Juli Zeh : Neujahr

Neujahr
Originalausgabe: Luchterhand Literaturverlag, München 2018 ISBN 978-3-630-87572-9, 192 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Henning, ein Verlagslektor Mitte 30, macht mit seiner Familie zwei Wochen Urlaub auf Lanzarote. Mit einem Fahrrad quält er sich auf eine Anhöhe hinauf – und erinnert sich plötzlich, dass er als Kind schon einmal da war. Der Roman "Neujahr" von Juli Zeh ist ein Familienroman, vor allem aber das Psychogramm eines Mannes, der die Gleichberechtigung der Geschlechter akzeptiert, überkommene Rollenklischees abgelegt hat – aber sich sowohl in der Familie als auch im Beruf überfordert fühlt. Seine Panikattacken hängen allerdings auch mit einem traumatischen Kindheitserlebnis zusammen.
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Kritik

Die erste Hälfte und die letzten Seiten des Romans "Neujahr" spielen in der Gegenwart (Jahreswechsel 2017/18). Dazwischen blendet Juli Zeh in die Kindheit des Protagonisten zurück. "Neujahr" ist eine anrührende, mitreißende Lektüre, vor allem, weil es Juli Zeh gelingt, sich in den erwachsenen ebenso wie in den kindlichen Protagonisten zu versetzen und die psychischen Vorgänge intensiv auszuleuchten.
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Göttingen, 2017

Henning arbeitet als Lektor in einem Sachbuchverlag, und seine Frau Theresa in bei einem Steuerberater. Damit sich nicht nur ein Elternteil um die Kinder kümmert, haben sie beide ihre Zeit im Büro auf halbe Tage reduziert. Wenn das nicht ausreicht, ziehen Henning oder Theresa sich in die für diesen Zweck zusätzlich zur Wohnung gemietete Dachkammer im selben Haus in Göttingen zurück.

Als Henning vier Jahre alt war – wie nun sein Sohn Jonas –, trennten sich die Eltern Ulla und Werner. Er und seine zwei Jahre jüngere Schwester Luna wuchsen bei der Mutter auf, die mit Arbeit, Haushalt und Kindererziehung überfordert war. Dass sie sich ständig übermüdet, überarbeitet und genervt fühlte, ließ sie die Kinder spüren. Sie warf ihnen vor, dass sie ihretwegen auf Vergnügungen wie Partys, Reisen, Kunst, Lesen, Kino oder Theater verzichten musste.

Mit fünfzehn dachte er darüber nach, sich umzubringen oder wenigstens auszuziehen, um die Mutter von seiner Gegenwart zu befreien. Aber da war Luna. Sie war zu jung, sie brauchte ihn, es war absolut undenkbar, sie zu verlassen. Er wartete auf ihren 16. Geburtstag, bevor er ging. Länger hielt er es nicht aus. Er war 19 und hatte das Abitur geschafft. Sie brach die Schule ab, als er auszog. Durch nichts in der Welt ließ sie sich dazu bewegen, allein bei der Mutter zu bleiben und die Oberstufe abzuschließen. Sie folgte ihm erst nach Leipzig, wo er studierte, dann nach Göttingen, wo er seinen ersten Job bekam, und als er Theresa kennenlernte, begann Luna zu vagabundieren.

Nachdem die Kinder fort waren, zog Ulla – inzwischen Mitte 40 – nach Berlin und fand dort eine Anstellung in einer kleinen Galerie. Seither malt sie, besucht Konzerte und Vernissagen.

Henning gönnt es ihr. Er selbst will nicht ständig etwas „machen“, wie seine Frau, sondern einfach funktionieren, als Vater, Ehemann und Lektor gleichermaßen. Dabei fühlt er sich jedoch überfordert. Möglicherweise hängen damit die Panikattacken zusammen, unter denen er seit Anfang 2016 leidet und die er „Es“ nennt. Wenn Es ihn anfällt, versetzt es ihn in Todesangst, und wenn nicht, fürchtet er sich vor dem nächsten Mal.

Lanzarote, Silvester 2017

Über Weihnachten und Silvester 2017 bzw. Neujahr 2018 fliegen Henning und Theresa mit Jonas und dessen zweijähriger Schwester Bibbi für 14 Tage nach nach Lanzarote. In dem 500 Meter oberhalb der Playa Blanca liegenden Feriendorf Femés haben sie ein einfaches Reihenhaus gemietet. Für eine der schönen Ferienvillen hätte das Geld nicht gereicht.

