Melanie Raabe : Die Wahrheit

Die Wahrheit
Die Wahrheit Originalausgabe: btb Verlag, München 2016 ISBN: 978-3-442-75492-2, 443 Seiten ISBN: 978-3-641-18525-1 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der deutsche Unternehmer Philipp Peter­sen kommt von einer Geschäftsreise nicht zu­rück. Wurde er in Kolumbien entführt? Sieben Jahre später erhält seine Ehefrau Sarah vom Auswärtigen Amt die Nachricht, dass Philipp aus einem Dschungel-Camp der Farc-Rebellen befreit wurde. Der Mann, der in Hamburg aus dem Flugzeug steigt und von dem Beamten als Herr Petersen willkommen geheißen wird, ist für Sarah jedoch ein Fremder, den sie für einen Betrüger hält, der es auf das Vermögen ihres Mannes abgesehen hat ...
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Kritik

Das mit falschen Fährten und über­raschen­den Wendungen gespickte Thrillerdrama "Die Wahrheit" dreht sich um Identität und Ver­ände­rung, Schuld und Verdrängung. Melanie Raabe lässt die beiden Hauptfiguren abwechselnd als Ich-Erzähler auf­treten und leuchtet die psychi­schen Vorgänge intensiv aus.
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Sarah Petersen arbeitet als Lehrerin in Hamburg und wohnt mit ihrem acht­jähri­gen Sohn Leo in der Stadtvilla ihres seit sieben Jahren verschollenen Ehemanns. Philipp Petersen, der den von seinem 2002 verstorbenen Vater geerbten Konzern erfolgreich weitergeführt hatte, flog im Sommer 2008 geschäftlich nach Kolumbien. Er schickte seiner Frau noch eine SMS mit der Mitteilung, er sei gut in Bogotá gelandet. Der Letzte, der ihn sah, war sein Mitarbeiter Bernd Schröder, und zwar bevor Philipp Petersen losfuhr, um einen Termin mit einem potenziellen Investor in einem anderen Hotel der Stadt wahrzunehmen. Dort kam er nie an. Es wurde befürchtet, dass Farc-Rebellen ihn entführt haben könnten, aber es gab weder ein Bekennerschreiben noch eine Lösegeldforderung.

Während Sarah in den Sommerferien 2015 mit Leo im Zoo ist, erhält sie einen Anruf von Wilhelm Hansen, einem Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland. Philipp lebt! Er wurde aus einem Camp im Dschungel befreit und wird in drei Tagen in Hamburg eintreffen.

Wilhelm Hansen fährt Sarah zum Flughafen. Mit ihr und Leo warten zahlreiche Reporter auf die Rückkehr des Unternehmers. Aber unter den wenigen Männern, die aus dem Privatjet aussteigen, entdeckt Sarah ihren Mann nicht. Was ist passiert? Warum war er nicht an Bord? Der Mann, den Hansen willkommen heißt und dem die Reporter zurufen, er solle in die Kameras schauen, ist ein Fremder. Sarah versucht, sowohl Hansen als auch Barbara Petry vom Krisenstab zu erklären, dass sie einem Betrüger aufgesessen sind, aber Lärm und Hektik verhindern, dass sie Gehör findet. Vor dem Flughafen schiebt jemand sie und Leo zu einer bereitstehenden Limousine und hilft ihnen beim Einsteigen.

Kaum, dass ich sitze, fällt die Tür hinter uns ins Schloss, und das Geschrei der Fotografen dringt nur noch gedämpft an meine Ohren. Ich atme auf, schließe kurz die Augen. Keine zwei Sekunden später setzt sich der Wagen bereits in Bewegung. Ich erstarre, als ich die Augen wieder öffne. Leo und ich sind nicht allein im Wagen. Mein Kopf fährt herum.
Neben mir sitzt der fremde Mann.

