Deborah Feldman : Unorthodox
Inhaltsangabe
Kritik
Kindheit
Deborah wird 1986 in New Yorker Stadtteil Brooklyn geboren. Weil sich ihre Eltern bald darauf trennen, die Mutter fortzieht und der Vater psychisch nicht in der Lage ist, für ein Kind zu sorgen, wächst Deborah bei den Großeltern auf.
Sie leben in Williamsburg, einem Viertel von Brooklyn, in einer jüdischen Gemeinde, die sich nach Satu Mare ‒ jiddisch Satmar ‒, einer Stadt an der ungarisch-rumänischen Grenze, benannt hat. Joel Teitelbaum, der Rabbiner von Satu Mare, war 1944 von dem Rechtsanwalt und Journalisten Rudolf Kasziner vor den Nationalsozialisten gerettet worden und 1946 in die USA emigriert. Dort hatte er andere Überlebende des Holocaust um sich geschart und die chassidische Sekte Satmar gegründet.
Deborahs aus Osteuropa stammende Großeltern – Deborah nennt sie Bubby und Zeidi ‒ gehören ebenfalls zu den Überlebenden des Holocaust.
[…] Vertrag, den Zeidi vor fünfzig Jahren mit dem Rebbe geschlossen hat. Als der Satmarer Rebbe seine Pläne für eine Kehillah, eine Gemeinde, in Williamsburg verkündete, gelobte Zeidi Gehorsam, bevor er überhaupt wusste was das nach sich ziehen sollte, und indem er so handelte, band er seine ganze Familie und all deren nachfolgende Generationen an die Gemeinde. Damals in Europa lebte Zeidis Familie nicht so. Sie waren keine Extremisten, sie waren gebildete Leute, die ein Zuhause hatten mit Holzböden und Perserteppichen, und sie reisten frei quer über den gesamten Kontinent.
Bubby – sie heißt eigentlich Fraida – hat elf Kinder geboren und damit einen wichtigen Teil der Pflichten einer Frau erfüllt, denn die Satmarer Chassiden setzen alles daran, sich zu vermehren. Empfängnisverhütung ist verboten.
Zeidi steht jeden Morgen um 4 Uhr auf, um noch vor dem Tageswerk in der Synagoge die Thora zu studieren. Er gilt als Gelehrter und Kaufmann zugleich. Nie würde er zulassen, dass jemand in seiner Familie die strengen Gesetze der Satmarer Gemeinde übertritt, und er hält es für seine Aufgabe, die Enkelin zu einer gottesfürchtigen, strenggläubigen und disziplinierten Jüdin zu erziehen.
Jedes Jahr, wenn die meisten Juden die Ausrufung des Staates Israel am 14. Mai 1948 feiern, demonstrieren die Männer der Satmar-Gemeinde – Frauen und Mädchen sind dabei nicht zugelassen – für die Vernichtung des Staates Israel, denn sie halten den Zionismus für eine Rebellion und einen Frevel gegen den Glauben an den Messias.
Allein die Vorstellung, dass wir unsere Erlösung aus dem Exil selbst herbeiführen könnten, wie anmaßend! Gläubige Juden warten auf den Messias; sie nehmen keine Gewehre und Schwerter zur Hand und erledigen die Arbeit selbst.
Aus diesem Grund sind Israel-Reisen verboten. Nicht einmal Verwandte dürfen dort besucht werden. Die Satmarer Chassiden sind überzeugt, dass der Holocaust eine Strafe Gottes für den Zionismus und vor allem die Assimilierung von Juden war.
Wir lernen in der Schule, Gott habe Hitler gesandt, um die Juden dafür zu bestrafen, sich selbst erleuchtet zu haben. Er kam, um uns zu reinigen, um alle assimilierten Juden zu vernichten, alle frejen Jidden, die dachten, sie könnten sich selbst vom Joch, die Auserwählten zu sein, befreien. Nun büßen wir für deren Sünden.
Den Holocaust zu missbrauchen, um Sympathie zu erhalten, ist ein Affront gegenüber allen Seelen, die ums Leben kamen, erzählt Zeidi, ganz sicher haben sich diese unschuldigen Juden nicht geopfert, damit die Zionisten die Kontrolle übernehmen konnten.
Deborah ist inzwischen elf Jahre alt und besucht die Satmar-Schule. Obwohl in der Gemeinde Satmar nur Männer Bücher lesen und besitzen dürfen, treibt Deborah sich heimlich in der Stadtbibliothek herum und schließlich kauft sie sich von dem beim Babysitten verdienten Geld die Schottenstein Edition, den ins Englische übersetzten Talmud, und das, obwohl Zeidi ihr eingeschärft hat, dass die englische bzw. amerikanische Sprache unrein sei und die Seele vergiften würde. Die Satmarer Chassiden sprechen deshalb nur Jiddisch und schotten sich von den Andersgläubigen ab.
