Juli Zeh : Corpus Delicti

Corpus Delicti
Corpus Delicti Originalausgabe: Schöffling & Co. Verlagsbuchhandlung GmbH, Frankfurt/M 2009 ISBN: 978-3-89561-434-7, 263 Seiten ISBN: 978-3-89561-975-5 (eBook) btb, München 2010 ISBN: 978-3-442-74066-6, 272 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Deutschland im Jahr 2057. Um die Gesundheit aller Bürger sicherstellen zu können, war es nötig, Grundrechte abzuschaffen und die individuelle Freiheit einzuschränken. Die Biologin Mia Holl ist von dem System überzeugt – bis ihr Bruder Moritz wegen Mordes verurteilt wird. Als Naturwissenschaftlerin erkennt sie den genetischen Fingerabdruck als Tatbeweis an, aber zugleich glaubt sie den Unschulds­beteuerungen ihres Bruders, der sich in der Zelle erhängt hat. Das Dilemma wirft sie aus der Bahn ...
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Kritik

"Corpus Delicti" ist eine Dystopie, ein ebenso kluges wie faszinierendes Gedankenexperiment von Juli Zeh, in dem sie sich vorstellt, was in naher Zukunft aus bereits bestehenden Tendenzen werden könnte: ein utilitaristischer Überwachungsstaat.
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Früher glaubte man in Deutschland an die Demokratie. Inzwischen wurde ein als METHODE bezeichnetes Staatssystem eingeführt, dessen Legitimation auf dem Gemeinwohl basiert.

Wir haben eine METHODE entwickelt, die darauf abzielt, jedem Einzelnen ein möglichst langes, störungsfreies, das heißt, gesundes und glückliches Leben zu garantieren.

Krankheiten hat man konsequent ausgerottet, und jegliches die Gesundheit gefährdende Verhalten steht unter Strafe. „Santé!“, lautet die übliche Begrüßungsformel.

Noch vor fünfzig Jahren zeigten Kinder stolz ihre aufgeschürften Knie. Erwachsene Menschen malten einander Herzchen aufs Gipsbein. Jeder klagte über Heuschnupfen, Rückenschmerzen und Verdauungsprobleme und wollte doch immer nur eins: unverdiente Aufmerksamkeit. Wehleidigkeiten aller Art galten als ernst zu nehmende Gesprächsgegenstände. Arztbesuche wurden zum Volkssport. Die Krankheit war den Menschen Existenzbeweis – als wären sie nicht in der Lage gewesen, sich selbst zu spüren, solange ihnen nichts wehtat! Jahrhunderte lang hat man die Schwäche angebetet, man hat sie sogar zum Kern einer Weltreligion erhoben. Man kniete vor dem Bild eines magersüchtigen, bärtigen Masochisten […]

Um die Gesundheit aller sicherstellen zu können, war es nötig, Grundrechte abzuschaffen und die individuelle Freiheit einzuschränken. Das zu Beginn des 21. Jahrhunderts in Deutschland eingeführte Rauchverbot in öffentlichen Räumen gilt nun überall. Ebenso untersagt ist der Konsum von Alkohol oder Drogen. Statt Tee oder Kaffee trinkt man heißes Wasser mit ein paar Spritzern Zitronensaft. Nahrung wird aus Tuben aufgenommen. Küssen ist aus hygienischen Gründen strafbar, und Ehepartner werden von einer staatlichen Zentrale nach genetischer Kompatibilität bestimmt. Zimmerpflanzen sind zwar erlaubt, aber selbst­verständlich nur künstliche. Jeder Bürger trägt unter der Haut am Bizeps einen Chip, der Daten über die Körperfunktionen speichert und über Scanner ausgelesen werden kann. Das Abwasser wird durch Sensoren kontrolliert, die beispielsweise bei Spuren von Nikotin Alarm schlagen oder auch von Säuren, die darauf schließen lassen, dass jemand sich übergeben hat. Messgeräte am gesetzlich vorgeschriebenen Hometrainer halten fest, ob jeder Einzelne die im Fitnessprogramm vorgeschriebene Mindestleistung erbracht hat. Darüber hinaus muss jeder regelmäßig Schlaf- und Ernährungsberichte abgeben. Die METHODE gilt als rational und unfehlbar.

