Bernadine Evaristo : Mädchen, Frau etc.
Inhaltsangabe
Kritik
Amma
Amma Bonsu wird als jüngstes von vier Kindern eines aus politischen Gründen aus Ghana geflohenen Journalisten geboren, der in seiner Wahlheimat England nur als Bahnschaffner Arbeit fand. Ammas von einem nigerianischen Studenten gezeugte Mutter kam 1935 in Schottland zur Welt.
Im Alter von elf Jahren freundet sich Amma mit ihrer Klassenkameradin Shirley Coleman an. Die beiden bleiben zeitlebens enge Freundinnen, aber Shirley wird Lehrerin, während Amma mit ihrer Freundin Dominique eine Theatertruppe in London gründet. Ihren unterschiedlichen Neigungen entsprechend, übernimmt Dominique die Geschäftsführung, und Amma die künstlerische Leitung.
Dominique stammt aus Bristol. Ihre Mutter Cecilia ist afro-guyanisch, ihr Vater Wintley indo-guyanisch. In der Pubertät merkte Dominique, dass sie sich zu anderen Mädchen hingezogen fühlt.
ein, zwei Mal versuchte sie es mit Jungs
ihnen gefiel es
sie ertrug es
Anders als Dominique, die im Lauf der Zeit mehrere jeweils monogame lesbische Beziehungen hat, lässt sich Amma auch gleichzeitig mit mehreren Frauen ein und schwärmt für Polyamorie.
Amma war nicht wählerisch, vor ihren Freundinnen prahlte sie mit ihrem genuin egalitären Geschmack, der über Kultur-, Klassen-, Meinungs-, Hautfarben-, Religions- und Generationsgrenzen hinwegsah
Amma wohnt einige Zeit in einem zur „Republik Freedomia“ umbenannten besetzten Haus in London. Der Eigentümer Jack Staniforth unternimmt nichts gegen die jungen Leute, aber nach seinem Tod lässt der Sohn Jonathan Staniforth das Haus sofort räumen.
Shirleys in einer schwulen Beziehung mit Kenny lebender Freund Dr. Roland Quartey, ein schwarzer Intellektueller mit eigener Fernsehsendung, dem es wichtig ist, nicht für einen schwarzen Intellektuellen gehalten zu werden, ist zu einer Samenspende für Amma bereit. Damit wird Ammas Tochter Yazz gezeugt.
Als Dominique mit ihrer Geliebten Nzinga Großbritannien verlässt, löst sich das gemeinsam geleitete Theater auf, aber Amma engagiert sich auch weiterhin für eine sozialistische Theatertruppe. Mit Anfang 50 schafft sie den Durchbruch: Sie inszeniert am National Theatre in London mit ausschließlich schwarzen Schauspielerinnen das von ihr selbst geschriebene, in der Bucht von Benin spielende Stück „Die letzte Amazone von Dahomey“. Nach dem Erfolg des radikalen Dramas gehört Amma paradoxerweise zum Establishment.
Yazz
Ammas Tochter Yazz studiert Englische Literatur und möchte Journalistin werden. Zu ihrer „Crew“, wie sie es nennt, gehören die Kommilitoninnen Waris, Courtney und Nenet.
Waris‘ Großmutter lebte in Mogadischu, wo die Familie eine Zahnarztpraixs betrieb. Als ihr Mann ermordet wurde, zog sie mit den Töchtern nach England, in eine Sozialwohnung in Wolverhampton. Der Terroranschlag vom 9. September 2001 veränderte das Leben ihrer Hidschab tragenden Enkelin, denn von da an nahm das Misstrauen gegen sie spürbar zu. Aber Waris hat von ihrer Mutter Xaanan gelernt, dass es besser ist, sich nicht als Opfer zu fühlen. Sie studiert Politikwissenschaften, will Abgeordnete werden und lebt mit einem Somali-Norweger namens Einar zusammen.