Last minute reservieren Henning und Theresa vier Plätze für das Silvestermenü im Hotel Las Olas in Puerto del Carmen, und zwar für die erste Schicht von 18.00 bis 20.30 Uhr. An ihrem Tisch sitzt noch ein Paar aus Deutschland. Jonas und Bibbi laufen zwischendurch immer wieder zu zwei anderen Kindern, und Theresa plaudert dann dort mit den Eltern und deren Begleiter, einem Franzosen, der mit Theresa flirtet und schließlich auch tanzt, „die Körper wie Puzzleteile ineinandergefügt“.

Vor dem Einschlafen glaubt Henning den Franzosen wie im Traum zu sehen: Mit nacktem Oberkörper und heruntergelassener Hose beugt er sich über Theresa, die rücklings auf einem Sofa liegt.

Seine Panikattacken versucht der 34-Jährige zu verbergen, aber als er in dieser Nacht hochschreckt, greift er instinktiv nach Theresa. Sie wacht auf und schimpft:

„Ich hab die Schnauze voll von diesem Theater. Glaubst du, es dreht sich alles nur um dich? […] Deine Neurosen belasten die ganze Familie. Reiß dich endlich zusammen!“

Im nächsten Augenblick schläft sie wieder ein und schnarcht leise.

Lanzarote, Neujahr 2018

Am Neujahrsmorgen holt Henning zum ersten Mal das gemietete Fahrrad heraus. Er hat sich vorgenommen, zu einer weithin sichtbaren Häusergruppe am Ajaches-Gebirgszug hinaufzufahren. Erst als er längst unterwegs ist und bereits auf der ebenen Anfahrt mit dem heftigen Wind kämpft, fällt ihm auf, dass er weder Wasser, noch Proviant bei sich hat.

Auf dem letzten steilen Stück wird das Vorhaben qualvoll. Seine Muskeln schmerzen, sein Körper schreit nach Flüssigkeit und Nahrung, aber selbst wenn es in der kleinen Siedlung etwas zu kaufen gäbe, könnte er es nicht bezahlen, denn er vergaß auch sein Portemonnaie.

Verblüfft stellt er fest, dass er den Blick ins Tal kennt. Er muss hier schon einmal gewesen sein! Aufgewühlt kämpft er sich noch ein Stück weiter aufwärts zu einem abgelegenen Anwesen mit einer Tafel „Artesania/Arts Gallery/Kunst“. An einer Mauer sitzen hunderte von Spinnen. Auf seinem Smartphone liest er eine soeben eingegangene SMS: Theresa will sich von ihm trennen. Henning bricht zusammen.

Als er wieder zu sich kommt, beugt sich die Frau über ihn, die er vorhin sah, als sie den Berg mit dem Auto hinauffuhr, während er am Straßenrand Pause machte. Er schätzt sie auf Mitte 50. Sie heißt Lisa und stammt aus Hannover. Er sei dehydriert und unterzuckert, meint sie, gibt ihm Saft zu trinken und bereitet eine Tortilla für ihn zu. Als sie sieht, wie er nach seinem Smartphone greift, sagt sie, das sei zwecklos, weil es kein Funknetz gebe.

Lisa war 1987 zum ersten Mal auf Lanzarote. Während des zweiwöchigen Urlaubs entdeckte sie das Haus, das damals als Ferienhaus vermietet wurde. Es heißt, auf dem Anwesen sei kurz zuvor etwas Schlimmes mit zwei kleinen Kindern passiert, aber Lisa weiß nichts Näheres darüber. Sie kaufte das günstig angebotene Haus und kämpft seither für die Legalisierung des Bauwerks.

Nachdem Henning gegessen hat, führt Lisa ihn herum und zeigt ihm beispielsweise die für die Gartenbewässerung benutzte Zisterne (Aljibe). Einen Wasseranschluss gibt es nicht, und Strom nur den früher mit einem lärmenden Generator und inzwischen mit Photovoltaik selbst erzeugten. Henning fallen bemalte schwarze Steine auf. Solche lagen auch bei seiner Mutter im Bad. Mit diesen von Touristen gut bezahlten Souvenirs finanziere sie ihre Gemälde, erklärt Lisa. Vier der Steine sind mit einer Schlange, einer Schnecke, einem Skarabäus bzw. einem Tausendfüßler verziert. Die seien unverkäuflich, sagt Lisa, denn sie habe sie nicht selbst bemalt, sondern im Haus vorgefunden und betrachte sie als Glücksbringer.

