Zeruya Shalev : Schmerz

Schmerz
Originalausgabe: Ke'ev Keter Verlag, Jerusalem 2015 Schmerz Übersetzung: Mirjam Pressler Berlin Verlag, Berlin 2015 ISBN: 978-3-8270-1185-5, 383 Seiten ISBN: 978-3-8270-7847-6 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die 45-jährige Schulleiterin Iris wurde vor zehn Jahren bei einem Attentat in Jerusalem physisch und vor 30 Jahren durch das Scheitern ihrer Jugendliebe psychisch verletzt. Sie leidet unter Schmerzen, und die Gegenwart wird von der Vergangenheit beeinträchtigt. Als Iris glaubt, Versäumtes nachholen zu müssen, ignoriert sie in ihrer Aufbruch­stimmung die zu erwartenden Verwerfungen in ihrer Familie. Aber dann wähnt sie ihre Tochter in Gefahr und konzentriert sich darauf, ihr zu helfen ...
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Kritik

Zeruya Shalev entwickelt die mehrere Wochen dauernde Handlung chronologisch aus der Sicht der Protagonistin Iris. Intensiv leuchtet sie das Beziehungsgeflecht, die Motive und das Verhalten der Romanfiguren in "Schmerz" aus.
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Die 45 Jahre alte Schulleiterin Iris Eilam lebt mit ihrem Ehemann Micki in Jerusalem. Das Ehepaar hat zwei Kinder. Nachdem Omer eingeschult worden war, brachte Micki ihn und die vier Jahre ältere Tochter Alma regelmäßig zur Schule. Auf den Tag genau vor zehn Jahren erhielt der Informatiker jedoch frühmorgens einen Anruf und musste wegen eines Systemabsturzes dringend in die Firma. Weil Omer sich nicht bändigen ließ und Alma noch Zöpfe geflochten haben wollte, fuhr er ohne die Kinder los, und Iris übernahm es, die beiden zur Schule zu bringen. Auf dem Rückweg explodierte neben ihr ein Linienbus, mit dem sich ein Selbstmordattentäter in die Luft sprengte. Iris lag ein Jahr lang im Krankenhaus und musste mehrmals operiert werden. Seither leidet sie unter Schmerzen.

Er kommt zurück, und obwohl sie ihn seit Jahren erwartet hat, kommt er, als wäre er nie weg gewesen, als hätte sie keinen einzigen Tag ohne ihn verbracht, keinen Monat, kein Jahr, und dabei sind genau zehn Jahre vergangen. […] und plötzlich war der Schmerz wieder da, und sie erinnerte sich.
Oder erinnerte sie sich zuerst, und dann kam der Schmerz? Sie hat ihn nie vergessen […]
Stumme Engel traten zu ihr, verbanden schweigend ihre Wunden, zerrissene Glieder brannten still, und sie, die anderen, schauten darauf mit geschlossenen Mündern, weiße Krankenwagen glitten geräuschlos durch die Straßen. Da schwebte eine schmale, geflügelte Tragbahre auf sie zu, und sie wurde auf Händen getragen und daraufgelegt, und in diesem Moment, in dem sie von dem brennenden Asphalt gehoben wurde, wurde der Schmerz geboren.
Zwei Kinder hatte sie zur Welt gebracht und trotzdem erkannte sie ihn nicht, als er sich ihr zum ersten Mal in seiner ganzen Macht offenbarte, sich ins Zentrum ihres Körpers bohrte, ihre Knochen zersägte, sie zu feinem Staub zermalmte, Nerven zerriss, in inneren Bereichen tobte, über die sie sich nie Gedanken gemacht hatte. Nur die Dinge oberhalb des Halses hatten sie interessiert, der Schädel und das Gehirn, das Bewusstsein und die Vernunft, das Wissen und die Überlegung, die Identität, das Gedächtnis, und plötzlich hatte sie nichts außer sich selbst, nichts außer ihm, außer dem Schmerz.

Inzwischen steht Omer, der damals sieben Jahre alt war, vor dem Schulabschluss. Alma hat ihren Militärdienst abgeschlossen und ist gerade nach Tel Aviv gezogen, wo sie als Kellnerin in einer Bar arbeitet. Iris schläft jetzt in Almas Zimmer, wo Micki sie mit seinem Schnarchen nicht mehr stört.