Courtney studiert Amerikanistik. Ihre Eltern, die auf einem Hof in den Cotswolds Lamas züchten und einen Weinberg in Südafrika bewirtschaften, verabscheuen London.
sie halten die Stadt für ein Drecksloch voller Farbiger, Selbstmordattentäter, Linker, Aufschneider, Schwuler und Einwanderer aus Polen, die die hart arbeitenden Männer und Frauen in diesem Land um die Möglichkeit bringen, gutes Geld zu verdienen
Die aus Alexandria stammende Familie von Nenets Großvater war mit Mubarak befreundet. Ihre Eltern zogen als Diplomaten viel um, während Nenet im Internat lebte. Nach Mubaraks Sturz floh die Familie nach Großbritannien. Für die britische Staatsangehörigkeit zahlte der Vater ein Vermögen. Es fehlt der Familie nicht an Geld, und Nenet lässt denn auch ihre Arbeiten für die Universität von einem pensionierten Akademiker gegen Bezahlung schreiben.
Nenet war eine verwöhnte, faule Prinzessin ohne Moral, die nicht nach den Regeln spielte
Yazz wurde in der „Matchen-Liken-Chatten-Daten-Ficken-Generation“ sozialisiert. Solange sie noch nicht den Richtigen gefunden hat, betrachtet sie den amerikanische Doktoranden Steve als ihren „Fuck-Buddy“. Mit ihrer Mutter streitet sie über den Feminismus, den sie für überkommen hält:
bin ich Humanistin, das spielt sich auf einer viel höheren Ebene ab als Feminismus
Dominique
Amma ist entsetzt, als sich ihre Seelenverwandte Dominique in eine bildschöne charismatische Afroamerikanerin verliebt, die vorübergehend in England zu Besuch ist.
Die Eltern stammten aus Ghana. Ihre Mutter war 22 Jahre alt, als sie mit der fünfjährigen Nzinga und deren Bruder Andy von der englischen Stadt Luton in den auf einem Trailerpark in Texas stehenden Wohnwagen ihres neuen Lovers zog – und am eigenen Leib erfuhr, was Rassismus in den Südstaaten bedeutete. Eine Sozialarbeiterin holte die beiden Kinder dort heraus und brachte sie bei Pflegefamilien unter. Inzwischen baut Nzinga Blockhäuser auf „Wimmin’s Land“.
Als Nzinga in die USA zurückkehrt, begleitet Dominique sie. Die beiden richten sich in der feministischen Kommune „Spirit Moon“ auf einem Gelände in Long Island ein, das eine ältere Frau eingebracht hat, die sich Gaia nennt. Nzinga isoliert ihre Geliebte von den anderen Frauen, ändert deren Namen in Sojourner und verlangt bedingungslosen Gehorsam.
Nach einem Jahr taucht Amma auf und schaut nach ihrer früheren Freundin. Es stellt sich heraus, dass Nzinga ihre Briefe unterschlagen hat. Amma weist Dominique auf die Entmündigung hin und warnt sie vor einem weiteren Verbleib bei Nzinga, muss aber ohne sie wieder abreisen.
Erst etwas später sorgt sich auch Gaia um Dominique und überredet sie zur Flucht nach Los Angeles, wo sie zwei Jahre lang bei den mit Gaia befreundeten Rechtsanwältinnen Maya und Jessica wohnen kann, bis sie in der Verwaltung einer Filmproduktion angestellt wird.
Mit ihrer Lebensgefährtin Laverne adoptiert Dominique Zwillinge im Säuglingsalter: Thalia und Rory.
Sie beginnt, Open-Air-Veranstaltungen zu organisieren und leitet schließlich ein lesbisches Kunstfestival in Kalifornien, obwohl sie sich über die Kommerzialisierung des Feminismus ärgert.
und was mich auch noch nervt, sind diese ganzen Trans-Querulanten, du hättest mal sehen sollen, wie die auf mich losgegangen sind, als ich verkündet habe, mein Festival sei nur für Frauen, die auch als Frauen geboren sind und nicht für Frauen, die als Männer geboren sind, transphob haben die mich genannt, dabei bin ich das gar nicht, überhaupt nicht, ich bin sogar mit Transpersonen befreundet, aber der Unterschied ist doch der, ein Mann, der als Mann erzogen wurde, hat sich vielleicht nicht als solcher gefühlt, aber er wurde von der Umwelt wie einer behandelt, wie soll er da so sein wie wir?
