Sven Regener : Magical Mystery oder Die Rückkehr des Karl Schmidt
Inhaltsangabe
Kritik
Altona
In den Achtzigerjahren versuchte sich der in Bielefeld aufgewachsene Karl („Charlie“) Schmidt als Konzeptkünstler und gehörte zur Band „Glitterschnitter“, in der er die Synthesizer- und Schlagzeugtöne mit dem Lärm einer Hilti-Bohrmaschine bereicherte. 1989 brach er zusammen, möglicherweise aufgrund seines exzessiven Alkohol- und Drogenkonsums. Jedenfalls musste ihn sein Freund Frank Lehmann an dem Tag, an dem die Berliner Mauer geöffnet wurde, als Multitox-Problemfall in die Psychiatrie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf bringen.
Inzwischen sind fünf Jahre vergangen. Karl Schmidt, inzwischen 36, lebt in der von dem Sozialpädagogen Werner Maier und dessen Exfrau Gudrun geleiteten Wohngemeinschaft „Clean Cut I“ für ehemalige Drogensüchtige in Hamburg-Altona und arbeitet als Hilfshausmeister im Kinderkurheim Elbauen im Stadtteil Othmarschen. Weil sein Vorgesetzter, der Hausmeister Wieczorek, ständig betrunken ist, erledigt Karl Schmidt phlegmatisch alle anfallenden Arbeiten und füttert darüber hinaus die Affen, Krokodile und Zwergkaninchen im zur Einrichtung gehörenden Streichelzoo.
Eines Tages eröffnet ihm die Psychiaterin Dr. Marianne Selge, die Leiterin des Kinderkurheims Elbauen, dass er noch vier Wochen alten Jahresurlaub habe und diesen unverzüglich antreten müsse. Zur gleichen Zeit ersetzt sie den Hausmeister Wieczorek durch einen 33-Jährigen namens Niemeyer, der sich schon vor Vertragsbeginn an die Arbeit macht. Als Karl Schmidt beobachtet, wie umsichtig der Neue die Aufgaben erledigt, ahnt er, dass er in dem Kinderkurheim keine Zukunft mehr hat.
Werner Maier organisiert für Karl Schmidt einen vierwöchigen Aufenthalt in einer St. Magnus genannten Einrichtung bei Uelzen und besorgt ihm auch die Bahnfahrkarte.
Mitte
Aber Karl Schmidt steigt in Hamburg-Altona in den Zug nach Berlin statt nach Uelzen, denn ein paar Tage zuvor traf er zufällig seinen alten Kumpel Raimund Schulte wieder, und der hat ihm einen Job bei der unter dem Namen „Magical Mystery “ geplanten zehntägigen Deutschlandtournee des von ihm und Ferdinand („Ferdi“) Bühler gegründeten Musiklabels „BummBumm Records“ in Berlin angeboten.
„Wir brauchen einen, der sich um alles kümmert, der uns fährt und auf das Geld aufpasst und auf uns auch und dass wir weiterkommen und was weiß ich alles. […] Jedenfalls hatten wir dann die Idee, dass wenn du nichts nehmen darfst, dann bist du doch der ideale Mann dafür.“
Karl Schmidt äußert nach der Ankunft in Berlin zunächst Bedenken:
„Ich kann nicht einfach mit einer Gruppe von Verstrahlten durch die Gegend fahren und davon ausgehen, dass das gut geht, ich meine, dass ich da einfach so nüchtern bleibe.“
Aber am Ende lässt er sich für 4000 Mark von Raimund und Ferdi engagieren.
Hier konnte jeder mitmachen. Sogar ein alter Psychozausel wie ich, der seit fünf Jahren im Trockendock lag und bis eben noch Hilfshausmeister gewesen war.
