Juli Zeh, Simon Urban : Zwischen Welten

Zwischen Welten
Zwischen Welten Originalausgabe Luchterhand Literaturverlag, München 2023 ISBN 978-3-630-87741-9, 444 Seiten ISBN 978-3-641-30528-4 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Eine 43-jährige Bäuerin und ein drei Jahre älterer Journalist debattieren 2022 monatelang per WhatsApp, E-Mails und Telegram über Themen wie Klimawandel, Rassismus, Gendern, Cancel Culture, Bürokratie, Landwirtschaftspolitik. Dabei vertreten sie konträre Positionen, und während die pragmatische Bäuerin zur Aktivistin wird, besinnt sich der Journalist auf die klassische Unterscheidung von Nachricht und Meinung.
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Kritik

Juli Zeh und Simon Urban geht es in ihrem satirischen, an die Tradition des Briefromans anknüpfenden Gesellschaftsroman "Zwischen Welten" um die Krise in der Debattenkultur und die Mechanismen, die dazu führen, dass wir nicht mehr konstruktiv streiten können. In die Tiefe gehen sie mit ihrer Analyse jedoch nicht, und große Literatur ist dabei auch nicht entstanden.
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Theresa und Stefan

20 Jahre nach dem Germanistik-Studium in Münster laufen sich Theresa und Stefan zufällig im Winter 2021/22 in Hamburg über den Weg. In Münster wohnte Theresa bei ihrem drei Jahre älteren Kommilitonen Stefan, aber sie bildeten nur eine Wohngemeinschaft und wurden kein Paar.

Inzwischen ist Theresa Kallis (Jahrgang 1979) 43 Jahre alt. Als ihr Vater an einem Herzinfarkt starb und ihre Mutter zur Schwester an die Ostsee zog, brach Theresa ihr Studium in Münster ab, übernahm den von ihrem Urgroßvater um 1900 gegründeten Bauernhof in Schütte, einem Dorf mit 451 Einwohnern 80 Kilometer westlich von Berlin in Brandenburg und absolvierte nebenbei ein Fernstudium Agrarwissenschaften. Der Vater hatte den Hof als LPG-Vorsitzender geführt. Seit der Wende handelt es sich um die Agrargenossenschaft Kuh & Co. Schütte eG. Theresa und ihr Ehemann Basti haben zwei Kinder: Phil und Jonas sind acht bzw. zehn Jahre alt. Basti arbeitet als Mechatroniker, halbtags wegen der Kinder, und besucht die Meisterschule in der Absicht, später eine Werkstatt zu eröffnen.

Dr. Stefan Jordan schreibt als stellvertretender Chefredakteur und Leiter der Kulturredaktion für die fast 70 Jahre alte seriöse Wochenzeitung „Der Bote“ in Hamburg. Seit er 2015 über die UN-Klimakonferenz in Paris berichtete, setzt er sich auch als Journalist für Umweltschutz ein und zweifelt an der klassischen Trennung von neutralen Nachrichten auf der einen und Meinung bzw. Aktivismus auf der anderen Seite.

Seinem Vater Otto Alfred Jordan, einem Self-made-Unternehmer in Bochum, missfiel es, dass Stefan „Laberwissenschaften“ studierte, und Theresa meint, er lebe im Gegensatz zu ihr in einer „Reden-Schreiben-Lesen-Welt“.

Seit vor fünf Jahren seine Beziehung mit der Künstlerin Renée Toranzo-Meyer scheiterte, lebt Stefan wieder als Single.

Verschiedene Welten

Nach ihrem zufälligen Wiedersehen in Hamburg schicken sich Stefan und Theresa WhatsApp-Nachrichten und lange Mails.

Theresa klagt über die Bürokratie. Sie kritisiert, dass die Bodenverwertungs- und -verwaltungs GmbH (BVVG) weiter Land versteigert, obwohl Bäuerinnen und Bauern wie sie nicht genügend Geld haben, um sich an den Auktionen zu beteiligen und die Investoren, die den Zuschlag erhalten, die Pachtpreise in die Höhe treiben. Auch so schon bewege sich die Agrargenossenschaft finanziell am Abgrund, teilt sie Stefan mit. Dennoch hält sie an ihrem Betrieb mit 200 Kühen fest und führt sogar die teure muttergebundene Kälberzucht ein, anders als ihr früherer Schulfreund Lars Waigelt, der aus finanziellen Gründen auf Mais zur Energie-Erzeugung umstieg – und inzwischen feststellt, dass der Betrieb auch so nichts abwirft. Nun rät man ihm zu Carbon Farming: Er soll Humus erzeugen, mit dem CO² im Boden gebunden werden kann und dann Emissionszertifikate verkaufen. Sollen die Bauern alles Mögliche machen statt Lebensmittel zu erzeugen?, fragt Theresa in einer Mail rhetorisch. Sie weist Stefan darauf hin, dass auch ihr eigener Betrieb modern organisiert sei.

