Hanns-Josef Ortheil : Die Moselreise

Die Moselreise
Die Moselreise Roman eines Kindes Luchterhand Literaturverlag, München 2010 ISBN 978-3-630-87343-5, 220 Seiten ISBN 978-3-641-05029-0 (eBook) Taschenbuch: btb Verlag, München 2012 ISBN 978-3-442-74417-6, 220 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Im Sommer 1963 unternimmt der Vater mit dem elfjährigen Hanns-Josef Ortheil eine Moselreise, mit Zug und Schiff, zu Fuß und per Fahrrad. Der Junge hält seine Eindrücke in täglichen Notizen fest und verfasst dann im Anschluss an die Reise eine Collage aus einem chronologischen Bericht, eingestreuten Notizen, Fotos und Zitaten aus Postkarten, die er seiner Mutter schickte.
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Kritik

In seinem Buch "Die Moselreise" ergänzt Hanns-Josef Ortheil die "Reise-Collage", die er als Elfjähriger verfasste um Erläuterungen des Erwachsenen. So erfahren wir, dass er seit früher Kindheit täglich aufschreibt, was ihn beschäftigt. Inzwischen haben sich tausende von schwarzen Kladden angesammelt. Dieses "Schreibprojekt" hält er für sein "Hauptwerk".
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Die Vorgeschichte

Nachdem die vier älteren Söhne tot geboren wurden oder als Kleinkinder starben, klammert sich die Mutter an den jüngsten Sohn Hanns-Josef und verstummt aufgrund des Traumas. Hanns-Josef, der hier als Ich-Erzähler auftritt, hört im Alter von drei Jahren ebenfalls zu sprechen auf. Die Mutter lehrt ihn, Klavier zu spielen. Als Hanns-Josef sieben Jahre alt ist, meldet ihn der Vater von der Schule ab und zieht sich mit ihm für einige Zeit aufs Land zurück. Auf einem Bauernhof fängt Hanns-Josef an, jeden Tag aufzuschreiben, was er beobachtet und was ihn beschäftigt. Allmählich beginnt er auch wieder zu sprechen.

Die Moselreise

Als Hanns-Josef elf Jahre alt ist, unternimmt der Vater mit ihm eine „Moselreise“, während die herzkranke Mutter, die inzwischen ebenfalls die Sprache wiedergewonnen hat, zu Hause in Köln bleibt. Am 24. Juli 1963 fahren Vater und Sohn mit der Bahn nach Koblenz. Von dort reisen sie zumeist zu Fuß, aber auch per Schiff oder Fahrrad nach Trier. Jeden Tag protokolliert Hanns-Josef, was sie erleben.

Beim Abendessen am 27. Juli in einer Jugendherberge gegenüber von Cochem würgt er an einem wie Gummi schmeckenden Braten mit Kartoffelpüree, während der Vater Erbseneintopf gewählt hat. Plötzlich ruft der Vater „pfui Deibel!“, denn in seinem Teller schwimmt ein Pflaster. Der Vater bringt zunächst seinen Teller, dann auch den seines Sohnes zurück zur Essensausgabe und beschwert sich. Er will hier nichts mehr und verzichtet am nächsten Morgen auch aufs Frühstück.

Zwei Tage später entdeckt Hanns-Josef im „Weinhaus Fuhrmann“ in Ellenz ein Klavier. Selbstvergessen spielt er Stücke von Mozart, Schumann und Bach. Dann holt der Vater ihn auf die Terrasse, wo Gäste und Angestellte stehen und applaudieren.

Nach dem Klavierspielen war das Wandern ganz anders als sonst. Weil ich nämlich Klavier gespielt hatte, hatte ich die ganze Zeit während des Wanderns noch die Musik im Kopf. […] das Schlimmste aber war, dass ich dauernd an Köln und an mein Klavier und an mein Zimmer dachte, in dem mein Klavier steht. Ich dachte aber nicht nur an mein Zimmer und an mein Klavier, sondern auch an Mama. Auf einmal dachte ich sogar so stark an Mama, wie ich während unserer ganzen Moselreise nicht an sie gedacht hatte. Ich sah Mama richtig vor mir, wie sie vor dem Fenster meines Zimmers in Köln sitzt und mir beim Klavierspielen zuhört. Und als ich sie so sitzen sah und so an sie dachte, kamen mir plötzlich die Tränen.

Der Vater fragt, ob sie die Moselreise abbrechen und nach Hause fahren sollen, aber dann beschließen sie beide, das Heimweh zu überwinden.