„Okay, Ferdi“, sagte ich, „jetzt tu dir mir lieber den Gefallen und erzähl mal, worum es geht und was es mit Magical Mystery auf sich hat […].“
„Seht ihr“, sagte er zu seinen Leuten, „so geht das! Immer frisch drauflos, der Charlie!“
„Schon gut, Ferdi“, sagte ich. „Und jetzt die Fakten.“
„Wir gehen auf Tour!“ Ferdi drehte sich eine Zigarette. „Alles wie früher, wie die Rockmusiker oder die Beatles oder Kommune I oder so.“
„Gingen die auf Tour?“
„Charlie ehrlich mal, das interessiert doch kein Schwein, was die wirklich gemacht haben! Freie Liebe, Revolution, Sex. Wir wollen das Feeling […]. Von heute aus gesehen war das alles bunt und psychedelisch und Sommer der Liebe. Dabei war da gar nicht so viel Liebe, wie alle immer denken. da war eigentlich ganz wenig Liebe […]. Und Revolution war auch nicht ganz so viel, wie alle immer tun. […]“
Magical Mystery
Der Tourplan sieht Auftritte in Bremen, Köln, München, Hamburg, Schrankenhusen-Borstel und beim Springtime-Rave in Essen vor. Als es losgeht, verstauen Ferdi, Raimund, Anja, Dubi, Basti, Holger, Rosa, Sigi und Schöpfi ihr Gepäck im von Karl gefahrenen Kleinbus.
Anja hatte einen Instrumentenkoffer dabei. „Wieso ist das denn so eine riesige Flöte?“, sagte Ferdi, der während der Verladeprozedur dabeistand wie ein Vorarbeiter. „Ich hab mir so Flöten immer kleiner vorgestellt.“
„Saxofon“, sagte Anja. „Das ist ein Saxofon.“
„Ah!“, sagte Ferdi. „Wir dachten, Flöte.“
Mit Ausnahme von Schrankenhusen-Borstel in Schleswig-Holstein sind alle Übernachtungen in Häusern der Hotelkette „Fluxi“ gebucht, so also auch in Bremen, wo die Gruppe aus Berlin mit ein paar Stunden Verspätung eintrifft.
Dann hielt ich mit Schwung vor dem Fluxi-Hotel und sie sprangen alle lustig aus dem Auto und rannten fröhlich schnatternd in die Lobby und warfen sich dort in die Sessel, wobei es eher eine Lobby von der kleineren Sorte war, eher ein Wartezimmer mit einem Tresen, und es waren auch nicht wirklich Sessel, in die man sich werfen, es waren eher festmontierte, rote Plastikschalen, auf die man sich platzieren konnte, also eher eine Mischung aus Wartezimmer und Bushaltestelle […].
Allerdings sind nur noch vier Doppelzimmer frei, denn im Hotel rechnete man nicht mehr mit der Ankunft der Gruppe und vergab deshalb das reservierte fünfte Doppel- ebenso wie das Einzelzimmer an andere Gäste.
Die DJs legen nachts auf, und Karl Schmidts Aufgabe wird es sein, sie am nächsten Morgen um 8 Uhr aus dem Klub zu holen, damit sie vor der Weiterfahrt noch ein paar Stunden schlafen und Gifte abbauen können.
[Ferdi:] „[…] deshalb brauchen wir einen, der den Arsch macht! Einen, der uns da koste was es wolle und zur Not auch gegen unseren Willen rausholt, so ledernackenmäßig, verstehst du?“
[…]
„Aber kommt das nicht ein bisschen spießig rüber?“, warf Rosa ein. „Ich meine, erst Magical Mystery und high sein frei sein und dann gehen alle um acht nach Hause?“
„Und wenn einer früher ins Hotel will?“, rief Basti. „Ist das hier so Mitmachfaschismus? Müssen wir immer zusammenbleiben oder was?“
In Köln wird Bastis Hand in einer Tür eingeklemmt, und als Raimund ihn ins Krankenhaus bringen will, gerät er mit dem Tourbus aufs Schotterbett der Straßenbahn. Weil Raimund Alkohol und Drogen im Blut hat, nimmt Karl Schmidt ein Taxi zum Unfallort, ruft die Polizei und gibt sich als Fahrer aus. Während die Gruppe dann mit der Bahn nach München weiterreist, bleibt Karl Schmidt wegen der Reparatur des Busses noch eine weitere Nacht in Köln.