Lanzarote, Achtzigerjahre

Der Anblick der Steine versetzt Henning zurück in seine Kindheit.

Er ist vier Jahre alt, Luna zwei. Die Eltern fliegen zum ersten Mal mit ihnen in den Urlaub, nach Lanzarote. Sie wohnen in diesem Haus. Gleich nach der Ankunft fotografiert die Mutter die Mauer mit den Spinnen. Als sie das Loch der Zisterne in der Betonfläche hinter dem Haus entdeckt, sorgt sie sich wegen der Kinder und schärft ihnen ein, davon wegzubleiben. Kämen sie der Öffnung zu nah, erklärt sie, würde das in der Höhle hausende Monster zupacken und die Kinder in die Tiefe ziehen. Der Vater Werner deckt das Loch mit einem Brett ab.

An einem schwarzen Strand sammelt Ulla Steine, und bei der Rückfahrt kauft sie Farbe, um sie zu bemalen. Beim nächsten Frühstück liegen vier Steine auf dem Tisch: der mit einer Schnecke verzierte für Werner, die Schlange für Ulla, für Henning ein Skarabäus und für Luna ein Tausendfüßler.

Als die Kinder Durst haben und ins Haus laufen, erblicken sie den nackten Rücken eines Mannes über der rücklings auf der Couch liegenden Mutter. Henning kennt den Rücken; es ist der des Gärtners Noah, der stets mit nacktem Oberkörper arbeitet. Entsetzt rennt er wieder in den Garten, zu seinem Vater.

Papa sitzt in einem Liegestuhl an der Gartenmauer, zwischen den Fingern eine seiner selbstgemachten Zigaretten, die dick sind und komisch riechen, und sieht aus, als schliefe er.

Bevor Werner ins Haus kommt, rennt Noah davon. Ulla hat die schluchzende Luna auf dem Arm und behauptet, das Kind sei hingefallen. Aber Henning weiß, dass das nicht stimmt. Der Vater geht wortlos zum Mietwagen und fährt los. Erst am Abend kommt er zurück. Die Kinder hören, wie die Eltern streiten.

Am nächsten Morgen sind sie allein im Haus. Henning weiß, dass er auf seine Schwester aufpassen muss, aber er ist damit völlig überfordert. Ihre volle Windel löst sich, und der stinkende Inhalt verteilt sich auf dem Boden. Henning versucht, mit Feuchttüchern aufzuwischen. Luna nässt sowohl auf die Couch wie ins Bett, und später kommen Häufchen auf dem Boden dazu.

Henning hat sich gemerkt, dass das Wasser aus der Zisterne wegen des Monsters giftig ist, aber der von den Eltern im Dorf gekaufte Trinkwasser-Behälter ist zu schwer für ihn und es gelingt ihm auch nicht, Löcher in die dicken Plastikwände zu stechen. Sobald die Packungen mit Orangensaft geleert sind, haben die Kinder nichts mehr zu trinken. Henning erwischt Luna, wie sie Wasser aus der Toilette schöpft.

Er will mit ihr nach Femés hinuntergehen, um nach den Eltern zu suchen. Aber Luna kommt nicht weit, dann bleibt sie erschöpft liegen. Henning geht zunächst allein weiter, aber dann kehrt er um und hilft seiner Schwester wieder hinauf zum Haus.

Als er ins Bad kommt, sieht er, dass Luna ein Schränkchen zum Waschbecken geschoben hat, hinaufgeklettert ist und das giftige Wasser aus dem Hahn trinkt. Erschrocken schubst er sie. Luna stürzt und schlägt sich beim Aufprall auf dem Boden zwei Milchzähne aus.

Weil Henning schließlich annimmt, dass die Eltern von dem Monster in die Tiefe gezogen wurden, fordert er Luna auf, ihm bei der Rettung der beiden zu helfen. Dazu müssen sie zunächst das schwere Brett wegkriegen, mit dem der Vater das Loch abgedeckt hat. Während sie sich noch damit abmühen, hören sie ein Auto und dann eine Männerstimme. Noah kommt angerannt. Da glaubt Henning zu begreifen, dass Noah das Monster ist. Im nächsten Moment werden er und Luna von Noah gepackt.

