen eingelassen hat. Einige Jahre später bringt Delia noch ein Mädchen zur Welt, dessen Hautfarbe so dunkel wie die ihre ist: Ruth.

David und Delia unterrichten ihre Kinder selbst und singen jeden Tag mit ihnen zusammen.

Wenn Delia sang, dann sang sie mit ihrem gesamten Körper. So hatte sie es, auch in Philadelphia noch, von Generationen von Müttern gelernt, die es nicht anders aus den Kirchen Carolinas kannten. Wenn sie die Stimme erhob, schwoll ihr die Brust wie der Blasebalg einer Orgel, in die der Heilige Geist gefahren war. Ein Tauber hätte ihr die Hände auf die Schultern legen können und hätte jeden Ton gespürt, seine Finger hätten vibriert wie eine Stimmgabel. (Seite 16)

Familienstreit

Davids Gedanken kreisen um physikalische Themen, beispielsweise um die Frage, ob die Zeit umkehrbar ist, was im Weltbild der Mechanik möglich wäre, jedoch der Thermodynamik widersprechen würde (Entropie). Er rätselt, ob sich am Ende die Relativitätstheorie oder die damit unvereinbare Quantentheorie durchsetzen werden. Überzeugt ist er davon, dass die Einteilung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nichts mit der Realität zu tun hat, sondern ein Konstrukt menschlichen Denkens ist.

„Wir sind es, die Abläufe erschaffen. Wir erinnern uns an die Vergangenheit und sagen die Zukunft voraus. Wir haben das Gefühl, dass die Dinge sich in eine bestimmte Richtung entwickeln. Wir erfinden eine Ordnung des Vorher und Nachher.“ (Seite 110)

„Wir spüren einen Fluss. Aber in Wirklichkeit gibt es nur den Ozean […] Es gibt kein Werden. Es gibt nur das Sein.“ (Seite 110)

Im August 1945 liest Delia während einer U-Bahn-Fahrt in der Zeitung von der Atombombenexplosion über Hiroshima. Obwohl das „Manhattan“-Projekt strengster Geheimhaltung unterlag, hatte David seiner Frau verraten, warum er immer wieder zu seinem Kollegen Enrico Fermi nach Chicago fuhr: Als einer von zahlreichen Wissenschaftlern half er mit bei der Entwicklung der Atombombe.

Dr. William Daley, der erst im Nachhinein begreift, was sein Schwiegersohn in Chicago tat, schreibt ihm einen Brief: Er ist bereit, zu akzeptieren, dass die Bombe am 6. August auf Hiroshima erforderlich war, um den Krieg zu beenden, aber die Bombe drei Tage später auf Nagasaki hält er für einen Akt der Barbarei. Um persönlich mit ihm darüber reden zu können, laden David und Delia ihn ein, und Dr. Daley verbindet den Familienbesuch mit der Teilnahme an einem Ärztekongress Ende September 1945 in New York. Im Foyer des Konferenzzentrums wird er jedoch von einem Hausdetektiv und von Polizisten festgehalten. Entrüstet berichtet er Delia und David darüber:

„Ich konnte doch kaum Dr. William Daley aus Philadelphia, Pennsylvania, sein, denn Dr. Daley ist ein richtiger Arzt mit Brief und Siegel, und ich bin ja nur ein Nigger, der aus Dickköpfigkeit in eine Versammlung von kultivierten Medizinern will.“ (Seite 500)

Als sein Großvater von einem „Weißen“ spricht, kichert Jonah, denn es gibt doch gar keine weißen Männer, das wäre ja sonst ein Gespenst. Dr. Daley ist entsetzt: Seine Enkel werden so erzogen, als ob es die Rassendiskriminierung nicht gäbe. Delia und David sind jedoch überzeugt, dass es besser für ihre Kinder ist, wenn sie jenseits der Unterscheidungen zwischen Rassen aufwachsen. Darüber kommt es zwischen ihnen und Delias Vater zu einem Streit, der noch weit schlimmer ist, als die Meinungsverschiedenheit über die zweite Atombombe: An diesem Tag bricht der Kontakt zwischen Delia und ihrer Familie ab. (David hat ohnehin keine Familienbeziehungen mehr, denn seine Verwandten sind bis auf seine Schwester Hannah, die mit ihrem bulgarischen Ehemann Vihar nach Sofia geflohen war, im Holocaust umgekommen.)

Die Fünfzigerjahre

Im Herbst 1952 werden Jonah und Joey in die Boylston Academy in Boston aufgenommen.