Als Iris vier Jahre alt war, wurde ihr Vater Gabriel Segal von einem ägyptischen Soldaten im Krieg getötet. Kurz danach kamen ihre Zwillingsbrüder Jariv und Joav zur Welt, und Iris half ihrer Mutter, sie aufzuziehen. Ihre eigene Geburt sei unerwünscht gewesen, glaubt sie. Inzwischen ist ihre Mutter dement und wird von einem Singhalesen namens Prashant gepflegt.

Als Micki mit Iris ins Jerusalemer Schmerzzentrum fährt, holt der Arzt, der Iris untersucht, seinen Vorgesetzten, zeigt ihm die Röntgenbilder und berät sich kurz mit ihm. Iris traut ihren Augen nicht: In dem Chefarzt Dr. Rosen erkennt sie ihre erste Liebe wieder. Damals, vor fast 30 Jahren, hieß er noch Eitan Rosenfeld. Als einziger Sohn pflegte er damals seine todkranke verwitwete Mutter Mirjam, und Iris unterstützte ihn dabei. Sobald Mirjam gestorben war, trennte er sich von Iris. Er wollte ein neues Leben beginnen und nicht ständig durch sie an seine Trauer erinnert werden. Für die 17-Jährige brach eine Welt zusammen. Sie war wie gelähmt, sprach wochenlang nichts und aß auch kaum noch etwas. Ihre Mutter befürchtete, dass Iris vor Liebeskummer sterben könnte.

Iris weiß nicht, ob Eitan sie erkannt hat. Er verließ den Raum rasch wieder, ohne sie noch einmal anzusehen. Ohne Micki etwas davon zu sagen, ruft sie von zu Hause aus im Schmerzzentrum an und lässt sich trotz der Kosten einen Termin beim Chefarzt geben. Aber bis dahin hält sie es nicht aus: Zwei Wochen vor dem Termin geht sie hin. Das Wartezimmer ist voller Patienten. Als Eitan aus dem Behandlungsraum kommt, erblickt er sie und bittet sie, auf ihn zu warten. Einige Zeit später geht er mit ihr in eine Ecke, wo sie ungestört miteinander reden können, aber nach wenigen Minuten muss er zurück zu den Patienten. Iris trägt seine Telefonnummer auf ihrem Handy unter „Schmerz“ ein.

Am Abend schleicht sie sich zu einem Fenster seines Elternhauses. Iris nimmt an, dass es seit Jahren leer steht, aber Eitan ist anwesend. Er holt sie hinein. Sie erfährt, dass der ein Jahr Ältere aus zwei geschiedenen Ehen je ein Kind hat und allein hier wohnt. Noch am selben Abend schlafen sie miteinander.

In den nächsten Tagen besucht Eitan sie, wenn Micki im Büro ist und Omer in der Schule. In Almas Bett lieben sie sich.

Als Alma ihre Eltern besucht, sieht sie nicht nur verändert aus, sondern wirkt auch in ihrem Verhalten anders. Sie kleidet sich betont unschön und hat ihr von Natur aus nussbraunes Haar nicht nur extrem kurz schneiden, sondern auch pechschwarz färben lassen. Iris ist besorgt, aber dann geht sie euphorisch zum Frisör und lässt sich ebenfalls färben. Sie vernachlässigt ihre Aufgaben in der Schule und meldet sich krank. Wie durch ein Wunder hat sie die große Liebe ihres Lebens wiedergefunden. Eitan drängt sie, ihren Mann zu verlassen, und es gibt für Iris keinen Zweifel daran, dass sie mit ihm neu anfangen wird. Doch als sie sich anschickt, mit Micki darüber zu reden, sitzt er vor dem Computer, ist in ein Fernschachspiel vertieft und möchte nicht gestört werden.

Ihre langjährige Freundin Dafna hält es zwar für richtig, dass Iris endlich einmal nicht nur ihre Pflicht tut, aber sie glaubt nicht an die große Liebe und bezweifelt, dass sich Eitan Rosen für mehr als eine kurze Affäre eignet. Pragmatisch rät sie Iris, zwar die Leidenschaft vorübergehend auszukosten, aber ihre Familie nicht aufs Spiel zu setzen.

Ebenso wie die Mütter Iris und Dafna sind ihre gleichaltrigen Töchter Alma und Schira befreundet. Schira erzählt Iris, dass sie sich Sorgen mache, nicht nur, weil Alma sich von ihr zurückgezogen habe, sondern vor allem wegen der Gerüchte über ihren Chef Boas Gerber. Bei dem Barbesitzer soll es sich um eine Art Guru handeln, um den sich einige junge Frauen, die seine Töchter sein könnten, wie in einer Sekte geschart haben.