Keine Fachwerkscheunen, sondern weitläufige Betonflächen, auf denen flache Hallen stehen. dazu Futtersilos, ein Maschinenpark, Gülletanks. Strohmieten und Silage-Berge. Melkmaschine und Kühlanlage. Der Misthaufen hat die Höhe eines zweistöckigen Hauses und wird vom Teleskoplader an die Biogasanlage verfüttert. Nachts kommen silberne Tanklaster auf den Hof, um die Milch abzuholen. Jede Kuh trägt einen Transponder um den Hals, der uns modernes Herdenmanagement ermöglicht. Romantik ist anders, dafür sind wir ziemlich gut organisiert.

Theresa, die 100-Stunden-Arbeitswochen gewohnt ist, zeitweise ab 3.30 Uhr im Stall arbeitet und 200 Kühe allein, wenn auch mit der Maschine, melken muss, hält beispielsweise das von Stefan gepflegte Gendern und seine Wokeness für nebensächlich. Er hält ihr deshalb entgegen:

Das 21. Jahrhundert noch mal kurz & knapp für Brandenburger*innen erklärt: Nach Jahrhunderten der Ungerechtigkeit verändert sich die Welt – endlich. Es findet ein globaler Bewusstwerdungsprozess statt, dank MeToo, Black Lives Matter, FFF & Co. Seit die Social-Justice-Bewegung die Gesellschaft erobert, stehen Gerechtigkeit, Gleichberechtigung, Umverteilung auf dem Programm – und nicht mehr Unterdrückung, Diskriminierung, Bereicherung, Patriarchat. Dagegen kann doch außer alten weißen Männern niemand etwas haben!

Shit Storm

Mit Hilfe der beiden 19-jährigen Klimaaktivisten Leonie und Justin bringt „Der Bote“ eine Sonderausgabe heraus. Aufgrund des großen Erfolgs plant der von Dorothea von Bargen geleitete Verlag einen Big Relaunch der Zeitung unter dem Motto „Journalismus goes Aktivismus“.

In diesem Zusammenhang feiert die Hamburger Redaktion die Übernahme von Carla al-Saed, die bisher als stellvertretende Chefin der Online-Redaktion tätig war. Die 28-jährige Tochter von Migranten aus Simbabwe, die in Offenbach aufwuchs, ist per Zoom zugeschaltet und freut sich über den Zuspruch der neuen Kolleginnen und Kollegen. Sie wird nicht nur die Jüngste, sondern auch die erste Schwarze sein, die es an die Spitze eines Ressorts der Hamburger Zeitungsredaktion geschafft hat. Im Überschwang ruft der Chefredakteur Flori Sota:

„Wir berufen unsere …“ – Anführungszeichen – „verehrte Quoten-Schwarze in die Chefredaktion. Herzlich willkommen, Carla al-Saed!“

Das löst einen Skandal aus. Der im Alter von zwölf Jahren mit den Eltern aus Albanien eingewanderte Mann wird als Rassist beschimpft. Er weigert sich, der Forderung nach einer öffentlichen Entschuldigung nachzukommen und klagt über „Kreuzritter mit Internetanschluss“. Bei einer Aktion zerstören als Bauarbeiterinnen verkleidete Aktivistinnen mit Schlagbohrern und Presslufthämmern eine Sota-Statue aus Gips. Tami und Baltasar, die elf bzw. neun Jahre alten Kinder von ihm und seiner Ehefrau Rieke, einer gebürtigen Belgerien, die als Professorin an der Hamburger Universität Wirtschaftswissenschaften lehrt, werden in der Schule gemobbt. Flori Sota hofft, dass der Shit Storm im Lauf der Zeit verebbt, wenn er das Amt des Chefredakteurs vorübergehend Stefan Jordan überlässt. Aber als Tami in ihrer Verzweiflung von der Schaufel eines Radlagers in eine Baugrube springt und sich schwer verletzt, bereitet die Familie den Umzug nach Belgien vor.

Währenddessen lässt sich Theresa von Lars Waigelts 21-jähriger Tochter Eva, die seit Jahren bei ihrer Mutter in Berlin wohnt und VWL studiert, dazu überreden, bei einer Protestaktion der Gruppe „Green Redemption“ mitzumachen. Sie hilft, Gülle in Dosen mit nachgemachten Etiketten von Tomaten-, Linsen- und Fertigsuppen-Konserven abzufüllen. Die werden in die Regale verschiedener Supermärkte und Discounter geschmuggelt.

Doppelspitze

Bei einem erneuten Treffen von Theresa und Stefan in Hamburg geraten die beiden in einen handgreiflichen Streit. Und weil Basti argwöhnt, dass seine Frau ihn mit Stefan betrügt, zieht er mit den Kindern zu seinen Eltern nach Unterleuten. Die Familie droht zu zerbrechen.

Gleichzeitig mit der Nachricht, dass Stefan Jordan das Amt des Chefredakteurs von Flori Sota übernimmt, taucht in den Medien ein Auszug aus einer privaten Mail von ihm an Theresa auf, aus der hervorgeht, dass er die Frau geschlagen hat.

Carla al-Saed hält sowohl zu Flori Sota als auch zu dessen Nachfolger.