Unterwegs setzen sie Leo bei Sarahs bester Freundin ab, bei Miriam Becker, deren Ehemann Martin, dem achtjährigen Sohn Justus und dem Säugling Emily. Als der Wagen schließlich vor der Villa der Petersens hält, stürzt Sarah hinein und erreicht gerade noch das Bad, bevor sie sich übergibt. Hinter ihr betritt der Fremde das Haus.

Heute hätte mein Mann nach Hause kommen sollen, mein über alles geliebter Mann, stattdessen war ein Fremder an Bord der Maschine. Es ist mir nicht gelungen, ihn gleich am Flughafen zu entlarven, man hat ihn neben mich in ein Auto verfrachtet. Wir wurden nach Hause gefahren. Jetzt bin ich hier.

Barbara Petry vom Krisenstab des Auswärtigen Amtes kommt sofort, nachdem Sarah mit ihr telefoniert hat.

„Ich weiß, es klingt verrückt“, sage ich. „Aber der Mann, den Sie und alle anderen für Philipp Petersen halten, ist nicht Philipp Petersen. Ich weiß nicht, wer er ist, aber er ist nicht mein Mann.“

„[…] ich versichere Ihnen, dass dieser Mann hier nicht Philipp Petersen ist. Ich habe diesen Mann noch nie in meinem Leben gesehen.“

Der Fremde schlägt eine Gegenüberstellung vor:

„Du hast gerade gesagt, dass jeder, der mich kennt, sofort merken müsste, dass ich nicht Philipp bin“, sagt er und lässt seinen Blick von mir zu Petry und wieder zu mir wandern. „Wie wäre es, wenn wir jemanden dazu bitten? Jemanden, der mich kennt. Würde dich das überzeugen?“

Barbara Petry hält das für einen konstruktiven Vorschlag. Sarah meint allerdings:

„Egal, wen wir fragen – jeder wird Ihnen bestätigen, dass das nicht mein Mann ist.“

Sarah will gerade Johann Kerber vorschlagen, einen väterlichen Freund der Familie, den sie bereits anzurufen versuchte, der allerdings gerade in China zu tun hat und auch nicht per Handy zu erreichen ist – was Sarah wundert, denn das Handy des Workaholic ist gewöhnlich rund um die Uhr eingeschaltet. Bevor Sarah den Namen ausspricht, fragt der Fremde:

„Wie wäre es mit Johann?“ […]
Verstört sehe ich ihn an. Er kennt Johann? Woher kennt er Johann, wieso weiß er von Johann?
„Wer ist Johann?“, fragt Barbara Petry.
„Johann Kerber ist ein alter Freund meiner Familie, der mich unter seine Fittiche genommen hat, nachdem mein Vater gestorben ist“, sagt der Betrüger. „Und ich weiß, dass Sarah Johann ebenfalls vertraut. Zumindest war das früher so.“
Innerlich zerfalle ich in alle meine Einzelteile, aber ich lasse nichts davon nach außen dringen.
„Johann ist verreist“, bringe ich schließlich heraus. „Er ist geschäftlich in China unterwegs.“

Johann ist in den nächsten Tagen nicht verfügbar. Die Freundschaft mit Miriam begann erst nach Philipps Entführung; die Beckers kennen ihn deshalb nur von Fotos. Philipps verwitwete, an Alzheimer erkrankte Mutter Constanze Petersen lebt seit Jahren in einem luxuriösen Pflegeheim, und Geschwister hat Philipp keine.

Sarah stellt dem Fremden im Beisein Barbara Petrys Fragen, die eigentlich nur Philipp beantworten könnte. Er nennt Geburtsdaten, aber bei der Frage nach der Eheschließung zögert er.

Natürlich weiß ich auch das Datum des Hochzeitstages, es war der 11. April. Es ist nicht so, als wäre es mir vorhin entfallen.
Ich wollte nur vor Barbara Petry nicht wirken, als hätte ich diese Daten auswendig gelernt, das ist alles.