Während Joey sich in Malalai Gilani verliebt, eine Mitschülerin, deren Hautfarbe dunkler als die seine ist, fällt Jonahs Wahl ausgerechnet auf die albinotische Mitschülerin Kimberly Monera, die Tochter des berühmten Operndirigenten Federico Monera und der gefeierten Opernsängerin Maria Cerri. Als Jonah und Kimberly beim Petting überrascht werden, nimmt Federico Monera seine Tochter von der Schule.

Im Dezember 1955, als Ruth von der Schule nach Hause kommt, brennt das Elternhaus. Verzweifelt will sie ihre Mutter herausholen, aber die Feuerwehrleute lassen sie nicht durch. Delia kommt in den Flammen um. Offiziell heißt es, ein Heizkessel sei explodiert.

Nachdem David in Fort Lee ein Haus gefunden hat, stellt er die Haushälterin Mrs Samuels ein, die auch auf Ruth aufpasst.

1957 wechseln Jonah und Joey von der Boylston Academy zum Konservatorium Juilliard.

Draußen war die Jugendbewegung in Gang gekommen, nahm Anlauf zur Eroberung der Welt. Doch für uns in unseren schallgeschützten Probenräumen waren falsche Tempi nach wie vor die größten vorstellbaren Verbrechen. (Seite 231)

Die Sechzigerjahre

Nach seinem Abschluss erhält Jonah durch seine Musiklehrer die Möglichkeit, mit einem Stipendium in Mailand weiterzustudieren, doch er zieht es vor, sich in die Musikszene in den USA zu stürzen und überredet seinen jüngeren Bruder, ihn bem nationalen Gesangswettbewerb „Amerikas neue Stimme“ am Klavier zu begleiten. Die Vorbereitung und die Teilnahme an Vorrunden bedeutet für Joey, dass er auf seinen Studienabschluss verzichten muss. Die Endausscheidung findet im Dezember 1961 im alten Konzertsaal der Duke-Universität in Durham, North Carolina, statt. Jonah gewinnt. Daraufhin erhält er laufend Einladungen, mit seinem Bruder in Universitäten und Provinzstädten aufzutreten. Wenn sie in ihrem Hotelzimmer im Fernsehen Nachrichten über Rassenkrawalle sehen, ist das wie eine fremde Welt für sie.

In „Harper’s“ kritisiert ein Journalist Farbige wie Jonah:

„Und doch gibt es bemerkenswert begabte junge Schwarze, die immer noch der Kultur des weißen Mannes nachlaufen, selbst jetzt noch, wo ihre Brüder in den Straßen sterben.“ (Seite 128 und Seite 454f)

Genau das wirft auch Ruth ihrem Bruder Jonah vor, und sie überwirft sich deshalb mit ihm.

Jonah lässt sich von Lisette Soer weiter ausbilden. Die zwölf Jahre ältere weiße Gesangslehrerin sorgt dafür, dass er nach der Präzision im Singen auch Ausdruckskraft entwickelt, und sie weist ihn in die schauspielerische Komponente des Bühnenauftritts ein. Außerdem macht sie ihn mit dem Konzertagenten Milton Weisman bekannt, der Jonah und Joey von da an Engagements vermittelt. Lisette ist die erste Frau, mit der Jonah ins Bett geht, aber er täuscht sich nicht darüber hinweg, dass er für sie nur ein Abenteuer ist, ein „aufregendes braunes Spielzeug“ für eine Art „Elendstouristin“. Als sie schwanger wird, drängt er sie, ihn zu heiraten, aber sie will das Kind nicht austragen, denn sie befürchtet, es könne eine dunkle Hautfarbe haben.

Am 28. August 1963 nehmen David und Ruth Strom an dem „Großen Marsch“ für Arbeit und Freiheit sowie an den Kundgebungen von A. Philip Randolph und Martin Luther King am Lincoln-Memorial in Washington teil.

Ruth […] ist schon zu lange allein. Ihre Brüder haben keine Zeit für die Gegenwart. Ihr Vater ist gefangen in der Vergangenheit. (Seite 332)

Im Herbst beginnt Ruth, Geschichte zu studieren. Ein Jahr später wechselt sie zur juristischen Fakultät.

Nach einer Plattenaufnahme in Los Angeles hören Jonah und Joey am 11. August 1965 im Autoradio von Rassenunruhen in der Stadt. Jonah will unbedingt hin. Sie geraten in ein „Chaos ohne Partitur“. Schwarze, die Jonah wegen seiner hellen Hautfarbe für einen Weißen halten, schlagen ihn brutal zusammen. Danach werden die beiden Brüder von der Polizei festgenommen und für eine Nacht in ein Behelfsgefängnis gesperrt.