Am Abend, in einem Privatquartier in Ediger, klingelt das Telefon, und der Vater fordert Hanns-Josef auf, den Hörer abzuheben. Es meldet sich die Mutter. Vor freudiger Überraschung weiß der Junge nicht, was er sagen soll. Der Vater rief kurz zuvor heimlich eine Nachbarin in Köln an, die Hanns-Josefs Mutter in ihre Wohnung holte und das Telefon benutzen ließ.

Es bleibt nicht die einzige Überraschung für den Jungen: In Trier steht am 1. August plötzlich die Mutter mit einem Koffer in der Tür. Sie bleiben noch zwei Tage zu dritt in Trier und kehren dann am 3. August gemeinsam mit dem Zug nach Köln zurück.

Dort schreibt Hanns-Josef anhand seiner Notizen „alles ganz genau auf“, „als chronologische Erzählung mit eingeschobenen Reflexionen und Text-Stationen komponiert“.

Die Wiederholung

Die Moselreise nimmt dem Kind „das Unbehagen an jeder Form von Fremde“. Aufgrund der positiven Erfahrung reisen Vater und Sohn auch in den folgenden Jahren gemeinsam ‒ an den Bodensee, nach Berlin, Salzburg, Wien und Paris –, und Hanns-Josef Ortheil verfasst darüber Reise-Erzählungen. Zum letzten Mal ist er kurz vor dem Abitur mit dem Vater unterwegs, auf einer mehrwöchigen Schiffsreise von Antwerpen nach Istanbul.

Nachdem der Vater 1988 gestorben ist, wiederholt Hanns-Josef Ortheil die Moselreise noch einmal minuziös, zu Fuß, per Fahrrad, Zug und Schiff, genauso wie im Sommer 1963. Er versucht sogar, in denselben Gaststätten wie damals das Gleiche zu essen.

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Unter dem Buchtitel „Die Moselreise“ fasst Hanns-Josef Ortheil vier Texte zusammen: (1) Die Entstehung der „Moselreise“, (2) Die Moselreise. Ein Reisetagebuch im Sommer 1963, (3) Die Wiederholung der Moselreise, (4) Das Weiterleben der Moselreise.

Den Kern bildet das zweite Kapitel, das 1963 vom damals elfjährigen Autor verfasste Reisetagebuch über seine Moselreise mit dem Vater. Es handelt sich um eine „Reise-Collage“ aus einem chronologischen Bericht, eingestreuten Notizen, Fotos und Zitaten aus Postkarten, die der Junge seiner Mutter schickte.

Es gibt unbeholfene Abschnitte wie zum Beispiiel:

Am liebsten frühstücke ich frische Brötchen, und am allerliebsten frühstücke ich die Brötchen, die es bei den Bäckern im Westerwald gibt. Auch die Wurst von den Metzgern im Westerwald frühstücke ich gern, während wir in Köln keine Wurst zum Frühstück frühstücken. Auch Käse frühstücken wir in Köln nicht zum Frühstück, wir frühstücken fast nie Käse zum Frühstück, sondern wir essen den Käse fast immer am Abend zum Abendbrot. […]

Damit kontrastieren Passagen mit erstaunlich genauen Beobachtungen des Elfjährigen:

Wenn Papa „lachhaft“ sagt, ist er ärgerlich. Meist sagt er auch nicht nur einmal „lachhaft“, sondern mehrmals. Er sagt dann „das ist ja lachhaft!“, und dann macht er eine Pause, und dann sagt er noch einmal „lachhaft!“, und dann macht er noch einmal eine Pause, und dann sagt er: „sowas Lachhaftes!“

Aus den ergänzenden Erläuterungen erfahren wir, dass Hanns-Josef Ortheil seit früher Kindheit täglich aufschreibt, was ihn beschäftigt. Inzwischen haben sich tausende von schwarzen Kladden angesammelt.

So schafft sich das Kind seine ganz besondere, selbst geschriebenen „Lese“- und „Lebensbücher“, und so entwirft es das „Archiv seines Lebens“.

Bleibt aber das Notieren und Fotografieren für längere Zeit aus, dann resigniert die Wahrnehmung, und ich spüre ganz deutlich, wie ich inmitten eines mir immer fremder werdenden Raumes von Minute zu Minute stärker erkalte.

Das große, unveröffentlichte Schreibprojekt der täglichen Aufzeichnungen erscheint mir inzwischen sogar als mein eigentliches Schreibprojekt oder „Hauptwerk“, aus dem immer wieder Teilprojekte in Form von Romanen, Erzählungen, Essays, Reportagen oder Artikeln hervorgehen.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2023
Textauszüge: © Luchterhand Literaturverlag

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