Jugend
Als Deborah Blut in ihrer Unterwäsche entdeckt, gerät sie in Panik und wendet sich Hilfe suchend an die Großmutter. Zu ihrer Verwunderung bleibt Bubby ruhig, und statt den Notarzt zu rufen, drückt sie Deborah nur wortlos ein paar Binden in die Hand.
Deborah hat bereits gelernt, dass Mädchen und Frauen darauf achten müssen, keinen Mann durch ihren Anblick zu erregen.
Jedes Mal, wenn ein Mann den Anblick irgendeines Teils eures Körpers erhascht, von dem die Torah besagt, er sollte bedeckt sein, sündigt er. Schlimmer aber ist, dass ihr ihn dazu verleitet habt zu sündigen. Ihr seid es, die die Verantwortung für seine Sünde am Tag des Jüngsten Gerichts zu tragen habt.
Deborah ist 14, als sie erstmals Simchat Tora feiern darf. Während die Männer mit dem Rabbiner in der Synagoge die Tora lesen, drängen sich die an diesem Festtag ausnahmsweise zugelassenen Frauen hinter Sichtblenden auf der Galerie und verfolgen das Geschehen durch Gucklöcher.
Nach den Terroranschlägen am 11. September 2001 fällt der Schulunterricht aus. Zeidi besorgt eigens ein Radiogerät, um Nachrichten hören zu können.
Heimlich kauft Deborah eine Taschenbuchausgabe des Romans „Stolz und Vorurteil“ von Jane Austen. Elizabeth Bennet, eine junge Frau, die auf ihrer Unabhängigkeit beharrt, wird zum Vorbild für sie.
Im letzten Schuljahr erhalten Deborah und ihre Mitschülerinnen auch in der Jiddisch sprechenden Satmar-Gemeinde Englisch-Unterricht.
Als Mrs Berger zu Beginn des Schuljahrs in unser Klassenzimmer kommt, schaut sie uns abschätzig und gelangweilt an. „Nun denn“, sagt sie, „keine von euch wird den nächsten großen amerikanische Roman schreiben, so viel ist sicher.“
Diese Äußerung spornt Deborah an, und am Ende erhält sie als erste Schülerin überhaupt von Mrs Berger eine Eins, aber als sie triumphiert, meint die Lehrerin spöttisch:
„Und nun? […] Was willst du mit dieser Eins anstellen, jetzt, wo du sie hast?“
Immerhin erhält Deborah, für die eine höhere Schulbildung aufgrund der Rolle der Frauen in der chassidischen Gemeinde unerreichbar ist, die Möglichkeit, in der von ihrer Tante Chaya Mendlowitz geleiteten Grundschule als Englisch-Lehrerin anzufangen.
Ehefrau
Tante Chaya beauftragt dann auch eine Ehestifterin, für ihre 17-jährige Nichte einen Ehemann zu finden. Sobald sich die Erziehungsberechtigten über eine mögliche Verbindung verständigt haben, wird Deborah von der Mutter und der Schwester Shprintza des 22-jährigen Eli begutachtet. Während eines Familienfestes unterschreiben die Parteien den Verlobungsvertrag. Bis zur in sieben Monaten geplanten Hochzeit dürfen sich Braut und Bräutigam nicht öfter als ein- oder zweimal sehen.
Deborah besucht drei Ehevorbereitungskurse, die sich alle auf die von Mann und Frau zu beachtenden religiösen Gesetze beschränken, beispielsweise die im Verlauf des weiblichen Zyklus jeweils geltenden Reinheitsgebote (Nidda). Zum Abschluss des Hochzeitsunterrichts heißt es, die Körper von Mann und Frau würden wie Puzzle-Teile zusammenpassen. Deborah kann es nicht glauben, dass ihr Körper die entsprechende Öffnung aufweist. Das müsste sie doch längst bemerkt haben. Fünf Tage vor der Hochzeit muss sie sich erstmals der Mikweh unterziehen, dem rituellen Reinigungsbad.
Weil nur der eigene Ehemann das Haar seiner Frau sehen darf, lassen sich die Frauen der Satmar-Gemeinde nach der Hochzeit den Kopf rasieren und tragen Perücken. Ausgerechnet vor Deborahs Hochzeit werden Echthaar-Perücken verboten, weil sich herausgestellt hat, dass das Material aus indischen Tempeln stammt. Die Männer verbrennen öffentlich die teuren Perücken ihrer Frauen, und Deborah muss sich mit einer Plastik-Perücke begnügen.