Lanzarote, Neujahr 2018

Henning kauert vor der Öffnung der Zisterne. Als sein Blick auf die zwei schwarzen Steine in seinen Händen fällt, einer mit einem Skarabäus, der andere mit einem Tausendfüßler bemalt, schleudert er sie entsetzt in die Tiefe. Lisa fordert ihn entrüstet auf, ihr Grundstück zu verlassen.

In Femés schaut Henning auf sein Smartphone. Die letzte SMS ist zwei Tage alt. Theresa bat ihn, Joghurt und Nutella mitzubringen.

Göttingen, 2018

Es war abgemacht, dass Luna zwei, drei Tage die Dachkammer als Quartier benutzte, aber als ihr Bruder mit der Familie von Lanzarote zurückkommt, ist sie noch immer da, und Theresa ärgert sich darüber.

Henning erinnert sich an ein Familienalbum, holt es aus dem Keller und schaut sich die alten Bilder mit Luna zusammen an. Er berichtet ihr von seinem Erlebnis auf Lanzarote.

Später ruft er die Mutter an. Ulla, die schon damit rechnete, dass Henning sich auf Lanzarote an die Ereignisse von damals erinnern würde, gibt nun alles unumwunden zu: Während Werner es vorzog, im Garten zu sitzen und Joints zu rauchen, erregte sie der Anblick des halbnackten Gärtners. Werner fuhr noch am selben Abend zum Flughafen. Ulla rannte dem Auto nach, und in Femés bot sie einem Motorradfahrer 50 Mark, damit er sie ebenfalls zum Flughafen brachte. Sie verunglückten jedoch. Drei Tage später erwachte sie in einem Krankenhaus auf Teneriffa aus dem künstlichen Koma. Weil sie keine Papiere eingesteckt hatte, wusste niemand von den verwaisten Kindern. Als die Polizei dann nachsah, waren Henning und Luna bereits bei Noahs Mutter. Zurück in Deutschland, ließ Ulla sich von Werner scheiden. Luna habe sich die beiden Schneidezähne ausgeschlagen, erzählte sie den Kindern, als sie mit dem Dreirad im Stadtpark gestürzt sei.

Henning begreift, dass er sich und Luna befreien muss. Ohne weitere Erklärung fordert er sie auf, ihre Sachen zu packen und unverzüglich das Haus zu verlassen.

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Der Roman „Neujahr“ von Juli Zeh ist ein Familienroman, vor allem aber das Psychogramm eines Mannes, der die Gleichberechtigung der Geschlechter und den Verlust männlicher Privilegien akzeptiert. Überkommene, geschlechtsspezifische Rollenklischees gelten für ihn und seine Frau nicht mehr. Weil Theresa mehr verdient als er, übernimmt Henning einen größeren Anteil an der Haushaltsführung und Kinderbetreuung. Aber er überfordert sich selbst sowohl in der Familie als auch im Berufsleben. Für seine Panikattacken („Es“) gibt es allerdings noch eine weitere Ursache: ein längst verdrängtes Kindheitstrauma. Der damit zusammenhängende Teil der Handlung dreht sich ebenfalls um das Thema Überforderung, in diesem Fall einer allein erziehenden Mutter.

In der ersten Hälfte des Buches stellt Juli Zeh den Protagonisten vor, und wir erleben, wie er sich am Neujahrstag 2018 mit einem Fahrrad an einem Berghang auf Lanzarote abmüht. Auf Seite 72 erreicht er erschöpft, dehydriert und unterzuckert den Ort, den er als Zielort wählte, aber von dort kämpft er sich noch ein Stück weiter hinauf. Und auf Seite 93 – ziemlich genau in der Mitte des Buches – erinnert er sich plötzlich an die traumatischen Ereignisse, die sich an diesem Ort in seiner Kindheit abspielten. Erst auf Seite 176 kehren wir mit ihm in die Gegenwart zurück.

Auf beiden Zeitebenen erzählt Juli Zeh im Präsens, aber der in Hennings Kindheit spielende Teil ist aus der Sicht des Vierjährigen dargestellt.

„Neujahr“ ist eine anrührende, mitreißende Lektüre, vor allem, weil es Juli Zeh gelingt, sich in den erwachsenen ebenso wie in den kindlichen Protagonisten zu versetzen und die psychischen Vorgänge intensiv auszuleuchten.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2018
Textauszüge: © Luchterhand Literaturverlag

Juli Zeh: Adler und Engel
Juli Zeh: Schilf
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Juli Zeh: Über Menschen
Juli Zeh und Simon Urban: Zwischen Welten

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