Im Gegensatz zu allen Systemen der Vergangenheit gehorchen wir weder dem Markt noch einer Religion. Wir brauchen keine verstiegenen Ideologien. Wir brauchen nicht einmal den bigotten Glauben an eine Volksherrschaft, um unser System zu legitimieren. Wir gehorchen allein der Vernunft.

Moritz Holl hält sich nicht an die Vorschriften. Der 27-Jährige gehört nicht zu den Revolutionären, die ein „Recht auf Krankheit“ (RAK) fordern, aber er beansprucht Freiheit. Dazu gehört das Verlassen des Hygienegebiets, also das Passieren eines Schildes mit der Aufschrift:

Hier endet der nach Paragraph 17 Desinfektionsordnung kontrollierte Bereich. Verlassen des Hygienegebiets wird nach Paragraph 18 Desinfektionsordnung als Ordnungswidrigkeit zweiten Grades bestraft.

Viel Zeit verbringt Moritz auf einer Waldlichtung am Fluss, die er seine „Kathedrale“ nennt. Dort raucht der Freidenker, hält die Füße in das keineswegs keimfreie Wasser, angelt und verzehrt die gefangenen Fische trotz des Risikos, sich dadurch mit krankmachenden Bakterien zu infizieren.

Seine sieben Jahre ältere Schwester Mia neckt ihn als „Spinner“. Sie arbeitet als Biologin und hält die METHODE für vernünftig. Widerwillig lässt sie sich von Moritz über die Grenze des Hygienegebiets ziehen und in die „Kathedrale“ mitnehmen. Es entsetzt sie, dass er sich eine Zigarette anzündet. Obwohl sie nichts davon wissen will, berichtet er ihr von seinen sexuellen Abenteuern, etwa mit Claudia („deep throat“) oder Kristine („doggy style“).

Ein Blind Date mit Sibylle im Frühjahr 2057 wird ihm zum Verhängnis. Kurz nach Mitternacht klingelt Moritz aufgeregt bei seiner Schwester, die noch am Schreibtisch sitzt. Wie vorher auch mit anderen Frauen, war er mit Sibylle Meiler unter der Südbrücke verabredet.

„Erst dachte ich, sie ist gar nicht da. Oder schon wieder weg. Aber sie lag am Boden. Unten rum war sie … nackt. Ich habe sie an den Schultern gerüttelt, aufgehoben und wieder hingelegt. Ganz warm und weich war sie.“

Moritz alarmierte die Polizei und wartete neben der Toten auf das Eintreffen der Beamten, die seine Zeugenaussage aufnahmen.

Zwei Tage später wird Moritz im Beisein seiner Schwester in der „Kathedrale“ verhaftet. Die gerichtsmedizinische Untersuchung ergab, dass Sibylle Meiler vor ihrem Tod vergewaltigt wurde. Die DNA des Spermas stimmt mit der von Moritz überein. Obwohl er bis zuletzt beteuert, Sibylle nichts angetan zu haben, verurteilt ihn das Gericht wegen Mordes.

Bei Mias letztem Besuch im Gefängnis fädelt sie ihm unbemerkt die gewünschte Angelschnur durch ein Loch in der Besucher und Häftlinge trennenden Glaswand.

„Das Leben“, sagt Moritz leise, „ist ein Angebot, das man auch ablehnen kann.“

Mit der Angelschnur erhängt Moritz sich im Mai 2057 in seiner Zelle.

Als Naturwissenschaftlerin erkennt Mia Holl den DNA-Vergleich als Tatbeweis an, aber zugleich glaubt sie den Unschuldsbeteuerungen ihres Bruders.