Besorgt nimmt Iris sich vor, nach ihrer Tochter zu sehen. Micki bezweifelt allerdings, dass Alma in die Fänge eines Gurus geraten sein könnte und hält nichts davon, sich einzumischen. Erst als Iris darauf besteht, dass sie zusammen nach Tel Aviv fahren, fügt er sich. Ohne einen konkreten Plan zu haben, besuchen sie die Bar, in der Alma arbeitet. Sie ist jedoch nicht da. Eine andere Kellnerin nimmt die Bestellung auf. Nachdem Iris und Micki gegessen haben, fragen sie die junge Frau nach Alma. Daraufhin ruft die Bedienung den Chef, und Boas Gerber erklärt Almas Eltern, ihre Tochter arbeite an etwas Wichtigerem als dem Bedienen in der Bar, sie befreie sich von ihren unerwünschten Konditionierungen. Außenstehende könnten das allerdings nicht verstehen.

Während der Rückfahrt müssen Iris und Micki sich übergeben. Alma ruft wütend an und wirft ihren Eltern vor, ihren Lehrer verärgert und dadurch ihr Leben zerstört zu haben. An einem der nächsten Tage kommt sie nach Jerusalem und schimpft weiter. Es stellt sich heraus, dass die Kellnerin Noa Werschawski, die Iris und Micki bediente, seit zwei Jahren in der Bar arbeitet und Boas Gerber als spirituellen Lehrer verehrt. Vor vier Monaten gewann sie Alma nicht nur als Kollegin und Mitbewohnerin ihres Apartments in Tel Aviv, sondern auch als weitere Anhängerin des Gurus. Die jungen Frauen sind Boas Gerber dankbar, dass sie für seine Unterweisungen nichts zu bezahlen brauchen und arbeiten in der Bar unentgeltlich für ihn. Ihren Lebensunterhalt verdienen sie als Kellnerinnen in anderen Gaststätten. Iris und Micki sind entsetzt, als Alma bedenkenlos berichtet, Sex gehöre zu Boas Gerbers Lehrmethoden. Beispielsweise habe er sie letzte Woche dazu angehalten, jeden Tag mit einem anderen Mann zu schlafen. Dadurch lerne sie, unverkrampft mit Intimitäten umzugehen, erklärt sie.

Als Boas Gerber anruft und sie auffordert, unverzüglich zu ihm zu kommen, zögert Alma nicht, ihm zu gehorchen. Iris fährt sie nach Tel Aviv, statt sie nur zur Bushaltestelle zu bringen. Nach der Ankunft ist sie todmüde und bittet Alma, in deren Bett übernachten zu dürfen.

Am nächsten Tag reinigt sie die verwahrloste Wohnung der beiden jungen Frauen, bringt die schmutzige Wäsche weg, kauft ein und kocht.

In Noas Adressbuch sucht sie nach der Telefonnummer der Eltern der jungen Frau und ruft sie in Galiläa an. Die Mutter ist zwar schockiert über die Nachricht, dass Noa einem Guru verfallen sei, lehnt es jedoch ab, in das Leben der 23-Jährigen einzugreifen.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Während Iris noch in Tel Aviv ist, nimmt Eitan dort an einer Konferenz teil und fordert sie auf, zu ihm ins Hotel zu kommen. Sie möchte ihn ebenfalls sehen, ist dann aber durch die Sorge um ihre Tochter so abgelenkt, dass sie nicht einmal auf seine SMS antwortet.

Auf der Straße trifft sie Sascha, einen früheren Schüler. Zu Beginn ihrer Tätigkeit als Schulleiterin verlangten einige Eltern, den verhaltensauffälligen Jungen zu relegieren und drohten damit, andernfalls ihre eigenen Kinder von der Schule abzumelden. Statt Sascha aufzugeben, kümmerte Iris sich besonders um ihn, und mit viel Geduld gelang es ihr, ihn zu erziehen. Nun sucht er eine Wohnung in Tel Aviv, will studieren und später Kinderpsychiater werden. Iris vertraut ihm ihre Sorgen um Alma an und bittet ihn, sich möglichst unauffällig in der Bar umzusehen.

Sobald er ihr per SMS mitteilt, dass Alma die Bar stark geschminkt und in einem aufreizenden Kleid verlassen habe, rennt Iris auf die Straße und sucht nach ihr. Dabei stürzt sie, verstaucht sich die Hand und prellt sich einige Rippen. Sascha findet sie und bringt sie in einem Taxi zum Apartment der beiden jungen Frauen. Alma sitzt vor der Haustüre, denn sie hat ihren einzigen Schlüssel der Mutter anvertraut. Erschöpft kriecht Iris ins Bett, und schließlich folgt Alma ihrer Aufforderung, sich zu ihr zu legen.