Carole
Carole Williams lebt mit ihrer allein erziehenden afrikanischen Mutter in einer Sozialwohnung im Londoner Stadtteil Peckham.
Mit 13 wird das unerfahrene Mädchen von ihrer gleichaltrigen Freundin LaTisha zu einer Party eingeladen und trinkt zu viel. Trey, der Sportwissenschaften studiert, und seine Clique nutzen das aus, um Carole von LaTishas Elternhaus wegzulocken und zu vergewaltigen.
Carole schweigt über das Verbrechen, aber sie beginnt die Schule zu schwänzen und denkt:
echt, was – brachte – das – alles – noch?
Monate später, Carole ist inzwischen 14 Jahre alt, sucht sie Rat bei ihrer Lehrerin Shirley King, die ihr daraufhin hilft, ihre schulischen Leistungen wieder zu optimieren und sich dann in Oxford für ein Mathematikstudium zu immatrikulieren.
Bummi
Caroles Großvater Moses kam durch eine Explosion bei der illegalen Herstellung von Benzin im Nigerdelta ums Leben. Seine Verwandten vertrieben daraufhin seine Witwe, denn die beiden waren nur nach der Tradition, nicht aber vor dem Gesetz verheiratet. Sie zog mit ihrer Tochter Bummi – Caroles Mutter – nach Lagos und fand dort Arbeit in einem Sägewerk. Als Bummi 15 Jahre alt war, geriet die Mutter in die Kreissäge und verletzte sich tödlich. Bummi kam zu ihrer Tante Ekio, die sie skrupellos wie eine Haushaltssklavin ausbeutete.
Immerhin durfte sie zur Schule gehen und studierte schließlich Mathematik. Dabei begegnete sie in dem VWL-Doktoranden Augustine Williams, dem Sohn eines Sozialarbeiters und einer Stenotypistin. Nach seiner Promotion heirateten sie, und weil Dr. Williams in Nigeria keine berufliche Perspektive für sich sah, wanderte er mit seiner Frau nach England aus, wo er sich allerdings auch nur als Taxifahrer durchschlagen konnte und nach einigen Jahren an einem Herzinfarkt starb.
Bummi putzt, obwohl sie einen Universitätsabschluss in Mathematik hat. Sie nimmt sich vor, ihr eigenes Putzunternehmen zu gründen, und als sie merkt, dass der Bischof Aderami Obi sie begehrt, treibt sie es mit ihm und erhält dafür ein niedrig verzinstes Darlehen als Startkapital. BW Cleaning Services ist zunächst ein Einfrau-Unternehmen, aber bald schon beschäftigt Bummi zehn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, darunter Kofi, ein pensionierter Schneider aus Ghana, der später ihr zweiter Ehemann wird.
Als ihre Tochter Carole 13 Jahre alt ist und die schulischen Leistungen deutlich nachlassen, macht sich Bummi Sorgen. Sie glaubt an eine Trotzphase. Von der Gruppenvergewaltigung ahnt sie nichts. Als Carole es mit einem Stipendium auf eine weltberühmte Universität schafft, ist Bummi stolz und zugleich traurig, weil die Tochter das Verhalten ihrer aus reichen Familien stammenden Freunde annimmt und näselnd spricht, statt sich zu ihrer Herkunft zu bekennen.
Und dann verlobt sich Carole auch noch mit einem Engländer, der zur High Society gehört und seinen Stammbaum bis zu William dem Eroberer zurückverfolgen kann. Bei der einzigen Begegnung mit seinen hochnäsigen Eltern Mark und Pamela spürt Bummi deren Verachtung. Zum Glück heiratet das Paar nur standesamtlich und verzichtet auf eine Hochzeitsfeier.
Nach dem Mathematikstudium fängt Carole bei einer Bank in der City an, wird Brokerin und steigt zur Vice President auf.
