Urs Widmer : Im Kongo

Im Kongo
Im Kongo Erstausgabe: Diogenes Verlag, Zürich 1996
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Dem bisher "schicksalslosen" Altenpfleger Kuno erzählt sein Vater im Seniorenheim seine turbulente Vergangenheit. Eine Reise in den Kongo, wo sich Kuno geschäftlich niederlässt, konfrontiert ihn mit bisher unvorstellbaren Eindrücken und lassen ihn Glück und erfüllte Liebe finden.
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Kritik

Der zum Teil höchst komische Roman "Im Kongo" ist eine Farce auf die Heuchelei der Gesellschaft und auf sinnlos gewordene Rituale des Alltags sowie eine Anklage gegen Rassismus; außerdem eine liebevolle Hommage des Autors an Joseph Conrads "Herz der Finsternis".
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„Da können Sie warten, bis Sie schwarz sind“, das ist die stereotype Antwort der attraktiven Krankenschwester Anne auf die Heiratsanträge, die ihr von allen möglichen Insassen des Altenheims gemacht werden, in dem sie arbeitet. Auf diese Weise lässt sie auch Kuno abblitzen, der als Altenpfleger auf der gleichen Station wie sie tätig ist.

Der 56-jährige Junggeselle ist vom Leben enttäuscht: „In diesem Jahrhundert ist noch der letzte Depp bei der Landung in der Normandie mitgerannt oder in Hiroshima umgekommen. Einzig ich habe kein Schicksal.“ Während er Kaugummireste von Fußboden des Zimmers abkratzt, in das ein neuer Patient einziehen soll, unterhält er sich mit Herrn Berger, der einen neuen Mitbewohner bekommen soll: Kunos Vater. Der hatte auch kein Schicksal, meint Kuno — da wird er sich aber bald vom Gegenteil überzeugen lassen müssen.

Im ersten Teil des Buches erfahren wir von der Kindheit Kunos in der Schweiz, von dem tragischen Tod seiner Mutter und wie sein Vater sich fürsorglich um ihn kümmerte. Und es wird Willy vorgestellt, Kunos bester Freund, von dem er immer übervorteilt und ausgenutzt wurde — und der ihm auch noch seine erste Jugendliebe, Sophie, ausspannte. Der von dem naiven und tollpatschigen Kuno bewunderte Willy wanderte dann nach Afrika aus. „In den Kongo, wo die Schwarzen am schwärzesten sind.“ Herr Berger meint: „Zu meiner Zeit sagten wir Neger, nicht Schwarzer.“

Während eines heftigen Gewitters trifft Kunos Vater tropfnass in Begleitung einer jungen amerikanischen Studentin ein, die ihm in seiner Wohnung im Haushalt zur Hand ging.

Sie sprach mit jenem Akzent, den man lieben muss, will man das Gesagte verstehen.

Es stellt sich heraus, dass Fritz Berger und Kunos Vater sich kennen. Sie haben sich vor fünfzig Jahren zum letzten Mal gesehen. Beide arbeiteten im Zweiten Weltkrieg für den Nachrichtendienst der Schweizer Armee „Wiking“. Fritz Berger war der Kurier, und Kuno Lüscher der Führungsoffizier.

Im zweiten Kapitel tauschen die beiden alten Männer ihre Erlebnisse während ihrer Spionagetätigkeit aus. Kuno ist entsetzt, wie ungezwungen die beiden Greise ihre Erinnerungen aufleben lassen:

„Tote! … Millionen Tote! So viele Tote wie noch nie in der Geschichte der Menschheit! Hekatomben!“ Konnte es sein, dass mein Vater es nicht mehr wusste? „Die, die in den Straßen erschlagen wurden? Die, die sie in Kanäle stießen … Die im Ghetto? Die Frauen mit ihren Kindern im Arm, in die Gruben gestoßen? Kalk drüber, und dann die nächste Schicht Menschen? Kurzsichtige, deren Brillen zerschlagen wurden, sie sahen ihr Ende wenigstens nicht? … Die, die sie mit Stangen in Eislöcher stießen? … Die sie in die Duschräume trieben, und dann warfen sie das Gas zwischen ihre Beine! Die im elektrischen Zaum schmorten! Denen das Hirn herausoperiert wurde! … Und die, die verhungerten … Habt ihr sie vergessen?“ „Nein“, sagte Kunos Vater. „Keinen.“