Ruth bricht ihr Studium ab und verlässt ihren Vater, ohne ihm eine Adresse dazulassen. Sie ist überzeugt, dass ihre Mutter umgebracht worden war, denn im Untergeschoss des zerstörten Hauses in Hamilton Heights fand man Spuren von Brandbeschleunigern. Sie beschuldigt David, durch die Heirat schuld an Delias Tod zu sein.

Als Ruth sich 1967 bei Joey meldet, ist sie mit einem Afroamerikaner namens Robert Rider verheiratet und hat sich mit ihm der Untergrundbewegung „Black Panthers“ angeschlossen.

Milton Weisman verschafft Jonah 1968 ein Angebot der Metropolitan Opera in New York, aber der inzwischen 27 Jahre alte Sänger hält „Adriana Lecouvreur“ für ein Vorzeigestück für Sopranistinnen („Kanarifutter“) und lehnt es ab, dabei eine Statistenrolle zu übernehmen. Daraufhin bietet im die Met die Hauptrolle in „Die Heimsuchung“ an. In der Oper geht es um einen lebensfrohen Studenten, der verhaftet und ‒ wie K. in dem Kafka-Roman „Der Prozess“ ‒ von einem surrealen Tribunal rätselhafter Verbrechen angeklagt wird. Nach dem Schuldspruch zerreißt ihn der Mob. Der Protagonist hat keinen Namen, sondern wird stets als „der Neger“ bezeichnet. Jonah glaubt nicht, dass Opernbesucher so etwas goutieren und verzichtet deshalb auch auf dieses Engagement.

Mit einer offiziellen Einladung nach Magdeburg in der Tasche fliegt Jonah Ende 1968 nach Deutschland. Joey, der ihn nicht begleiten mag und dadurch arbeitslos wird, zieht fürs Erste zu seinem Vater in Fort Lee. Er bewirbt sich als Musiklehrer, aber sobald die Interessenten seine Hautfarbe sehen, suchen sie nach Ausflüchten. Dabei reden sie laut und deutlich mit ihm, so als sei er ihrer Sprache nicht ganz mächtig, und sie erklären ihm Partituren, als ob er keine Noten lesen könnte. Schließlich zieht Joey nach Atlantic City, wo er eine Anstellung als Barpianist im „Glimmer Room“ von Saul Silber bekommt.

Bei dieser Tätigkeit lernt er Teresa Wierzbicki kennen, die Tochter eines weißen katholischen Elektrikers, die in einer Konfektfabrik arbeitet und sich für gefühlvolle Unterhaltungsmusik begeistert. Obwohl Joey sich bewusst ist, dass er Teresa etwas vormacht, weil die Musik, die er im „Glimmer Room“ und mit ihr zusammen spielt, nicht seine Musik ist, beginnt er ein Verhältnis mit ihr. Als ihre Eltern das merken, verstoßen sie Teresa.

Die junge Frau opfert ihre Ersparnisse von zwei Jahren und kauft ihrem Geliebten ein Wurlitzer-Klavier.

Es hatte weniger Ähnlichkeit mit einem Klavier als der Glimmer Room Ähnlichkeit mit den Konzertsälen gehabt hätte, in denen Jonah und ich früher aufgetreten waren. (Seite 584)

Obwohl es nur über 44 Tasten verfügt und die Mechanik widerspenstig ist, spielt Joey darauf, um Teresa nicht zu verletzen.

Die Siebzigerjahre

Im Sommer 1970 tauchen unvermittelt Ruth und Robert Rider bei ihm in Atlantic City auf. Offenbar ist die Polizei hinter ihnen her. Sie übernachten bei ihm und reisen am nächsten Morgen weiter.

Etwa zur gleichen Zeit wird bei David Strom Bauchspeicheldrüsenkrebs diagnostiziert. Joey besucht ihn regelmäßig, und Teresa begleitet ihn an den Wochenenden. 15 Jahre nach seiner Frau stirbt David im Mount-Sinai-Hospital in New York. Jonah, der wegen der dauernden Abwesenheit den Job in Atlantic City verloren hat, verkauft das Elternhaus in Fort Lee, teilt das Geld, das er dafür bekommt, durch drei und legt Ruths und Jonahs Anteile auf Bankkonten an.