Als Karl Schmidt einen Passanten in München nach dem Hofbräuhaus fragt und die Antwort erhält, das sei in der Nähe vom Tal, wundert er sich, denn woher soll er wissen, dass es sich dabei nicht um eine Landschaftsform, sondern um einen Straßennamen handelt. Im Hofbräuhaus stößt er dann auch wieder auf die Gruppe.
Die DJ Rosa Schmitt fährt mit Karl Schmidt zwischendurch ins Hotel. Weil sie im Bett rauchen, obwohl es sich um ein Nichtraucherzimmer handelt, steht plötzlich der Portier in der Tür und erklärt, die Feuerwehr sei auch schon unterwegs. Bei der Rückfahrt zum Hofbräuhaus amüsieren sich Rosa und Karl darüber.
„Eigentlich eine gute Geschichte“, sagte sie.
„Finde ich auch.“
„Könnte man später seinen Enkelkindern erzählen.“
„Das wäre sicher romantisch“, sagte ich.
„Auf jeden Fall dürfte man das nur dann den Enkelkindern erzählen, wenn die von uns beiden sind. Sonst wäre das der falsche Move“, sagte sie. „Die muss man dann schon zusammen haben.“
„Ja, das stimmt. Das gibt sonst böses Blut“, sagte ich.
„Müsste man sonst den Deckel draufhalten.“
„Wäre dann geheim.“
„Aber schade um die schöne Geschichte!“
Weil Rosa vor einer festen Beziehung zurückschreckt, vergewissert sie sich am nächsten Tag:
„Aber wir müssen jetzt nicht ein großes Ding daraus machen, oder?“
Und als Karl dann zum Einkaufen in ein Gartencenter fährt und sie fragt, ob sie mitkommen wolle, meint Rosa:
„Ich wollte eigentlich lieber nichts mit dir machen, Karl Schmidt, sonst wird das noch was Ernstes“, sagte sie. „Ich meine, gestern, das war ja nur so Sex zum Spaß, aber wenn man jetzt schon zusammen ins Gartencenter fährt, dann wird’s ernst, das ist ja wie zu Ikea fahren, da ist man ja schon so gut wie verheiratet! Ich kann das im Augenblick nicht gebrauchen, das Letzte, was ich jetzt brauche, ist ein fester Freund oder sowas.“
In der Disco „Bomber“ in Schrankenhausen-Borstel stellt sich heraus, dass die Veranstalter „BummBumm Records“ für den „Crossover-Night“ genannten monatlichen Abend für Rollstuhlfahrer engagiert hat.
Springtime
Aber da ist noch „Springtime“, der große Rave in der Ruhr-Emscher-Halle in Essen.
Als Sebastian („Basti“) Stratmann und Holger Przybilla, die erfolgreichen „Hosti Bros“, auflegen sollen, stellt sich heraus, dass Basti bereits zu besoffen ist, und Raimund schimpft:
„Scheiße, diese blöden Mauken, jetzt haben sie einen Hit und performen nicht!“
Zufällig trifft Karl in der Ruhr-Emscher-Halle seinen alten Bekannten Erwin Kächele wieder. Der betreibt mit Frank Lehmann inzwischen „Rave Gastro Berlin“. Frank Lehmann ist ebenfalls in Essen, aber er und sein Freund Karl Schmidt verpassen sich beim Rave.
Weil Rosa erst um 6 Uhr morgens zum Auflegen in der Ruhr-Emscher-Halle eingeteilt ist, zieht sie sich mit Karl in ihr Zimmer im Fluxi-Hotel zurück und stellt den Wecker auf 5.30 Uhr.
Als Karl aufwacht, ist es hell, und die Uhr zeigt 10.45 Uhr.
„Du hast verschlafen“, sagte ich.