„Ich blicke auf eine Kreuzung zwischen zwei Wegen“, sagt Mia. „Der eine Weg heißt Unglück, der andere Verderben. Entweder ich verfluche ein System, zu dessen METHODE es keine vernünftige Alternative gibt. Oder ich verrate die Liebe zu meinem Bruder, an dessen Unschuld ich ebenso fest glaube wie an meine Existenz.“

Hin- und hergerissen und um ihren Bruder trauernd, vernachlässigt Mia die Reinigung ihrer Wohnung, das Fitnessprogramm und die Meldepflichten. Ein paar Wochen nach Moritz Holls Suizid wird seine Schwester deshalb vom Gericht vorgeladen. Die Richterin Sophie, die etwas jünger ist als Mia, strebt keine Prozesseröffnung an.

„Frau Holl. Weniger schön, dass ich Sie vorladen musste. Sie hätten freiwillig zum Klärungsgespräch kommen sollen. Jetzt ist es eine Anhörung.“

Sophie rät zu einer Psychotherapie, aber Mia glaubt, selbst mit ihrer Trauer und ihrer inneren Zerrissenheit fertigzuwerden, wenn man sie nur in Ruhe lassen würde.

„Ich hielt meinen Schmerz für eine Privatangelegenheit.“
„Privatangelegenheit?“, fragt Sophie erstaunt.

„Wenn wir vernünftig denken“, sagt Sophie, „schuldet die Gemeinschaft Ihnen Fürsorge in der Not. Dann aber schulden Sie der Gemeinschaft das Bemühen, diese Not zu vermeiden. Ist das nachvollziehbar?“

Mia beteuert, keine Anti-Methodistin zu ein. Schließlich verzichtet die Richterin darauf, eine Hilfsmaßnahme anzuordnen und belässt es bei einer offiziellen Verwarnung.

Mia, die ihre Wohnung kaum noch verlässt, raucht zwei Tage später in Erinnerung an Moritz eine Zigarette. Die Nachbarin Driss riecht den Rauch im Treppenhaus und schreit aufgeregt „Feuer!“

Diesmal muss Mia sich vor Gericht wegen des Missbrauchs toxischer Substanzen verantworten. Die Richterin Sophie ist aufgebracht.

„Das ist keine Güteverhandlung mehr“, zischt sie. „Kein Klärungsgespräch. Auch keine Anhörung. Das, Frau Holl, ist ein Strafprozess.“

Weil Mia sich um Kopf und Kragen redet, setzt Sophie die Verhandlung aus und bestellt den jungen Rechtsanwalt Dr. Lutz Rosentreter als Pflichtverteidiger der Angeklagten. Dem „Vertreter des privaten Interesses“ steht der Staatsanwalt Bell als „Vertreter des staatlichen Interesses“ gegenüber. Im Mandantengespräch versucht er Mia zu beruhigen:

„Das hier“, beginnt er von Neuem und umfasst den Raum mit einer weiten Armbewegung, „dürfen Sie nicht so ernst nehmen. Das sind Abläufe. Procedere. Bürokratische Verfahren, die durch bestimmte Verhaltensweisen wie auf Knopfdruck in Gang gesetzt werden. Das hat mit Ihnen persönlich nicht viel zu tun.“

Aggressive Anträge des Verteidigers veranlassten das Gericht, eine verhältnismäßig hohe Strafe zu verhängen; Mia wird zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Dadurch erreicht Rosentreter, was er wollte: öffentliche Aufmerksamkeit. In der Hauptverhandlung vor großem Publikum beantragt er „die Einführung von verfahrensrelevantem Material aus der Sache Moritz Holl in den vorliegenden Prozess“, und als Sophie arglos zustimmt, löst er einen Justizskandal aus. Er führt aus, dass Moritz Holl im Alter von sechs Jahren an Leukämie erkrankt war und eine Knochenmarkspende erhalten hatte. Aufgrund der Stammzelltransplantation hatte Moritz Holl dieselbe DNA wie der Spender Walter Hannemann, der Sibylle Meiler mutmaßlich vergewaltigte und ermordete.