Fritz Berger war „Kaufmann für optische Geräte“, wie er sich selbst bezeichnet. Weil seine Firma ein hoch empfindliches Nachtsichtgerät entwickelt hatte, für das sich die deutsche Wehrmacht interessierte, wurde er bei Hitler auf dem Berghof vorgeladen. „Erstklassiges Gerät“, lobte Hitler. Die Linsen müssten extremen Temperaturen standhalten, wenn sie im russischen Winter eingesetzt werden sollten. „Von Brauchitsch warnt mich jeden Tag vor dem russischen Winter. Ein Oberkommandeur, der sich vorm Schnee fürchtet, bevor die Schlacht überhaupt angefangen hat! Sehen Sie irgendwo einen russischen Winter?“ Dabei weist er zum Fenster hinaus. „Weit und breit kein russischer Winter. Im September ist ganz Russland deutsch. Der Rote Platz braun. — Was bin ich heute guter Laune!“ Hitler machte es sich auf dem Sofa bequem.

Jeder meint mich zu kennen … Jeder glaubt zu wissen, dass ich nicht rauche. Dass ich kein Fleisch esse. Dass ich nicht trinke. Das denkt doch jeder. Sie doch auch! … Wissen Sie, warum kein Nikotin, keine Tierfaser, kein Alkohol meinen Körper verunreinigt? Weil ich das so will! Ich kann auch das Gegenteil wollen!

Und dann bestellte er drei doppelte Obstler. Der Schnaps musste aber erst im Dorf besorgt werden. Die Flasche wurde durch Ex-Trinken geleert und die Unterhaltung immer ungezwungener.

Hitler holte aus seiner Jacke eine Visitenkarte, schrieb eine Telefonnummer auf die Rückseite und steckte sie Berger zu: „Wenn Sie in Schwierigkeiten sind … Strengst geheim. Wer sie wählt, wird in erster Priorität mit mir verbunden. Wann immer. Wo immer ich bin.“

Unvermutet wird Kuno von einem Nachbarn aufgesucht, der früher neben dem Anwesen seiner Familie wohnte. Anselm Schmirhahn besaß eine Brauerei. Zur Leitung einer Niederlassung in Kisangani hatte er seinerzeit Willy hingeschickt. (Sophie war ihm gefolgt.) Über dreißig Jahre führt er nun schon die Brasserie Anselme du Congo — und seit einem Jahr hat er auf keinerlei Nachricht mehr reagiert.

Kuno soll hinfahren und Willy „tot oder lebendig“ zurückbringen. Flugticket, Visum, eine Brieftasche voller Dollars hat Schmirhahn gleich mitgebracht — und Kuno nimmt das Angebot kurz entschlossen an. Im Gehen ruft er Schwester Anne zu, dass er ein paar Tage freinehme — „dringende Familienangelegenheiten“ — und: „Ich liebe Sie!“

Im dritten Teil sucht und findet Kuno die Brauerei und deren Besitzer. Er trifft dort auf eine Frau, die genau wie Sophie aussieht, nur — sie ist „schwarz, mit Kraushaarmähne und Wulstlippen“. Sie erkennt Kuno sofort, lässt ihre Schürze fallen und küsst ihn. Die scheue Liebelei ihrer Jugend findet nun in einem orgiastischen Liebesakt lautstark ihre Erfüllung. Sophies Mann kommt dazu: „Besuch?“ „Wie du siehst“, sagt Sophie. “ „Was heißt hier sehen? Man hört euch bis zu den Quellen des Nils“, meint Willy, der ebenfalls schwarz ist.

Das Schweizerdeutsch, das Willy spricht, die seit einem Unfall fehlenden drei Finger an dessen Hand, und dass Sophie den „Sechseläuten-Marsch“ singt, überzeugen Kuno, dass es sich um die Gesuchten handelt.

Wir wissen nicht, warum wir schwarz wurden. Wir waren es plötzlich. Es ist jedenfalls nichts Oberflächliches. Keine Pigmentveränderung, durch die Sonne etwa. Unsre Tochter kam schwarz auf die Welt.