Nach einer Weile weist er darauf hin, dass er seit 48 Stunden auf den Beinen und entsprechend müde sei. Mit dieser Begründung lehnt er es auch ab, das Hemd zu öffnen, als Sarah ihn dazu auffordert, weil Philipp ein markantes Muttermal auf der Brust hat.

„Ich verlange einen Gentest“, sage ich.
Triumphierend nehme ich zur Kenntnis, dass der Betrüger mich mit offenem Mund anstarrt.
„Gentests können nur freiwillig erfolgen“, antwortet Barbara Petry.
Ich sehe den Fremden an. Er blickt zurück, eine Ewigkeit lang, zwei, drei.
„Ich bin einverstanden“, sagt er dann.

Seine Zustimmung zu einem Gentest beseitigt auch den kleinsten Zweifel Barbara Petrys an seiner Identität. Während der Fremde die Mitarbeiterin des Krisenstabs hinausbegleitet, sagt er:

„Es geht meiner Frau nicht gut […] Ich glaube, der heutige Tag war ein bisschen viel für sie. […] Bitte versprechen Sie mir nur, dass Sie niemandem hiervon erzählen. Es wäre mir furchtbar unangenehm, und Sarah – sobald sie wieder ganz bei sich ist – erst recht.

Nachts rennt Sarah barfüßig aus dem Haus und zur Hauptstraße. Ein Kombi hält an. Sarah fleht den Fahrer an, ihr zu helfen. Aber da ist auch schon der Fremde und sagt:

„Sarah, mein Gott, was machst du denn nur für Sachen?“

Dann wendet er sich ruhig an den Autofahrer:

„Bitte entschuldigen Sie. […] Meiner Frau geht es nicht so gut.“

Sarah begreift, dass sie so nicht weiterkommt, denn wenn es zum Kalkül des Fremden gehört, dass sie sich wie eine Verrückte verhält, hat sie ihm in die Hände gespielt. Es wäre naheliegend, dass der Hochstapler vorhat, sie in die Psychiatrie abzuschieben und sich auf diese Weise das Familienvermögen anzueignen.

Wenn der Fremde vor Recht und Gesetz als mein Ehemann gilt – kann er mich dann wegsperren lassen? Und wenn er das kann, welche Verfügungsgewalt hat er dann noch? Wenn ich verunglücke und ins Koma falle – kann er mir dann die Maschinen abstellen lassen? Und was ist mit Leo?

Sarah holt die Pistole ihres Mannes vom Dachboden und versteckt sie im Schlafzimmerschrank.

Während er fort ist, durchwühlt sie seine Reisetasche. Darin findet sie das Buch „Die Kunst des Krieges“ von Sun Tsu mit einer handschriftlichen Widmung „Für Vincent. Von Papa. Mai 2005“.

Sie fährt zum Pflegeheim und nimmt ihre Schwiegermutter Constanze mit. Frau Kawatzki, die Leiterin der Einrichtung, die aus den Nachrichten weiß, dass Philipp Petersen wieder aufgetaucht ist, rechnete bereits mit seinem Besuch, findet es aber noch erfreulicher, dass das Wiedersehen bei Kaffee und Kuchen zu Hause gefeiert werden soll. Zu dem Kaffeekränzchen lädt Sarah auch noch Miriam Becker und die über 80 Jahre alte Nachbarin Margarete Theis ein. Als der Fremde zurückkommt, bleibt er erschrocken im Türrahmen stehen. Bevor die Gäste etwas sagen können, wendet Sarah sich an ihre Schwiegermutter (die ihr übrigens nie das Du angeboten hat).