Am Hochzeitstag darf die Braut ausnahmsweise Make-up tragen.
In der Hochzeitsnacht ahnen die Braut und der Bräutigam zwar, dass sie sich vereinigen sollen, wissen aber nicht so recht, wie sie das anstellen sollen. Am nächsten Morgen erkundigt sich Elis Vater nach dem Vollzug der Ehe, und kurz darauf erfahren auch andere Verwandte des Paares von der misslungen Hochzeitsnacht. Eine Freundin vertraut Deborah an, dass sie in der Hochzeitsnacht versehentlich anal statt vaginal penetriert und dabei ernsthaft verletzt worden sei.
Eli und Deborah werden zu einem Sexualtherapeuten-Ehepaar geschickt. Elis Mutter verlangt, dass ihre Schwiegertochter alle Bücher wegwirft, denn sie hält Lesen für die Ursache dafür, dass die Ehe nicht vollzogen werden kann. Deborah versucht es mit Biofeedback und Hypnotherapie. Schließlich erfährt sie, dass Vaginismus bei ihr die Penetration erschwert, und sie besorgt sich ein von der Gynäkologin empfohlenes Dilatoren-Set, mit dem sie drei Monate lang übt, bis es Eli ein Jahr nach der Hochzeit gelingt, in sie einzudringen. Glückselig wälzt er sich danach von ihr herunter.
Warum ist es für den Mann so großartig und für die Frau so anstrengend?
Durch den ersten Koitus wird Deborah schwanger.
Weil die Wohnung für ein Ehepaar mit Kind zu klein ist, verlassen Eli und Deborah Williamsburg und ziehen in einen Ort nördlich von New York City, wo Satmarer mit anderen Chassiden zusammen leben und Deborah sogar den Führerschein machen darf. Sie verdient als Englisch-Lehrerin nur wenig, und Elis Lohn als Hilfsarbeiter in einem Lager ist auch nicht hoch.
Deborah hört von einem Studenten, den man von der Jeschiwa relegiert hat, weil er monatelang von einem älteren Lehrer missbraucht worden war und er deshalb seine Kommilitonen verderben könnte.
Elis Bruder Cheskel, ein Notfallsanitäter, wird zu einem Jungen gerufen, den der Vater beim Masturbieren erwischte. Als Cheskel eintrifft, ist der Junge bereits tot. Der Vater hat ihm den Penis abgetrennt und die Kehle durchgeschnitten.
Deborah ist im siebten Monat schwanger, als Eli mit ihr seine Schwester Shprintza in Kiryas Joel besucht. Ausgerechnet am Sabbat (Shabbes) erbricht sie sich heftig und ihr Bauch verkrampft sich. Telefonieren und Autofahren ist am siebten Tag der Woche allenfalls bei Lebensgefahr erlaubt, und Eli setzt durch, dass sie erst nach dem Shabbes zum Krankenhaus fahren, wo gerade noch eine Frühgeburt verhindert werden kann.
Als die Ärzte bald darauf feststellen, dass die 19-Jährige an einer für den Fetus gefährlichen Präeklampsie erkrankt ist, leiten sie die Wehen vorzeitig ein. Das Kind erhält den Vornamen von Zeidis totem Bruder Yitzhak Binyamin („Yitzy“). Während Deborah sich noch im Haus für junge Mütter erholt, sorgt Eli für die Beschneidung des Sohnes.
Bald darauf diagnostiziert die Gynäkologin bei der jungen Mutter eine Infektion im Intimbereich. Offenbar hat Eli sie angesteckt, und das bedeutet, dass er ihr untreu war.
Als Deborah zu ihren Großeltern fährt, um ihnen den kleinen Enkel zu zeigen, hört sie Kinder in Williamsburg tuscheln, dass sie wie eine „Goyte“ (Nichtjüdin) aussehe.
Im Abspann eines in der Bibliothek ausgeliehenen Dokumentarfilms über homosexuelle orthodoxe Juden und Jüdinnen, die weder ihre Religion noch ihre sexuelle Vorliebe verleugnen möchten, entdeckt Deborah den Namen Rachel Levy und erfährt auf diese Weise, dass ihre Mutter lesbisch ist und deshalb Williamsburg verlassen musste.
Befreiung
Heimlich bewirbt sich Deborah am Sarah Lawrence College nördlich von Manhattan und belegt einen Poetik-Kurs. Eli sagt sie, sie bilde sich in Buchhaltung weiter, um einen besser bezahlten Job zu bekommen. Er ahnt auch nicht, dass sie als Studentin Jeans trägt. Der inzwischen zwei Jahre alte Yitzky verbringt die Zeit, in der sie das Liberal-Arts-College besucht, in einer Kita.