LaTisha
Als LaTisha KaNisha Jones zwei Jahre alt war, kam ihre Mutter mit ihr aus St. Lucia nach Liverpool. Der Vater verließ einige Zeit später die Familie und zog mit seiner jungen Geliebten Marva und der bereits vier Jahre alten Tochter Tiannah nach New Jersey.
Jayla glaubt, denselben Vater wie LaTisha zu haben, bis die Mutter die Töchter darüber aufklärt, dass Jayla von einem gewalttätigen Freund in Liverpool gezeugt wurde.
Nach dem Schulabschluss fängt LaTisha in einem Supermarkt zu arbeiten an und absolviert eine firmeninterne Ausbildung. Mit Ende 20 wohnt sie noch immer bei der Mutter. Zum Glück für LaTisha ist Jayla seit dem Schulabbruch mit 16 arbeitslos und kann sich um ihre drei 12, 11 bzw. 10 Jahre alten Kinder kümmern, während ihre Halbschwester im Supermarkt zu tun hat.
Die Kinder Jason, Jantelle und Jordan bekam LaTisha ungewollt und von drei verschiedenen Männern.
Sie ist ehrgeizig und strebt eine Karriere zur Marktleiterin an.
Unerwartet kehrt der Vater zu ihnen zurück und klagt, dass es mit Marva nicht geklappt habe.
Shirley
Shirley Coleman studiert Geschichte und qualifiziert sich für das Lehramt. Voller Idealismus versucht sie an der Peckham School Kindern aus benachteiiigten Familien zu helfen, darunter auch der 14-jährigen Carole Williams, die sich dafür allerdings nie bedankt.
Sie heiratet den Juristen Lennox King, den Sohn guayanischer Eltern, die ihm in England eine bessere Zukunft ermöglichen wollten. Im Abstand von zwei Jahren bekommt das Ehepaar zwei Töchter. Karen wird später Apothekerin, Rachel Informatikerin.
Im Lauf der Jahre zerbröckelt Shirleys Idealismus, und als sie Carole bei der Premiere des Stücks „Die letzte Amazone von Dahomey“ ihrer langjährigen Freundin Amma Bonsu am National Theatre in London erstmals wiedersieht, klagt sie:
ich unterrichte immer noch. Gott sei’s geklagt, im selben alten Irrenhaus, das bereits mehrfach knapp der Zwangsschließung entgangen ist, das haben Sie vielleicht mitbekommen, ja, da bin ich immer noch, züchte die nächste Generationen Prostituierte, Drogendealer und Junkies heran
Winsome
Shirleys Eltern Winsome („Winnie“) und Clovis Robinson sind inzwischen über 80 Jahre alt. Ihr Bruder Errol ist Kriminalrat bei der Polizei, und Tony leitender Angestellter beim Jugendamt.
Winsome lernte Clovis Robinson in den Fünfzigerjahren in England kennen. Beide besinnen sich schließlich auf ihre Herkunft aus der Karibik und kehren nach Barbados zurück.
Als Shirley und Lennox mit ihrer Tochter Rachel und ihrer Enkelin Madison zu Besuch auf Barbados sind, erinnert sich Winsome daran, wie sie in England ein Jahr lang heimlich eine Affäre mit ihrem Schwiegersohn Lennox hatte.
Penelope
Bei Edwin Halifax handelt es sich um einen Versicherungs-Sachverständigen aus York. Seine Frau Margaret wurde in der Südafrikanischen Union geboren. 1913 waren ihre britischen Eltern dorthin gezogen, um vom Natives Land Act zu profitieren, der den Weißen 80 Prozent des Landbesitzes garantierte. Margarets Vater peitschte ungehorsame Landarbeiter aus, bis ihn während eines Ausritts eine Gruppe überfiel, vom Pferd zerrte und verprügelte. Daraufhin verkaufte er die Farm zu einem Schleuderpreis und kehrte mit der Familie nach England zurück.
Im Alter von 16 Jahren erfährt Penelope Halifax, dass sie ein Findelkind war und von Edwin und Margaret Halifax adoptiert wurde. Da fühlt sie, wie ihre Identität in tausend Stücke zerplatzt.