Am nächsten Vormittag, als Iris aufwacht, ist ihre Tochter fort. Enttäuscht ruft sie Micki an und unterrichtet ihn über die letzten Ereignisse. Er soll sie abholen. Sie will aufgeben. Aber Micki teilt ihr mit, dass Alma ihm bei einem Telefongespräch vor einer Stunde gesagt habe, sie werde an diesem Tag zu Hause bleiben und sich um ihre verletzte Mutter kümmern. Das kann Iris nicht glauben. Während sie jedoch noch mit Micki spricht, kommt Alma zurück: Sie hat Schmerztabletten für Iris gekauft.

Noch am selben Tag kommen Micki und Omer nach Tel Aviv. Omer zeigt seiner Mutter und seiner Schwester den Musterungsbescheid, den er gerade erhalten hat. Micki gibt Iris einen Zettel, der unter dem Scheibenwischer ihres Autos klemmte. Darauf steht: „Ruf mich an“. Sie zerknüllt das Papier und murmelt, dass es sich dabei nur um einen Irrtum gehandelt haben könne.

Iris hält es für möglich, dass Micki von ihrem Seitensprung weiß, zumal sie einmal ihr Handy zu Hause liegen ließ und er es ihr nachbrachte. Bei dieser Gelegenheit könnte er eine SMS von Eitan Rosen gelesen haben.

Dass Alma und Sascha sich füreinander zu interessieren scheinen, findet Iris ermutigend.

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In ihrem Roman „Schmerz“ erzählt Zeruya Shalev eine Familiengeschichte, die veranschaulicht, wie dünn die Membran zwischen Ordnung und Chaos ist. Dass Iris vor langer Zeit nicht nur physisch bei einem Attentat, sondern auch psychisch durch das Scheitern ihrer Jugendliebe verletzt wurde, wirkt noch immer nach. Die Gegenwart wird von der Vergangenheit beeinträchtigt. Als Iris glaubt, Versäumtes nachholen zu müssen, ignoriert sie in ihrer Aufbruch­stimmung die zu erwartenden Verwerfungen in ihrer Familie. Aber dann wähnt sie ihre Tochter in Gefahr, konzentriert sich darauf, ihr zu helfen und wird von Schuldgefühlen umgetrieben: Was hätte sie bei der Erziehung besser machen können? Richtete sie ihr Augenmerk zu sehr auf den schwierigen Sohn und vernachlässigte dadurch die Tochter? Oder kümmerte sie sich um beide zu wenig, weil ihr beruflicher Einsatz für problematische Schüler zu viel Kraft kostete? In diesem Kontext geht es in „Schmerz“ auch um Befürchtungen, Fürsorge und Kontrolle.

Zeruya Shalev beginnt „Schmerz“ am 10. Jahrestag des Attentats in Jerusalem, bei dem Iris schwer verletzt wurde. Sie entwickelt die mehrere Wochen dauernde Handlung chronologisch aus der Sicht der Protagonistin, aber nicht in der Ich-Form, sondern in der dritten Person Singular und übrigens im Präsens. Intensiv leuchtet sie das Beziehungsgeflecht, die Motive und das Verhalten aus. Nach der Konfrontation mit all den Verstrickungen, Sorgen und Schuldgefühlen überrascht das angedeutete Happy End ein wenig.

Wie die Romanfigur Eitan Rosen in „Schmerz“ hat auch die Autorin Zeruya Shalev zwei Kinder aus zwei gescheiterten Ehen. Aber noch viel deutlicher ist der autobiografische Bezug beim Attentat: Nachdem Zeruya Shalev am 29. Januar 2004 ihre Kinder in Jerusalem zur Schule gebracht hatte, geriet sie mit ihrem Auto vor dem Amtssitz des israelischen Ministerpräsidenten neben einen Linienbus, in dem sich in diesem Augenblick ein 24 Jahre alter Selbstmordattentäter in die Luft sprengte. Elf Menschen kamen dabei ums Leben. Zeruya Shalev wurde schwer am Knie verletzt.

Den Roman „Schmerz“ von Zeruya Shalev gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Maria Schrader.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2016
Textauszüge: © Berlin Verlag

Zeruya Shalev (kurze Biografie)

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