Sie kämpfe selbstverständlich gegen jede Form von Diskriminierung, aber solche kleinkarierten Hetzjagden seien Relativierungen des wahren Ernstes der Lage und schon deshalb kontraproduktiv. Die Verletzung des Postgeheimnisses […] nannte sie „infam“ […].

Nach dieser Äußerung würde Stefan sie am liebsten umarmen – aber dann würde man ihm auch noch Sexual Harassment vorwerfen.

Als ihn die Verlegerin Dorothea von Bargen zu einem Gespräch einlädt, rechnet Stefan mit der Kündigung, wird aber von dem Plan überrascht, die Wochenzeitung in „Bot*in“ umzubenennen und eine Doppelspitze aus ihm und Carla al-Saed zu etablieren.

„Tradition und Aufbruch, Print und digital, Bürgerlichkeit und migrantische Teilhabe, […] Geschlechterparität und Gleichberechtigung, […] journalistische Qualität und politische Haltung“

Stefan geht darauf ein, obwohl er durchschaut, dass Carla die eigentliche Chefin sein wird und die beiden Frauen ihm die Rolle einer Marionette zugedacht haben, um möglichst viele Zielgruppen abzudecken.

L. A. R. S.

Ein Landarbeiter, den Theresa entlassen musste, rächt sich in seiner Verzweiflung und legt mehrere Brände. Um finanziell zu überleben, sieht Theresa sich gezwungen, die 80.000 Euro zurückzufordern, die Basti von seinen Eltern bekam und die sie Lars Waigelt zur Verfügung gestellt hat, um ihm dringend erforderliche Investitionen zu ermöglichen. Aber ihr Jugendfreund hat das Geld verspielt.

Bald darauf erhängt er sich.

Seine Tochter gründet daraufhin „L. A. R. S.“ (Ländlich-agrarische Räume sichern) als Untergruppe des Aktionsbündnisses „Green Redemption“. Bei einer Protestaktion stellt L. A. R. S.“ vor dem Landwirtschaftsministerium in Berlin einen Pool auf und befüllt ihn mit Schweineblut. Als der Minister gegen den Rat seiner Sicherheitsleute herauskommt, um mit den Demonstrantinnen und Demonstranten zu reden, rennt Theresa auf ihn zu und schlägt ihm ins Gesicht.

Der Schnappschuss eines Amateurs davon wird zum Titelfoto der Erstausgabe der Wochenzeitung „Bot*in“, die am 1. Oktober 2022 planmäßig erscheint.

Vergeblich versucht Stefan, den Kontakt zu Theresa aufrechtzuerhalten. Seine Mails werden von „mailer-daemon@gmx.net“ beantwortet: „The following address failed: theresa.kallis@gmx.de“.

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Eine 43-jährige Bäuerin und ein drei Jahre älterer Journalist debattieren vom 5. Januar bis 4. Oktober 2022 per WhatsApp, E-Mails und Telegram über aktuelle Themen wie Klimawandel, Rassismus, Gendern, Cancel Culture, Bürokratie, Landwirtschaftspolitik. Dabei vertreten sie konträre Positionen.

Der NDR zitiert Juli Zeh (7. Februar 2023) allerdings mit dem Satz:

Wir wollen nicht zu bestimmten Meinungsbausteinen Stellung beziehen – das ist absolut nicht die Intention dieses Romans, sondern wir wollen zeigen, wie unterschiedlich man über solche Dinge denken kann.

Juli Zeh und Simon Urban geht es in ihrem satirischen Gesellschaftsroman „Zwischen Welten“ um die Krise in der Debattenkultur und die Mechanismen, die dazu führen, dass wir nicht mehr konstruktiv streiten können. In die Tiefe gehen sie mit ihrer Analyse jedoch nicht.

Dass sich ein vielbeschäftigter Journalist und eine Bäuerin, die 100-Stunden-Arbeitswochen gewohnt ist, zeitweise ab 3.30 Uhr im Stall arbeitet und 200 Kühe allein melken muss, mehrere Seiten lange Mails schreiben, lässt sich kaum nachvollziehen.

Bemerkenswert ist, dass sich die Rollen im Verlauf der Monate gegenläufig verändern: Während die pragmatische Bäuerin zur Aktivistin wird und einen Minister öffentlich ohrfeigt, besinnt sich der Journalist auf die klassische Unterscheidung von Nachricht und Meinung, obwohl er damit auf verlorenem Posten landet.

„Zwischen Welten“ steht in der Tradition des Briefromans, aber große Literatur ist Juli Zeh und Simon Urban damit nicht gelungen.

Den Roman „Zwischen Welten“ von Juli Zeh und Simon Urban gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Julia Nachtmann, Bona Rosario und Max Urlacher.

Veranschaulichung der Beziehungen

Zur Verfügung gestellt von © Gerhard Günther

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2023
Textauszüge: ©

Juli Zeh: Adler und Engel
Juli Zeh: Schilf
Juli Zeh: Corpus Delicti
Juli Zeh: Nullzeit
Juli Zeh: Unterleuten
Juli Zeh: Leere Herzen
Juli Zeh: Neujahr
Juli Zeh: Über Menschen

Mike McCormack - Ein ungewöhnlicher Roman über einen gewöhnlichen Mann
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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.