Mia wird umgehend freigelassen. Beim Verlassen des Gerichtsgebäudes drängen sich Reporter um sie.

„Frau Holl, kann die METHODE, wenn sie mit derartigen Fehlern behaftet ist, noch als legitim gelten?“
„Diese Frage“, sagt Mia, „werde ich nicht beantworten.“
[…] „Aber ich werde diese Frage stellen“, sagt Mia. „Immer wieder.“

Rosentreter begleitet sie nach Hause, um den Sieg mit ihr zu feiern. Er öffnet eine Flasche Champagner und trinkt zum ersten Mal in seinem Leben Alkohol. Eindringlich rät er seiner Mandantin, sich aus der Öffentlichkeit fernzuhalten, bis Ruhe eingekehrt ist.

„Keine Interviews“, verkündet Rosentreter. „Keine Fernsehauftritte. Möglichst wenig in der Öffentlichkeit erscheinen. Wozu gibt es Lieferservice, Boten und Telekommunikation? Du, Mia, wirst am besten für eine Weile das Haus nicht verlassen.“

Mias Dilemma ist gelöst. Ihr Gefühl, dass Moritz unschuldig gewesen sei, war richtig, und die Übereinstimmung der DNA-Proben ließ sich im Einklang mit den Naturgesetzen klären. Aber sie begreift, dass es nicht genügt, an einen Menschen zu glauben.

„Es reicht nicht einmal, von seiner Unschuld zu wissen. Es geht darum, sich mit ganzem Wesen zu ihm zu bekennen.“

Um sich öffentlich zu Moritz zu bekennen und die METHODE anzuprangern, ruft sie den Journalisten Heinrich Kramer an, einen ebenso fanatischen wie intellektuellen und höflichen Vorkämpfer der METHODE und Autor des Standardwerks „Gesundheit als Prinzip staatlicher Legitimation“. Ihm diktiert sie ihr Pamphlet. Sie entzieht dem Staat, der Gesellschaft und sich selbst das Vertrauen.

Ich entziehe einer Gesellschaft das Vertrauen, die aus Menschen besteht und trotzdem auf der Angst vor dem Menschlichen gründet. Ich entziehe einer Zivilisation das Vertrauen, die den Geist an den Körper verraten hat. Ich entziehe einem Körper das Vertrauen, der nicht mein eigenes Fleisch und Blut, sondern eine kollektive Vision vom Normalkörper darstellen soll. Ich entziehe einer Normalität das Vertrauen, die sich selbst als Gesundheit definiert. Ich entziehe einer Gesundheit das Vertrauen, die sich selbst als Normalität definiert. Ich entziehe einem Herrschaftssystem das Vertrauen, das sich auf Zirkelschlüsse stützt. Ich entziehe einer Sicherheit das Vertrauen, die eine letztmögliche Antwort sein will, ohne zu verraten, wie die Frage lautet. Ich entziehe einer Philosophie das Vertrauen, die vorgibt, dass die Auseinandersetzung mit existentiellen Problemen beendet sei. Ich entziehe einer Moral das Vertrauen, die zu faul ist, sich dem Paradoxon von Gut und Böse zu stellen und sich lieber an „funktioniert“ oder „funktioniert nicht“ hält. Ich entziehe einem Recht das Vertrauen, das seine Erfolge einer vollständigen Kontrolle des Bürgers verdankt. Ich entziehe einem Volk das Vertrauen, das glaubt, totale Durchleuchtung schade nur dem, der etwas zu verbergen hat. Ich entziehe einer METHODE das Vertrauen, die lieber der DNA eines Menschen als seinen Worten glaubt. Ich entziehe dem allgemeinen Wohl das Vertrauen, weil es Selbstbestimmtheit als untragbaren Kostenfaktor sieht. Ich entziehe dem persönlichen Wohl das Vertrauen, solange es nichts weiter als eine Variation auf den kleinsten gemeinsamen Nenner ist. Ich entziehe einer Politik das Vertrauen, die ihre Popularität allein auf das Versprechen eines risikofreien Lebens stützt. Ich entziehe einer Wissenschaft das Vertrauen, die behauptet, dass es keinen freien Willen gebe. Ich entziehe einer Liebe das Vertrauen, die sich für das Produkt eines immunologischen Optimierungsvorgangs hält. Ich entziehe Eltern das Vertrauen, die ein Baumhaus „Verletzungsgefahr“ und ein Haustier „Ansteckungsrisiko“ nennen. Ich entziehe einem Staat das Vertrauen, der besser weiß, was gut für mich ist, als ich selbst. Ich entziehe jenem Idioten das Vertrauen, der das Schild am Eingang unserer Welt abmontiert hat, auf dem stand: „Vorsicht! Leben kann zum Tode führen.“
Ich entziehe mir das Vertrauen, weil mein Bruder sterben musste, bevor ich verstand, was es bedeutet zu leben.