Penelope beschloss, ein Studium aufzunehmen, einen Mann zu heiraten, der sie vergötterte, Lehrerin zu werden und Kinder zu bekommen
all das würde den klaffenden, schmerzenden Abgrund schließen, den sie jetzt im Inneren mit sich herumtrug
sie fühlte sich
un
verankert
un
gewollt
un
geliebt
un
behaust
wie
ein
Nichts
Nach dem Abschluss ihres Lehramtsstudiums heiratet sie den Bauingenieur Giles Owsteby und zieht mit ihm nach London. Weil sie kurz darauf den Sohn Adam und ein Jahr nach ihm die Tochter Sarah bekommt, verzögert sich der Beginn ihrer Tätigkeit als Lehrerin.
nachdem sich drei Jahre lang zwei Säuglinge an ihren geschwollenen Brüsten gütlich getan hatten, fühlte sie sich zunehmend von ihnen ausgesaugt
Penelope möchte endlich an einer Schule unterrichten, aber Giles ist gegen eine Berufstätigkeit seiner Frau. Sie trennen sich, und Penelope, die das alleinige Sorgerecht für Adam und Sarah zugesprochen bekommt, stellt eine Kinderfrau ein, um an der Peckham School for Boys and Girls anfangen zu können. (Shirley King ist dort eine ihrer Kolleginnen.)
Sechs Wochen nach der Scheidung lernt sie den Psychologen Philipp Hutchinson kennen. Er wird ihr zweiter Ehemann, aber als er sie mit der 19-jährigen Patientin Melissa betrügt, scheitert auch diese Ehe, und Penelope nimmt wieder ihren Mädchennamen Halifax an.
Ihre Tochter Sarah wandert mit ihrem Ehemann Craig und den Zwillingen Matty und Molly nach Australien aus.
Megan/Morgan
Die Krankenschwester Julie Malinga achtet darauf, dass ihre kleine Tochter Megan Röcke statt Hosen trägt und überhaupt zuckersüß aussieht. Zu ihrem Kummer neigt Megan zu burschikosem Verhalten, und das versucht Julie ihr auszutreiben.
Ihren Ehemann, einen aus Malawi stammenden Krankenpfleger, lernte Julie am Royal Victoria Informary in Newcastle upon Tyne kennen. Außer der Tochter Megan hat das Paar noch einen Sohn: Mark.
Megan bricht die Schule ab, fängt in einem Fast-Food-Restaurant an, zieht mit 18 in ein Wohnheim und probiert nicht nur Cannabis aus, sondern auch LSD, Kokain, Ecstasy, Crack und Ketamin. Aber sie fängt sich wieder.
In einem Chatroom freundet sie sich mit Bibi an, die ihr den Unterschied zwischen transsexuell und transgender erklärt. Der Feminismus habe nichts mit Männerhass zu tun, meint Bibi, sondern dabei gehe es um die Befreiung von einschränkenden Erwartungshaltungen und die Gleichstellung von Frauen und Männern. Bibi kam als Junge mit dem Namen Gopal auf die Welt, hat sich inzwischen aber in eine Frau verwandelt. Während Bibi sich operieren ließ und Hormone nimmt, um weibliche Formen zu haben, verabscheut Megan ihre Brüste und lässt sie schließlich amputieren. Aus Megan wird zwar Morgan, aber sie/er entscheidet sich gegen eine Geschlechtsangleichung.
dann war Bibi also als Mann zur Welt gekommen und jetzt eine Frau, überlegte Megan, traute sich aber nicht zu fragen, weil sie ihr sonst vielleicht den Kopf abriss
und Megan war eine Frau, die sich fragte, ob sie nicht als Mann zur Welt hätte kommen müssen, und sich zu einer Frau hingezogen fühlte, die früher ein Mann gewesen war und ihr jetzt erklärte, Gender bestehe im Grunde nur aus fehlgeleiteten Erwartungshaltungen, obwohl sie selbst die Transition von männlich zu weiblich vollzogen hatte
da platzte einem doch echt der Kopf
In einem Vortrag an einer Universität erklärt Morgan Malinga:
genderfrei bedeutet, dass ich mich weder als männlich noch als weiblich identifiziere; außerdem bin ich pansexuell, was wiederum bedeutet, dass ich mich zu Personen aus dem männlich-weiblich-trans*Spektrum hingezogen fühle, wobei ich seit vielen Jahren mit einer trans*Frau zusammen bin, und die gebe ich auch so schnell nicht wieder her, nicht, dass es euch was anginge, mit wem ich schlafe, aber wenn ihr’s unbedingt wissen wollt, ich habe die frei Auswahl, ich decke die ganze Palette ab, jawoll, Kinder, ich habe ausgesorgt!