Willy muss zu einem „Königstreffen“, bei dem sich die mächtigsten Stämme des Dschungels treffen. Und dafür benötigt der Brauereibesitzer einen „Groß-Wesir“, so will es der Brauch. Bei dem Ritual kommt es auf Machtabgrenzung und Sozialkontakte an; am Rande der Konferenz sind Handelstätigkeiten nicht verpönt. („Auch die Direktoren von Toyota und Nestlé Zaire sind heute recht wichtige Dämonen.“) Die Stammesfürsten versuchen, sich mit dem Prunk ihrer Maskierung gegenseitig zu übertreffen.

Kuno wird zum Groß-Wesir herausgeputzt, vor allem aber muss er schwarz werden.

Zwei Frauen zogen mich ohne weitere Umstände aus und rieben mir Ruß ins Gesicht, ohne dass ich eine Chance gehabt hätte, sie abzuwehren … Sie steckten mich in ein schweres Kostüm, das auf der Haut kratzte und entsetzlich stank. Alter Ziegenbock. Ich war mit Zotteln und Fetischen behangen, mit toten Fröschen, Hühnerkrallen, Schlangenhäuten. Schellen und Glocken hingen wie Gürtel um mich herum. Ich schwitzte sofort Bäche. Ich kriegte eine Maske, ein tonnenschweres, fast einen Meter hohes Ding mit einem hohen Spitzhut, aus dessen Augenlöchern ich kaum mehr als die Beine der Menschen um mich herum sah. … Oben auf meiner Maske war eine mit einem dunklen Stoff bezogene Laterne befestigt. Ich konnte sie in Betrieb setzen, indem ich einen kleinen Schalter im Ärmel bediente. Batterien gab es offenbar in Willys Königreich. Seltsame Dämonensymbole wurden sichtbar.

Die Tradition gebietet es, dass die höchstgestellten Teilnehmer des Königstreffens in ein Bordellzelt geführt werden. Dort erwarten fünf weiße (!) Frauen, alle in schwarzen Unterkleidern, auf Matratzen liegend die Männer. „Huren aus Brüssel“, informiert Willy seinen Groß-Wesir. „Ist ein Teil des Rituals. Ich kann das Geschenk nicht ausschlagen.“ Auch Kuno wird in das Zelt eingeladen. Das scheint ihm aber in Anbetracht seiner künstlichen Schwärze zu riskant. Um nicht unhöflich zu erscheinen, flüstert Willy wegen Kuno dem König eine Entschuldigung ins Ohr. Dieser rappelt sich gerade völlig erschöpft von einem Kissenberg hoch: „Ich glaube, ich lass mir meinen auch abschneiden.“

Kuno hat in der Zwischenzeit Bekanntschaft mit dem „Löwenherrscher“ gemacht, der von seinem dreisten Verhalten beeindruckt war, weil er sich vor ihm „nicht in den Staub geworfen“ hatte. Deshalb drückte er ihm eine Visitenkarte mit seiner Geheimnummer in die Hand: „Priorité absolue. Kennt niemand.“ Für den Fall der Fälle. Willys Brauerei steht nämlich auf dem Stammesgebiet des Löwenherrschers, und der beabsichtigt, „sie heim in sein Reich“ zu holen.

Kuno kann Willy nicht überreden, in die Schweiz zurückzukehren. Er fliegt allein nach Hause. Im Flugzeug geht Kuno zur Toilette.

Als ich die Hände wusch und in den Spiegel schaute, sah ich, dass ich einen weißen Vollbart hatte. Kraushaare. Und dass mein Gesicht tiefschwarz war.

Als Kuno im Altenheim ankommt, findet er seinen Vater im Sterben vor.

„Papa!“, rief ich. „Ich bin nicht Ihr Vater“, murmelte er. „Mein Sohn hat keinen Bart.“ Und etwas später: „Da bist du ja, Kuno“, flüsterte er, ohne die Augen zu öffnen. „Wer war denn der Neger mit dem Bart?“

Der Vater will dem Sohn noch die näheren Umstände der Ermordung seiner Mutter sagen, aber dazu kommt es nicht mehr.

Kuno schaut bei Anne vorbei. Nach kurzer Irritation fasst sie ihn bei der Hand und führt ihn in ein leeres Patientenzimmer.