„Constanze?“, sage ich und erhebe mich. „Ich wollte Sie gerne überraschen. Philipp ist hier. Ihr Sohn.“
Constanze starrt den Fremden an. Er hält ihrem Blick keine Sekunde lang stand, wendet ertappt die Augen ab.
„Constanze“, sage ich. „Freuen Sie sich denn gar nicht, ihn zu sehen?“
[…] Immer noch sitzt Constanze wie versteinert da, während der Fremde auf sie zugeht. Dann stemmt sie sich zitternd am Tisch hoch, es ist deutlich zu sehen, dass es sie viel Kraft kostet. Sie weicht vor dem Fremden zurück. Wirft dabei mein Milchkännchen um, als sie gegen den Tisch stößt, der Stuhl, auf dem sie eben noch gesessen hat, fällt polternd zur Seite. […]
„Das ist nicht mein Sohn“, sagt Constanze mit brüchiger Stimme. „Das ist nicht mein Sohn!“ […]
Ich triumphiere innerlich. Gut, dass Miriam und Frau Theis das gehört haben. Gut, dass sie sich den ganzen Nachmittag lang mit Constanze unterhalten haben und bezeugen können, dass sie klar und bei Verstand war, als sie diese Aussage getroffen hat. […]
„Mein Sohn ist tot“, sagt sie. „Meine gierige, verschlagene Schwiegertochter hat ihn umgebracht. Das weiß jeder in Hamburg. Jeder.“

Die bösen Äußerungen der Schwiegermutter veranlassen Sarah, über sich nachzudenken.

Ich weiß plötzlich, dass ich mich der Vergangenheit stellen muss, wenn ich in der Gegenwart bestehen will.

Im Alter von 17 Jahren hatte sie ihre Mutter erhängt in der Küche vorgefunden. Danach verbrachte sie eine Wochen in der Psychiatrie, weil ihr der Bezug zur Realität verloren gegangen war. Als Lehramtsstudentin lernte sie Philipp kennen. Während eines Kalifornien-Urlaubs beschlossen sie spontan, in Las Vegas zu heiraten. Sarah hatte ohnehin keine Familie, die sie zur Hochzeit hätte einladen können, und Philipp wusste, dass seine Mutter die Eheschließung für nicht standesgemäß hielt. Als Sarah schwanger wurde, freute sich Philipp, aber sie selbst bekam Angst, dass sie ihr Kind nicht vor der Welt würde beschützen können.

Nicht, dass ich nicht in der Lage sein würde, vernünftig für mein Kind zu sorgen, das nicht, nein. Ich hatte Angst, dass mein Kind es mir nachtragen könnte, es in diese Welt hinein zu schicken, ungefragt. In eine Welt, die ich ihm auch nicht erklären konnte. Die so voll war von Wundern und Grauen, so unfassbar und unerklärlich. Ich hatte Angst, weil ich keine Antworten hatte auf die elementaren Fragen.

Nach zwei Fehlgeburten brachte Sarah Leo zur Welt. Sie hätten glücklich sein können, gerieten jedoch immer häufiger in Streit. Dann kam der Abend, an dem sie im Wochen­end­haus am See einen Anruf der Babysitterin erhielten, die mitteilte, dass der knapp ein Jahr alte Leo Fieber hatte. Sie setzten sich sofort ins Auto. Sarah fuhr. Erneut stritten sie sich. Philipp herrschte sie an: „Schau nach vorne, verdammt!“ Aber da polterte es bereits. Sie hielten an. Sarah dachte zunächst, sie habe ein Reh überfahren, aber dann sah sie einen toten Mann auf der Straße liegen. In dem Waldgebiet gab es kein Mobilfunknetz. Sie fuhren weiter und wollten von zu Hause aus die Polizei anrufen. Aber das unterließen sie dann doch.