Nach dem Vortrag stürmt die Studentin Yazz Bonsu begeistert nach vorne. Diese „nicht-binäre Aktivistenperson“ sei ein „mega Eye-Opener“ für sie, schwärmt sie.
Hattie
1945 verliebte sich Harriet („Hattie“) in Newcastle upon Tyne in den ebenfalls schwarzen amerikanischen Kriegsveteran Slim Jackson. Sie bekamen zwei Kinder: Ada Mae und Sonny.
Hattie
GG für ihre Nachkommen
dreiundneunzig Jahre alt, Tendenz steigend
sitzt am Kopfende des Banketttischs im Langen Zimmer des vor zweihundert Jahren erbauten Bauernhauses Greenfields
den Tixch entlang drängt sich ihr stetig wachsender Genpool
samt Angetrauten
Bei der 93-jährigen Witwe haben sich Ada Mae und Sonny, der Schwiegersohn Tommy, die Schwiegertochter Janet, die Enkel Julie, Sue, Papul, Marian, Jimmy, Matthew und Alan sowie eine ganze Reihe von Ur- und Ururenkeln versammelt, deren Namen Hattie sich nicht mehr merken kann. Auch ihr Enkel Morgan sitzt mit seiner Partnerin Bibi am Tisch.
Mit jeder Generation ist die Familie weißer geworden.
Ada Mae und Sonny gieren nach dem Erbe, aber Hattie wird nicht zulassen, dass sie den 1806 von ihrem Vorfahren Captain Linnaeus Rydendale und dessen Ehefrau Eudoré gegründeten Hof an Russen oder Chinesen verkaufen, die auf dem Areal ein Luxushotel bauen und einen Golfplatz anlegen.
Grace
Während eines Landgangs in South Shields schwängert der aus Abessinien stammende Schiffsheizer Wolde 1895 eine 16-Jährige namens Daisy, die neun Monate später eine Tochter zur Welt bringt, die sie Grace nennt.
Daisy schlägt sich als Blumenmacherin in einer Hutfabrik durch und kommt mit ihrer Tochter bei einer dreifachen Mutter unter, die auf Mieteinnahmen angewiesen ist. Als Grace acht Jahre alt ist, stirbt Daisy an Tuberkulose, und die Zimmervermieterin Mary bringt die Waise in ein Kinderheim auf dem Land.
Fünf Jahre später wird Grace Dienstmagd auf dem Gut des Barons Hindmarsh, der kurz zuvor nach dem Tod seines Vaters mit indischen Bediensteten, einer indischen Geliebten und zwei Söhnen von seiner Teeplantage in Assam nach England zurückgekehrt ist.
Das Gut befindet sich in Northumberland. In der nahen Stadt Berwick-upon-Tweed begegnet Grace dem Engländer Joseph Rydendale, der gerade dabei ist, den geerbten Hof Greenfields wieder auf Vordermann zu bringen. Nach der Hochzeit nimmt Joseph seine frisch angetraute Frau zum ersten Mal mit nach Greenfields.
Joseph
hatte vor ihrer Ankunft Agnes, ein sehr junges Mädchen, als Dienstmagd eingestellt, was Grace belustigte, denn das war sie wenige Tage zuvor ja selbst noch gewesen
Auf zwei Fehlgeburten folgt die Tochter Lily, die auch nur 14 Monate alt wird. Grace fühlt sich erschöpft, aber Joseph will unbedingt einen Erben für den Hof und bedrängt sie, bis sie Harriet gebiert. Weil Grace kaum aus dem Bett kommt und über Selbstmord nachdenkt, stellt Joseph das Kindermädchen Flossie aus Berwick ein. Aber nach einiger Zeit rafft Grace sich auf und entdeckt ihre Liebe für das Kind, das sie nun Hattie nennt.