Deborah freundet sich mit ihrer Kommilitonin Polly an und lässt sich von ihr zu einem Essen in einem nicht koscheren Restaurant überreden, wo sie über die Speisen der Nichtjuden staunt und nach ein paar Bissen Schweinefleisch zur Toilette eilt, weil sie aufgrund ihrer Erziehung befürchtet, sich übergeben zu müssen. Aber nichts passiert.
Früher führte Deborah ein Tagebuch, aber das hält sie längst für zu riskant. Um ihre rebellischen Gedanken dennoch schriftlich formulieren zu können, beginnt sie als „Chassidische Feministin“ anonym mit einem Blog. Polly macht schließlich Verlage und Literaturagenten darauf aufmerksam. Eine Agentin trifft sich mit den beiden Frauen, und am 10. September 2009 unterschreibt Deborah einen Verlagsvertrag für eine autobiografische Erzählung.
Am Tag zuvor, am 9.9.09, überlebte sie einen schweren Verkehrsunfall nahezu unverletzt. Dieses Datum empfindet sie nun als entscheidende Wende in ihrem Leben.
Nach fünf Jahren beenden Eli und Deborah ihre Ehe. Wider Erwarten gelingt es Deborahs Rechtsanwältin, nicht nur eine religiöse und zivilrechtliche Scheidung durchzusetzen, sondern auch das alleinige Sorgerecht der Mutter für den Sohn.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)„Unorthodox“ ist eine „autobiografische Erzählung“ ‒ so der Untertitel – von Deborah Feldman, die um die Jahrhundertwende in einer fanatischen Glaubensgemeinschaft aufwächst, mit 17 verheiratet wird und zwei Jahre später einen Sohn zur Welt bringt. Aber es gelingt ihr bald danach, sich aus den religiösen Zwängen zu befreien und es ihrem Sohn dadurch zu ermöglichen, seinen eigenen Weg zu gehen.
Deborah Feldman beteuert zwar, dass „alle in diesem Buch beschriebenen Vorkommnisse wahr sind“ und nur die Namen der Personen geändert wurden, aber das lässt sich von uns Leserinnen und Lesern erst einmal nicht überprüfen.
Der Darstellung in „Unorthodox“ zufolge musste sich die Ich-Erzählerin die Freiheit schwer erkämpfen. Deborah wirkt klug und kritisch, mutig und selbstbewusst, energisch und zielstrebig. Leider bleiben alle anderen Personen blass, von Eltern, Großeltern, Tanten und Ehemann erfahren wir kaum mehr als die Namen – und das sind nicht die tatsächlichen.
Schon deshalb ist „Unorthodox“ kein großer literarischer Wurf. Aber es handelt sich um ein wichtiges, aufschlussreiches Buch über ein brisantes Thema. Zu den Pluspunkten gehört außerdem, dass Deborah Feldman sachlich und unpolemisch, unaufgeregt und ohne Effekthascherei schreibt. Die Emanzipationsgeschichte, die sie in „Unorthodox“ erzählt, ist auf jeden Fall ermutigend.
Dass sich Deborah Feldman 2012 mit der Veröffentlichung von „Unorthodox“ den Zorn der Chassiden zuzog, kann nicht überraschen. Das Buch erwies sich aber auch als Bestseller.
Aufgrund des enormen Erfolgs verfasste Deborah Feldman mit „Exodus. A Memoir“ (2015) / „Überbitten“ (2017) eine Fortsetzung, in der sie schildert, wie sie sich als allein erziehende Mutter in der ihr zunächst noch fremden säkularen Welt durchschlug.
Die autobiografische Erzählung „Unorthodox“ von Deborah Feldman gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Anita Hopt.
Maria Schrader verfilmte „Unorthodox“ in einer vierteiligen Netflix-Miniserie mit Shira Haas in der Hauptrolle.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Originaltitel: Unorthodox – Regie: Maria Schrader – Drehbuch: Anna Winger, Alexa Karolinski nach Motiven aus „Unorthodox“ von Deborah Feldman – Kamera: Wolfgang Thaler – Schnitt: Hansjörg Weißbrich, Gesa Jäger – Musik: Antonio Gambale – Darsteller: Shira Haas, Amit Rahav, Jeff Wilbusch, Alex Reid, Ronit Asheri, Delia Mayer, David Mandelbaum,vEli Rosen, Aaron Altaras, Tamar Amit-Joseph, Safinaz Sattar, Langston Uibel u.a. – 2020
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2021
Textauszüge: © Secession Verlag für Literatur