Die Frau, die Tag für Tag zur Schule geht und Teenagern von englischer Grammatik und deutscher Prosa erzählt, die durch die Straßen der Nachbarschaft joggt, die im Flüchtlingsheim aushilft und für ihre alte Nachbarin einkauft, die alleinerziehende Mutter, die sich so rührend um ihren Sohn kümmert und alles so bewundernswert auf die Reihe kriegt, und das, obwohl sie so viel Pech hatte im Leben, ist eine Mörderin.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Kann der Fremde das wissen? Will er sie damit unter Druck setzen? Leo darf es auf keinen Fall erfahren. Sarah holt die Pistole. Sie zielt auf den Fremden und drückt ab, zweimal. Mit rudernden Armen fällt er nach hinten. Aber sie spürte weder einen Rückstoß noch hörte sie einen Knall. Und der Fremde beginnt schallend zu lachen. Die Waffe habe er gefunden und entladen, erklärt er, ist aber sichtlich erstaunt, dass Sarah tatsächlich auf ihn geschossen hätte.

Obwohl es mitten in der Nacht ist, will Sarah auf der Stelle Leo abholen. Miriam ist wach; sie stillt Emily. Als die Freundin beichtet, sie habe mit Philipp am Telefon über sie gesprochen, weil sie sich Sorgen mache, rastet Sarah aus: Sie stürmt hinauf ins Kinderzimmer. Aber da ist Leo nicht. Hat der Fremde ihn entführt? Sarah hetzt nach Hause. Der Mann behauptet, Miriam habe angerufen. Leo sei bei ihr. Sarah glaubt ihm nicht, und als er auf sie zukommt, reißt sie ein Küchen­messer aus dem Block. Blitzschnell packt der Fremde ihr Handgelenk, versucht, ihr das Messer zu entwinden. Es gelingt ihr, sich loszumachen. Der ebenfalls keuchende Mann tritt einen Schritt zurück, und Sarah holt aus, zieht ihm die Klingenspitze quer über die Brust. Unter dem zerschnittenen Hemd kommt Philipps Muttermal zum Vorschein.

Ich starre Philipp an, Philipp starrt mich an.

Die letzten Tage kamen ihm irreal vor. Alles war sehr schnell gegangen. Seine Befreiung, der Abschied von den anderen. Raus. Vom schmutzigen, feuchten Lager, das zu seinem Zuhause geworden war, ins Krankenhaus, von dort in eine Limousine, von dort in die Lobby eines Hotels, alles in unter zwölf Stunden. Er hatte versucht, zu begreifen. Hatte versucht, Glück zu empfinden. Aber er kam nicht dazu.

Während er von den Farc-Rebellen im Dschungel-Camp gefangen gehalten wurde, hatte es immer wieder geheißen: „Keiner will für dich zahlen!“ Sieben Jahre lang dachte er rachsüchtig darüber nach, wer ihn verraten haben könnte. Bernd Schröder hätte mit in dem Auto sitzen sollen, aus dem heraus Philipp entführt wurde. Aber der ehrgeizige Mitarbeiter war im Hotel geblieben, angeblich wegen einer Erkältung. Sein väterlicher Freund Johann Kerber hatte ihn zu der Reise nach Kolumbien gedrängt. Wollte er Philipp ausschalten, um an dessen Vermögen zu kommen? Philipp wusste von den finanziellen Schwierigkeiten in Johanns Firma. Oder war Sarah die Drahtzieherin? Hatte seine Mutter nicht immer wieder behauptet, Sarah sei lediglich hinter seinem Geld her!

Nach seiner Rückkehr wollte sich Philipp Klarheit darüber verschaffen. Aber Harald Grimm vom Krisenstab des Auswärtigen Amtes, der dieser Frage in Zusammen­arbeit mit südamerikanischen Kollegen nachging, bat ihn um Geduld. Gerade erst erfuhr Philipp, dass er einfach zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort gewesen war. Niemand hatte ihn verraten.

Ohne den Morgen abzuwarten, fährt Philipp mit Sarah zu der Stelle im Wald, wo sie Fahrerflucht begingen.