Premierenparty
Die Premiere des von Amma Bonsu geschriebenen und inszenierten Stücks „Die letzte Amazone von Dahomey“ am National Theatre in London ist ein voller Erfolg. Morgan Malinga postet:
Komme gerade aus #DieLetzteAmazoneVonDahomey@NationalTheatre. OMG, gehen diese Kriegerinnen ab! Pure Afro-Amazonen-Blackness. Krassss! Reißt dir das Herz raus & die Eier ab! Respekt für #AmmaBonsu #allblackhistorymatters Kauft Tickets, peepz, oder bereut’s für immer!!! @RogueNation
An der Premierenparty nehmen zahlreiche Leute teil, darunter Ammas 19-jährige Tochter Yazz, deren Samenspender-Vater Dr. Roland Quartey mit seinem Lebensgefährten Kenny, Ammas langjährige Freundin Shirley und Repräsentanten von Sponsoren wie die Bankerin Carole mit ihrem Ehemann Freddy. Dominique ist eigens aus Los Angeles angereist. Im Waschraum der Toilettenanlage schnupft sie eine Linie Kokain von ihrem Taschenspiegel und reicht das weiße Pulver dann ihrer Freundin.
Epilog
Penelope feiert ihren 80. Geburtstag. Seit Jahren lebt sie mit Jeremy Sanders zusammen, einem Member of the Order of the British Empire, dessen Ehe gescheitert ist. Beide waren über 70, als sie zum ersten Mal miteinander schliefen.
Penelopes Sohn Adam, ein Waffennarr, lebt seit langem in Dallas.
Mit ihrer Tochter Sarah in Sydney hält Penelope über Skype Kontakt. Nachdem Sarah ihr von genetischen Herkunftstests erzählt hat, schickt Penelope eine Speichelprobe ein. Dass Ergebnis erschreckt sie, denn da werden mehr als hundert Blutsverwandte von verschiedenen Kontinenten aufgelistet, darunter ein Elternteil. Aufgeregt ruft sie Sarah an, die daraufhin eine Mail an die angegebene Kontaktadresse schickt und Antwort von Morgan Malinga bekommt. Bei der als Penelopes Elternteil identifizierten Person handelt es sich um seine Urgroßmutter Hattie Jackson.
Penelope macht sich auf den Weg nach Northumberland, zu ihrer Mutter in Greenfields.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)In ihrem Roman „Mädchen, Frau etc.“ erzählt Bernardine Evaristo von zwölf verschiedenen schwarzen Frauen aus fünf Generationen. Eingeteilt sind diese fast ausschließlich in England spielenden Geschichten in vier Kapitel mit je drei Biografien: (1) Amma, Yazz, Dominique, (2) Carole, Bummi, LaTisha, (3) Shirley, Winsome, Penelope, (4) Megan/Morgan, Hattie, Grace. Weder die Anordnung der Kapitel noch der Aufbau der einzelnen Biografien folgt der Chronologie. Grace, mit der Bernadine Evaristo den Figurenreigen beendet, wurde noch im 19. Jahrhundert geboren. Megan bzw. Morgan ist die Urenkelin bzw. der Urenkel ihrer Tochter Hattie.
Am Beispiel dieser People of Colour dreht sich „Mädchen, Frau etc.“ um Ethnizität, Herkunft und Identität. Es geht um Personen, die wegen ihrer Hautfarbe, sexuellen Orientierung oder Mittellosigkeit nicht zur Mehrheitsgesellschaft gehören, marginalisiert und ausgegrenzt werden, aber versuchen, sich damit zu arrangieren, selbst Karriere zu machen oder wenigstens ihren Kindern bessere Lebensbedingungen zu ermöglichen. Wofür Mütter und Großmütter noch kämpfen mussten, halten jüngere Frauen bereits für selbstverständlich. Trotz aller Schwierigkeiten sieht sich keine der zwölf Frauen in einer Opferrolle.
