Hanns-Josef Ortheil : Das Kind, das nicht fragte

Das Kind, das nicht fragte
Das Kind, das nicht fragte Originalausgabe Luchterhand Literaturverlag, München 2012 ISBN 978-3-630-87302-2, 431 Seiten ISBN 978-3-641-10473-3 (eBook) Taschenbuch btb, München 2014 ISBN 978-3-442-73981-3, 431 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Benjamin Merz fühlte sich in der Kindheit und Jugend aufgrund der Dominanz seiner deutlich älteren Brüder zu wenig beachtet. Damals sprach er kaum und vereinsamte. Erst mit Ende 30 findet der scheue Kölner Ethnologe in Sizilien zu sich selbst und entwickelt sich zum forschen Erzähler.
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Kritik

Der Roman "Das Kind, das nicht fragte" von Hanns-Josef Ortheil ist eine stille und heitere, märchenhaft überzogene und selbstironische Geschichte der Selbstfindung, Heilung und Erlösung, aber auch ein Loblied auf die sizilianische Lebensweise und kulinarische Genüsse.
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Das Kind, das nicht fragte

Bei Dr. Benjamin Merz handelt es sich um einen Ethnologen Ende 30. Der Vater war Ingenieur, die Mutter Bibliothekarin. Beide starben vor einem Jahrzehnt kurz nacheinander und hinterließen den fünf Söhnen ein Mietshaus in Köln-Nippes. Anders als Benjamin, der als Privatdozent an der Universität seiner Heimatstadt Köln lehrt, haben die vier älteren Brüder eigene Familien und verdienen auch gut: Georg ist Rechtsanwalt, Martin Arzt, Josef Apotheker, Andreas Direktor eines Gymnasiums. Benjamin ist der einzige, der noch im Elternhaus wohnt, aber er braucht seinen Brüdern keine Miete zu zahlen, im Gegenteil: sie unterstützen ihn finanziell.

Benjamin ist acht Jahre jünger als der jüngste seiner Brüder. Saß die Familie beim Essen am Tisch, redeten nur die Eltern und die vier älteren Brüder. Der Nachkömmling verstand als Kind oft gar nicht, um was es bei den Gesprächen ging. Und die anderen merkten nicht, dass sie ihn ausgrenzten; er wurde ignoriert oder auch nicht für voll genommen. Benjamin verstummte.

Eine eigene Welt außerhalb der Macht seiner Brüder baute er sich in seiner Fantasie und hielt das auch durch Schreiben fest. Im Beichtstuhl konnte er erstmals etwas von sich mündlich erzählen. Dass ihm jemand zuhörte, war ein völlig neues Erlebnis.

Mandlica

Nun landet Dr. Benjamin Merz mit dem Flugzeug in Catania und fährt nach Mandlica. Die sizilianische Provinzstadt will er in den folgenden Monaten erforschen und dann ein ethnologisches Buch mit dem Titel „Die Stadt der Dolci“ darüber schreiben.

Maria, die Wirtin der Pension, in der sich Benjamin einmietet, kam mit ihrer älteren Schwester Paula Sophia vor fast 15 Jahren auf einer Ferienreise nach Sizilien. Aufgewachsen waren sie auf einem Bauernhof in Bayern. Weil sich Paula in Lucio verliebte, den Betreiber eines zwar konservativen, aber anspruchsvollen Restaurants in Mandlica, blieben sie und ihre Schwester dort, und Maria kündigte ihre Anstellung als Flugbegleiterin. Paula und Lucio verlobten sich, aber die Hochzeit kam nicht zustande, und am Ende wurden Lucio und Maria ein Ehepaar. Aber das ging auch nicht gut. Die beiden leben schon lange getrennt. Maria führt inzwischen mit Unterstützung ihrer Schwester die Pension, die früher zum Restaurant „Alla Sophia“ gehörte. Paula, die in Benjamins Alter ist, arbeitet darüber hinaus als Übersetzerin.

Benjamin freundet sich mit Alberto an, einem der drei Buchhändler in Mandlica. Er wurde hier geboren, studierte dann in Norditalien Theaterwissenschaften, engagierte sich als Dramaturg – und kehrte schließlich an seinen Geburtsort zurück.

Die Bewohner von Mandlica lassen sich gern von Benjamin befragen, junge ebenso wie ältere, beispielsweise die über 80 Jahre alte Ricarda Chiaretta. Seine Fähigkeit, zuzuhören und die richtigen Fragen zu stellen, gilt bald schon als magisch.

Der Ethnologe aus Deutschland macht den Bürgermeister Enrico Bonni neugierig. Bei einem Gespräch im Rathaus drängt er Benjamin Merz, Mitglied einer von Prof. Matteo Volpi geleiteten Kommission zu werden, die ein in fünf Jahren geplantes Großereignis zur Feier der Kultur der sizilianischen Dolci vorbereitet. Benjamin Merz erklärt sich bereit, dann auch den Eröffnungsvortrag zu halten.