Wir küssten uns jetzt auf dem Bett liegend und begannen die Himmel der Liebe so begierig zu erstürmen, dass wir wohl den einen oder anderen übersprangen. Jedenfalls waren wir so bald im siebenten, dass wir nicht mehr wussten, wer weiß war und was schwarz. Es war überwältigend.

Anne braucht nicht lange überredet zu werden: Sie packt schnell ein paar Sachen zusammen und fliegt mit Kuno in den Kongo: „Afrika hat mich immer begeistert. Ein Jammer, dass ich nicht schwarz bin.“ Er tröstet sie: „Man kann nicht alles haben.“ Kuno übernimmt die Brauerei. Alles läuft prächtig.

Anne sah anders als zuvor aus. Schöner, strahlender. Ihre Haare waren nicht mehr blond und glatt, sondern flammten purpurn und krausten sich. Ihre Lippen waren voller geworden. Ihre Haut war dunkler. Ja, ich konnte regelrecht zusehen, wie sie schwarz wurde.

Dann fällt dem „Löwenherrscher“ plötzlich ein, dass er das Land, auf dem sich die Brauerei befindet, zurückhaben will. Soldaten mit Maschinengewehren marschieren auf dem Anwesen ein. Als die Situation ausweglos scheint, fällt Kuno in letzter Verzweiflung die Visitenkarte ein, die er auf dem Königstreffen zugesteckt bekam: MOBUTO steht in Goldprägung gedruckt und eine Telefonnummer. Als Kuno dem Herrscher sagt, dass Willy nun doch das Land verlassen hat und er sein Nachfolger ist, befiehlt Mobuto, das Feuer einzustellen.

Kuno und Anne haben sich im Kongo etabliert, und lieben sich — wie im Märchen:

Ich bin, seit einem Jahr und sieben Tagen nun, immer noch fassungslos, wenn ich Anne erblicke. … Sie, umgekehrt, liebt mich ebenso. Ich bin ja mindestens so schwarz wie sie. Wir küssen uns Nacht für Nacht. Tagsüber arbeiten wir.

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Was hat die Schweiz mit dem Kongo gemeinsam? Mehr als man auf den ersten Blick vermuten würde.

Diese zum Teil höchst komische Geschichte ist eine Farce, die auf die Heuchelei der Gesellschaft, auf sinnlos gewordene Rituale des Alltags anspielt und als Anklage gegen den Rassismus zu verstehen ist. Der hohlen Floskel „da können Sie warten, bis Sie schwarz sind“ wird allerdings Bedeutung beigemessen: Wünsche werden wahr: Eine teilweise märchenhafte und äußerst unterhaltsame Geschichte, mit der Urs Widmer uns wohl auch sagen will, dass die Menschen von der Umwelt geprägt werden: „Im Kongo“.

Nicht unerwähnt darf bleiben, wie Urs Widmer sich auf den Roman Joseph Conrads „Herz der Finsternis“ bezieht (den er neu übersetzt und mit einem Nachwort versehen hat). Die Beschreibung des Dschungels kommt ausführlich vor; die Flussfahrt, die Rituale, die Fetische und einige Figuren des Originals tauchen auf. In Anlehnung und Abwandlung des von Urs Widmer offensichtlich sehr geschätzten Autors gelingt ihm mit „Im Kongo“ eine liebevolle Hommage.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Irene Wunderlich 2002
Textauszüge: © Diogenes Verlag, Zürich

Urs Widmer (Kurzbiografie)

Urs Widmer: Der Geliebte der Mutter
Urs Widmer: Das Buch des Vaters
Urs Widmer: Ein Leben als Zwerg
Urs Widmer: Reise an den Rand des Universums

Eva Menasse - Dunkelblum
Das Dorf Dunkelblum ist fiktiv, aber Eva Menasse spielt in ihrem gleichnamigen Roman auf das Massaker von Rechnitz im Frühjahr 1945 an, das sie passenderweise als Leerstelle ausspart, denn ihr geht es nicht um die zeitgeschichtlichen Ereignisse, sondern um das kollektive Schweigen nach dem Kriegsverbrechen, und das veranschaulicht sie in einer vielstimmigen Komposition.
Dunkelblum