Die Widmung lautet:
Für die Schwestern, Sisters & Sistas & Sistahs & Sistren
& die Frauen, Women & Womxn & Wimmin & Womyn
& unsere Brüder, Brethren & Bredrin & Brothers & Bruvs
& unsere Männer, Men & Mandern
& die LGBTQI-Mitglieder
unserer Menschenfamilie
Bernardine Evaristo beschränkt sich in „Mädchen, Frau etc.“ nicht auf eine bestimmte Dimension, sondern beschäftigt sich auch mit Diversität, Feminismus und sexueller Selbstfindung. Ihr Roman ist also intersektional und veranschaulicht die Überschneidung verschiedener Kategorien von Diskriminierung.
Auf die zwölf nur lose verknüpften Biografien folgt ein Kapitel über eine Premierenparty in London, bei der die Regisseurin Amma im Mittelpunkt steht, die aber auch von anderen Personen aus den vorangehenden Kapiteln besucht wird. Das mag als Zusammenführung gedacht sein, auch wenn es stilistisch nicht dazu passt. Ist dieses Kapitel wirklich notwendig? Für überflüssig und formal störend halte ich auf jeden Fall den Epilog, mit dem Bernardine Evaristo vielleicht gerade noch am Kitsch vorbei schrammt.
Bei den Porträts der zwölf Frauen in „Mädchen, Frau etc.“ wären auch nicht alle Angaben über die Vorfahren nötig gewesen. Davon abgesehen ist die Darstellung stringent und temporeich, locker, lebendig und leidenschaftlich.
Das Erste, was beim Aufschlagen des Buches auffällt, ist der Satzspiegel. Dabei denkt man an Lyrik, denn Bernadine Evaristo ersetzt den Punkt am Satzende durch einen Zeilenumbruch, beginnt die Sätze mit Kleinbuchstaben und arbeitet außerdem mit eingerückten Zeilen. Sie spricht von „Fusion-Fiction“:
Es gibt ja in dem Buch kaum Punkte am Satzende, und auf diese Art und Weise konnte ich viele Elemente in die Figuren einführen, ihnen viele Aussagen geben, die dann dafür sorgen, dass es sich so anfühlt, als würde man es jeweils in der ersten Person lesen, als würden die Personen über sich selber sprechen – obwohl ich das Buch in der dritten Person geschrieben habe. Es ist so, als ob man in den Kopf und in das Herz der Figuren eindringen kann und gleichzeitig aber noch einen Blick von außen hat. (Bernardine Evaristo im Gespräch mit Andrea Gerk, Deutschlandfunk Kultur, 19. Januar 2021)
Die unübliche Strukturierung des Textes erschwert das Lesen in keiner Weise. Man gewöhnt sich rasch daran, und merkt, wie Bernardine Evaristo auf diese Weise den Rhythmus der Sprache betont.
Den Roman „Mädchen, Frau etc.“ gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Constanze Becker).
Bernardine Evaristo wurde 1959 in London als viertes von acht Kindern einer englischen Grundschullehrerin und des 1949 aus Nigeria eingewanderten Schweißers Julius Taiwo Bayomi Evaristo (1927 ‒ 2001) geboren. Sie lehrt Kreatives Schreiben an der Brunel University London und amtiert als stellvertretende Vorsitzende der Royal Society of Literature. Für ihr Engagement wurde Dr. Bernadine Evaristo von Königin Elisabeth II. 2009 in den Order of the British Empire aufgenommen und 2020 zum Officer of the Order of the British Empire ernannt. 2019 wurde sie für ihren Roman „Girl, Woman, Other“ / „Mädchen, Frau etc.“ als erste PoC mit dem Booker Prize ausgezeichnet. Sie teilte sich den Preis mit der kanadischen Schriftstellerin Margaret Atwood („The Testaments“ / „Die Zeuginnen“).
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2021
Textauszüge: © J. G. Cotta’sche Verlagsbuchhandlung Nachfolger