Erlösung

Paula meidet zunächst den Kontakt mit dem scheuen Pensionsgast, gibt sich schweigsam und abweisend. Benjamin denkt bei ihrem Anblick an Irene Papas in Alexis Sorbas. Aber dann führt sie ein intensives Gespräch mit ihm und einige Zeit später überrascht sie ihn, als sie in der Pension nackt zu ihm ins Bett schlüpft. Die beiden werden ein Liebespaar und ziehen sich so oft wie möglich auf ein kleines Landgut am Meer zurück, das Paula vor einigen Jahren erworben hat.

Matteo Volpis Mutter lässt Benjamin Merz wissen, dass sie ihn gern sehen würde. Als er bei ihr zu Besuch ist, stellt sich heraus, dass auch Paula eingeladen ist. Die Signora überrumpelt die beiden und bringt sie dazu, sich zu verloben. Damit endet die Heimlichkeit.

Ihre Verlobungsreise machen Paula und Benjamin nach Korfu. Als er dort in einer Kirche die Mönche des dazugehörigen Klosters singen hört, fängt er plötzlich an, laut von seiner Kindheit zu erzählen. Das aufgestaute Leid bricht aus ihm heraus, und Paula hört ihm zu.

Nachdem er bereits seine für das Wintersemester geplanten Lehrveranstaltungen abgesagt hat, beschließt er, nur noch einmal kurz nach Köln zu fahren, seinen Hausstand aufzulösen und mit Paula in Sizilien zu bleiben.

Adriana Bonni, die 18-jährige Tochter des Bürgermeisters, drängt sich dem deutschen Ethnologen als Praktikantin auf. Während Benjamin sich in der Kindheit und Jugend von den Familienangehörigen ignoriert fühlte, wird Adriana als Einzelkind von den Eltern vergöttert. Sie erfüllen ihr jeden Wunsch, haben ihr bereits Auslandsaufenthalte ermöglicht und schenken ihr nun auch noch eine eigene Wohnung in Mandlica. Aber diese Erfahrungen heben Adriana von Gleichaltrigen ab, und sie ist so einsam, wie es Benjamin als Kind war. Deshalb ist es verständlich, dass sie den 20 Jahre Älteren zu verführen versucht. Benjamin will sie nicht enttäuschen und entzieht sich ihr im letzten Augenblick.

Zum Geburtstag überrascht Benjamin seine Verlobte Paula, indem er sie in das längst stillgelegte Kino aus den Fünfzigerjahren führt, wo ihnen Alberto ein Mittagessen serviert. Dort will Benjamin ein modernes Restaurant mit exquisiter Küche einrichten. In ungefähr einem Jahr wird „Alla Paula“ fertig sein. Der Bürgermeister hat bereits für eine Baugenehmigung gesorgt.

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Hanns-Josef Ortheil wurde 1951 als fünfter Sohn des Geodäten und späteren Bundesbahndirektors Josef Ortheil (1907 – 1988) und dessen Ehefrau Maria Katharina (1913 – 1996), einer Bibliothekarin, in Köln geboren. Seine vier älteren Brüder starben während des Zweiten Weltkriegs und danach. Dieser Verlust ließ die Mutter verstummen, und Hanns-Josef fing dann auch erst im Alter von sieben Jahren zu sprechen an. Aber seit dem vierten Lebensjahr schrieb er, und als Fünfjähriger begann er, Klavier zu spielen. Musik und Schreiben waren ihm wichtig.

Benjamin Merz, der Ich-Erzähler des Romans „Das Kind, das nicht fragte“, der sich in der Kindheit und Jugend aufgrund der Dominanz seiner deutlich älteren Brüder zu wenig beachtet fühlte, kaum sprach und vereinsamte, hat also Wesentliches mit dem Autor Hanns-Josef Ortheil gemein. Benjamins traumatische Erfahrungen kontrastieren in „Das Kind, das nicht fragte“ mit der Fehlentwicklung der von den Eltern vergötterten Bürgermeister-Tochter.

In der sizilianischen Gesellschaft gelingt es dem Kölner Ethnologen Benjamin Merz, aus sich herauszugehen, sich selbst zu finden und eine Liebesbeziehung zu beginnen. Der scheue Forscher entwickelt sich zum forschen Erzähler (schon wenn er seine Forschung maßlos übertrieben dem begeisterten Bürgermeister darstellt).

„Das Kind, das nicht fragte“ ist eine stille und heitere, märchenhaft überzogene und selbstironische Geschichte der Selbstfindung, Heilung und Erlösung.

Die sizilianische Stadt Mandlica ist fiktiv, aber Hanns-Josef Ortheil dachte dabei an Modica, den Geburtsort von Salvatore Quasimodo (dessen Museum Benjamin Merz in „Das Kind, das nicht fragte“ besucht). Der Lyriker wurde 1959 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet.

Den Roman „Das Kind, das nicht fragte“ von Hanns-Josef Ortheil gibt es auch als Hörbuch, gelesen vom Autor selbst.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2022
Textauszüge: © Luchterhand Literaturverlag

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