Jonah meldet sich erst, als die Asche seines Vaters bereits bestattet ist. Er lebte einige Zeit in Paris. In der Stadt, in der Josephine Baker gefeiert worden war, schlug ihn einmal jemand auf der Straße zusammen, weil er ihn wegen seines Aussehens für einen Algerier hielt. Inzwischen hat Jonah eingesehen, dass er bisher den „Lakaien für Kulturimperialisten“ (Seite 601) spielte. Er befreit seine Stimme von den erlernten Zirkustricks und wird zusammen mit seiner Geliebten, der aus Martinique stammenden schwarzen Sopranistin Celeste Marin, Mitglied des „Kampen“-Ensembles in Gent. Inzwischen hat er sich vorgenommen, eine eigene A-cappella-Gruppe zu gründen und damit in die Zeit weit vor den Rassenauseinandersetzungen zurückgehen. Er überredet Joey, die Bassstimme zu übernehmen.

Auf dem Flughafen in Zaventem bei Brüssel holt Jonah seinen Bruder ab und fährt mit ihm nach Gent. Dort warnt er Joey:

„Sag nichts auf Türkisch. Sonst wirst du verprügelt, genau wie daheim.“ (Seite 632)

Zum Ensemble „Voces Antiquae“ gehören außer Jonah, Celeste und Joey die flämische Sopranistin Marjoleine de Groot, der britische Countertenor Peter Chance, und der Tenor Hans Lauscher aus Aachen. Ihren ersten Auftritt haben sie beim Flandern-Festival in Brügge. Es folgen Plattenaufnahmen und Engagements überall in Europa. Ein witziger Journalist hebt die „polychrome Polytonalität“ der „Voces Antiquae“ hervor.

Die Achtzigerjahre

Jonah und Celeste heiraten im Winter 1981.

Ende Juli 1984 ‒ die „Voces Antiquae“ gastieren gerade in Avignon ‒, erhält Joey über die Konzertagentur ein Telegramm mit der Aufforderung, Teresa anzurufen. Joeys Schwager Robert wurde in Oakland von zwei Streifenpolizisten mit Gummigeschossen verletzt und starb bei der deshalb erforderlichen Operation aufgrund einer Narkosekomplikation. Ruth erinnerte sich aufgrund des Besuchs in Atlantic City an den Namen der Geliebten ihres Bruders und hoffte, ihn bei Teresa zu finden. Teresa ist inzwischen verheiratet und hat eine sechsjährige Tochter.

Joey fliegt nach Philadelphia zu Ruth, die sich mit ihrem Sohn Kwame und dem fünf Monate alten Baby Robert bei ihrem neunzigjährigen Großvater William Daley aufhält. (Nettie Ellen starb vor gut einem Jahr.) Onkel Michael holt Joey vom Flughafen ab, auch die Zwillinge Lucille und Lorene wollen Joey sehen. (Charles war im Zweiten Weltkrieg als Marineinfanterist im Pazifik gewesen. Beim Entladen einer Geschützbatterie von einem Schiff hatte ihn eine gerissene Stahlrosse tödlich getroffen.)

Ruth überredet Joey, sie nach Oakland zu begleiten. Am Telefon teilt er Jonah mit, dass er nicht nach Europa zurückkommen werde und sich das Ensemble einen neuen Bass suchen müsse. In Oakland gründet Ruth die „New Day Elementary School“ für Kinder vom Kindergarten bis zum dritten Schuljahr. Während sie in Pädagogik promoviert, macht Joey einen Abschluss als Erzieher und kümmert sich um den Musikunterricht in der Schule seiner Schwester.

Als Dr. William Daley im Jahr darauf stirbt, findet man in seiner Hinterlassenschaft eine große Sammlung von Zeitungsausschnitten über Jonahs und Joeys Auftritte.

Während Robert sich als vielseitiges Wunderkind erweist, macht Kwama seiner Mutter Sorgen. Er fährt nicht nur ihr Auto zu Schrott, sondern wird auch in der Schultoilette mit einer größeren Menge von Amphetaminen erwischt. Nach der Gründung der Band „N Dig Nation“ muss er wegen eines Diebstahls von CDs für zwei Jahre ins Gefängnis.