„Warum hast du mich hierher gebracht?“, frage ich.
„Hier fing es an“, sagt Philipp. „Hier haben wir uns verloren.“

Philipp recherchierte damals und fand heraus, dass es sich bei dem Toten um einen 41-Jährigen handelte, der kurz zuvor arbeitslos geworden war. In vermutlich suizidaler Absicht ging Norman K. im Dunkeln auf der Landstraße durch den Wald und wurde von einem Auto erfasst. Der Fahrer beging Fahrerflucht, stellte sich aber später der Polizei. Bei den Untersuchungen stellte sich heraus, dass Norman K. von mehreren Autos überfahren worden war. Philipp versuchte zwei-, dreimal, es seiner Frau zu sagen, aber sie wollte nichts mehr über den traumatischen Abend hören. Als er für fünf Tage nach Kolumbien reiste, nahm er sich vor, Sarah nach seiner Rückkehr zu zwingen, ihm zuzuhören.

Wer Vincent sei, möchte Sarah noch wissen. Philipps bester Freund im Camp, lautet die Antwort.

Am nächsten Morgen, drei Tage nach seiner Rückkehr, verlässt Philipp das Haus, ohne Sarah zu wecken. Ein Ziel hat er noch nicht, aber er muss allein sein.

Einige Zeit später sitzt Sarah am Elbstrand. Als sie sich umdreht, blickt sie in Philipps Gesicht.

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Das Thrillerdrama „Die Wahrheit“ von Melanie Raabe dreht sich um Identität und Veränderung, Schuld und Verdrängung. Die Kernidee des Plots kann man nicht verraten, ohne der Auflösung im Buch vorzugreifen. Melanie Raabe zitiert selbst einmal Gerhart Hauptmann mit dem Satz „Es gibt nichts so Grauenvolles wie die Fremdheit derer, die sich kennen.“

Der albtraumhafte Beginn des Romans „Die Wahrheit“ reißt sofort mit: Das Auswärtige Amt teilt der Lehrerin Sarah Petersen mit, dass ihr Ehemann, ein reicher Unternehmer, nach sieben Jahren von den Farc-Rebellen in Kolumbien befreit worden sei. Der Mann, der in Hamburg aus dem Flugzeug steigt und von dem Beamten als Herr Petersen willkommen geheißen wird, ist für Sarah jedoch ein Fremder, den sie für einen Betrüger hält, der es auf das Vermögen ihres Mannes abgesehen hat.

Melanie Raabe kommt in „Die Wahrheit“ ohne Mordszenen aus. Stattdessen leuchtet sie die psychischen Vorgänge intensiv aus, und nur deshalb ist auch viel davon nachvollziehbar. Sie lässt die beiden Hauptfiguren abwechselnd als Ich-Erzähler und auch mit inneren Monologen auftreten. Das Geschehen wird also aus zwei subjektiven und deshalb unzuverlässigen Perspektiven geschildert, übrigens im Präsens. An zahlreichen Stellen sind falsche Fährten ausgelegt, und Melanie Raabe hat sich eine ganze Reihe von überraschenden Wendungen ausgedacht. Vielleicht werden durch den großen Aufwand in „Die Wahrheit“ zu hohe Erwartungen geweckt, die Melanie Raabe mit der Auflösung am Ende nicht erfüllen kann. Es wird Leserinnen und Leser geben, die die Handlung nicht durch und durch glaubwürdig finden, aber es handelt sich auf jeden Fall um ein spannendes, interessantes und zum Nachdenken anregendes Gedanken­experiment

Das in „Die Wahrheit“ erwähnte, heute zur Management-Literatur zählende Buch mit dem Titel „Die Kunst des Krieges“ stammt von Sun Tsu (auch: Sunzi), einem chinesischen General, Militärstrategen und Philosophen des 6. Jahrhunderts vor Christus. Eine erste Übertragung vom Chinesischen ins Deutsche ohne Umwege über das Englische oder eine andere Sprache stammt von Klaus Leibnitz (Karlsruhe 1989).

Den Thriller „Die Wahrheit“ von Melanie Raabe gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Nina Kunzendorf und Florian Lukas (ISBN 978-3-8445-2431-4).

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2016
Textauszüge: © btb Verlag

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.