„Am Arsch verschlafen“, sagte sie. „Ich bin schon wieder zurück. Halle 4! Das war vielleicht ein Scheiß!“
Die Gruppe kehrt nach Berlin zurück, und Karl Schmidt nimmt sich dort einen Neuanfang vor.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Die Handlung des Romans „Magical Mystery oder Die Rückkehr des Karl Schmidt“ von Sven Regener, spielt Mitte der Neunzigerjahre und dauert nur etwa zwei Wochen. Den Protagonisten Karl („Charlie“) Schmidt kennen wir als Nebenfigur aus anderen Romanen von Sven Regener. Dieser 1989 nicht zuletzt aufgrund des Drogenkonsums zusammengebrochene und von seinem Freund Frank Lehmann in die Psychiatrie gebrachte Künstler kehrt gewissermaßen ins Leben zurück und wird gerade wegen seiner neuen Abstinenz für zehn Tage als Fahrer eines Tourbusses von „BummBumm Records“ in Berlin engagiert. „Magical Mystery“ heißt die Deutschlandtournee der DJs, die mit dem großen Springtime-Rave in Essen ausklingt. Sven Regener lässt Karl Schmidt in „Magical Mystery“ als Ich-Erzähler auftreten, aber der Sound des Schriftstellers bleibt unverkennbar.
Die Handlung dieser Mischung aus Satire und Schelmenroman entwickelt sich chronologisch-linear. Wirklich viel geschieht ohnehin nicht in „Magical Mystery oder Die Rückkehr des Karl Schmidt“. Wie in seinen anderen Romanen auch, setzt Sven Regener auf authentisch klingende und zugleich absurde, urkomische Dialoge. Er versteht es, mit direkter Rede und inneren Monologen Menschen, Lebensgefühle und Situationen zu charakterisieren. Beschreibungen benötigt er nur selten, um das Geschehen anschaulich zu inszenieren.
Bevölkert wird der Roman von Künstlerinnen und Künstlern – in diesem Fall DCs –, die versuchen, die Lebensauffassung der Hippie-Bewegung in den Sechzigerjahren zu retten. Dazu gehört, dass diese Bohemiens gar nicht daran denken, sich vernünftig und zukunftsorientiert zu verhalten. Das wäre viel zu spießig.
Gegliedert hat Sven Regener seinen unterhaltsamen, literarisch überzeugenden Roman in vier Teile (Altona, Mitte, Magical Mystery, Springtime) und 79 Kapitel.
Ein Running Gag besteht darin, dass sich immer wieder Leute darüber wundern, dass die Deutschlandtournee „Magical Mystery“ heißt. Das sei doch von den Beatles, heißt es, und deren Album „Magical Mystery Tour“ aus dem Jahr 1967 sei gefloppt.
Den Roman „Magical Mystery oder Die Rückkehr des Karl Schmidt“ von Sven Regener gibt es auch als Hörbuch, gelesen vom Autor.
Sven Regener schrieb außerdem das Drehbuch für die Verfilmung seines Romans „Magical Mystery oder Die Rückkehr des Karl Schmidt“ durch Arne Feldhusen mit Charly Hübner in der Hauptrolle.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Originaltitel: Magical Mystery oder Die Rückkehr des Karl Schmidt – Regie: Arne Feldhusen – Drehbuch: Sven Regener nach seinem Roman „Magical Mystery oder Die Rückkehr des Karl Schmidt“ – Kamera: Lutz Reitemeier, Christoph Iwanow – Schnitt: Benjamin Ikes – Darsteller: Charly Hübner, Annika Meier, Detlev Buck, Marc Hosemann, Bastian Reiber, Jacob Matschenz, Jan-Peter Kampwirth, Sarah Victoria Frick, Leon Ullrich, Sarah Bauerett, Bjarne Mädel, Lina Beckmann u.a. – 2017; 110 Minuten
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2021
Textauszüge: © Verlag Kiepenheuer & Witsch
Sven Regener: Herr Lehmann (Verfilmung)
Sven Regener: Neue Vahr Süd (Verfilmung)
Sven Regener: Wiener Straße
Sven Regener: Glitterschnitter