Im April 1989 kommen die „Voices Antiquae“ zu einer Tournee in die USA. Jonah, dessen Ehe inzwischen gescheitert ist, schickt drei Karten für das Konzert in Los Angeles, aber nur sein Bruder hört es sich an. Als die „Voices Antiquae“ drei Jahre später erneut in Kalifornien sind, lädt Joey seinen Bruder in die Schule ein. Jonah ist begeistert von dem Musikunterricht ? und Ruth versöhnt sich mit ihm. Danach fliegt Jonah zu einem Auftritt in Los Angeles, aber das Konzert wird abgesagt, denn nach dem Freispruch der vier weißen Polizisten, die vor einem Jahr den schwarzen Autofahrer Rodney King bei einer Verkehrskontrolle fast zu Tode geprügelt hatten, kommt es am 29. April 1992 zu heftigen Rassenkrawallen in Los Angeles. Erst in der übernächsten Nacht meldet Jonah sich telefonisch bei Joey: Im Hotel habe er es nicht ausgehalten; er sei zu den Straßenschlachten gegangen und dort von einem Stein an der Schläfe getroffen worden. Das linke Ohr des Sängers ist taub. Aber einen Arzt konsultiert er nicht. Die seien jetzt mit schlimmeren Fällen beschäftigt, meint er. ? Am nächsten Morgen findet ihn Hans Lauscher im Hotelzimmer tot vor.

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Soll man Kindern die Freiheit lassen, in der Jugend bzw. als Erwachsene selbst über ihre Identität zu entscheiden, etwa indem man ihnen die Wahl einer Konfession überlässt? War es utopisch, Kinder nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA so zu erziehen, als ob es keine Rassendiskriminierung gegeben hätte? Sollen Afroamerikaner Weiße imitieren und die europäische Kultur übernehmen oder sich auf die eigenen Wurzeln besinnen? In seinem Roman „Der Klang der Zeit“ beschäftigt Richard Powers (*1957) sich eingehend mit diesen Fragen und zeigt, dass weder die Musik noch die Naturwissenschaft ‒ zwei Ansätze, um die Welt zu verstehen ‒ gegen Intoleranz, Rassenhass und Fremdenfeindlichkeit helfen.

„Der Klang der Zeit“ […] gehört in […] drei Kategorien: Er ist die Geschichte einer Familie zwischen der weißen und der schwarzen Rasse, er ist eine Geschichte der Vereinigten Staten von den späten Dreißigerjahren bis heute, und er ist eine Geschichte vom Verlust der bürgerlichen Kultur als der Vision einer Einheit von freien Menschen. Und schließlich ist er: ein gewaltiges Aufbäumen gegen diesen Verlust.
[…] „Der Klang der Zeit“ ist eine Expedition in die amerikanische Gesellschaft, mitten hinein […] Es ist das Panorama eines sozialen Zustands, wie es keine Soziologie, keine Kulturtheorie, keine Philosophie mehr hervorbringt. (Thomas Steinfeld, Süddeutsche Zeitung, 21. Mai 2004)

Die vielleicht ungewöhnlichste Verbindung, die ich in der Geschichte herstelle, ist die zwischen Zeit und Rasse. Es geht darum, dass „Rasse“ keine festgelegte Kategorie ist. Sie wird zu jeder Zeit anders wahrgenommen, wie eine Melodie. Eine Melodie, die viele verschiedene Dinge zu verschiedenen Zeiten gemeint hat und die frei ist, auch in der Zukunft wieder etwas anderes zu bedeuten. (Richard Powers in einem Interview)

Richard Powers lässt Joey Strom die mit historischen Ereignissen verknüpfte Familiengeschichte in der Ich-Form erzählen. Dabei springt er in der Zeit vor und zurück, aber das wirkt ganz selbstverständlich, und es fällt auch nicht schwer, dabei den Überblick zu bewahren. Das Stilelement ermöglicht es, wie in der Musik Motive zu wiederholen und zu variieren (etwa die Teilnahme Jonahs und Joeys an der Endausscheidung bei einem nationalen Gesangswettbewerb im Dezember 1961 in Durham, North Carolina ? Seite 5ff, Seite 257ff).

Der grandiose Roman „Der Klang der Zeit“ zeichnet sich nicht nur durch eine Fülle von Einfällen und Gedanken sowie Witz und Humor aus, sondern auch durch gut geführte Dialoge und farbige, packende Szenen. Vor allem, wenn es sich um Musikdarbietungen handelt, zeugt das Buch von einem profunden Wissen des Autors, und es gelingt Richard Powers, seitenlang ohne einen überflüssigen Satz, aber mit immer neuen Facetten darüber zu schreiben. Damit erweist er sich als großartiger Erzähler.

„Der Klang der Zeit“ gibt es auch in einer gekürzten Version als Hörbuch, gelesen von Ulrich Matthes.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2006
Textauszüge: © S. Fischer Verlag

Rassendiskriminierung in den USA

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Der Roman "Die Frau im Tal" von Ketil Bjørnstad zeichnet sich durch eine dichte Atmosphäre, großes Einfühlungsvermögen, eine musikalische Sprache und den Verzicht auf jegliche Effekthascherei aus.
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