Durch das von Heinrich Kramer veröffentlichte Pamphlet wird Mia zur Identifikations- und Integrationsikone von Widerstandsbewegungen. Es dauert nicht lang, bis ein SEK des Methodenschutzes Mias Wohnungstür aufsprengt, sie mit einer Injektion betäubt und festnimmt.

Im Gefängnis fragt sie Lutz Rosentreter, wie die Anklage laute.

„Es gibt keine Anklage, Mia. Auf dem Haftbefehl steht Suizidgefahr.“

Zehntausende demonstrieren für Mias Freilassung.

Als Studiogast seines jungen Kollegen Würmer in der Talkshow „Was alle denken“ erklärt Heinrich Kramer, die gefährlichsten Viren bestünden „nicht mehr aus Nukleinsäuren, sondern aus infektiösen Gedanken“.

Kramer besucht Mia in der Haftanstalt. Während ihr Verteidiger nur durch die Glasscheibe im Besucherraum mit ihr sprechen darf, wird der einflussreiche Journalist in die Zelle geführt. Er bringt ihr heißes Wasser und Tubennahrung.

Dann spricht er im Ton einer Radioreportage. „Dem Methodenschutz ist es gelungen, Moritz Holl als Anführer einer Widerstandszelle zu identifizieren, die unter dem Namen Die Schnecken agiert. Man traf sich regelmäßig am Flussufer im Südosten der Stadt – nach dem Geheimcode der Gruppe in der Kathedrale.“

Nachdem er Mia darüber informiert hat, dass Walter Hannemann sich inzwischen das Leben nahm, liest er ihr ein vorbereitetes Geständnis vor.

„Passen Sie auf, es geht los. – Den Plan habe ich, Mia Holl, gemeinsam mit meinem Bruder entwickelt. Er war ebenso einfach wie genial. Hannemann beging den Mord an Sibylle. Wie wir es vorhergesehen hatten, wurde das Verbrechen aufgrund einer DNA-Probe meinem Bruder angelastet. Moritz war von der Idee besessen, als Märtyrer im Kampf gegen die METHODE zu sterben. Überhaupt gehört es zur Ideologie der Schnecken, den Freitod als Garant der persönlichen Freiheit zu betrachten. Nach seiner Verurteilung beging Moritz im Gefängnis Selbstmord. Dabei habe ich ihm geholfen. […] Auf diese Weise verursachten wir einen Justizskandal, der die METHODE in ihren Grundfesten erschüttern sollte. Nach Moritz‘ Tod habe ich die Führung der Schnecken übernommen. Das ist sein Vermächtnis. Zum gegenseitigen Schutz sind mir die meisten Mitglieder der Gruppe nach wie vor unbekannt. In der Kathedrale treffe ich regelmäßig eine Mittelsperson, die unter dem Decknamen Niemand auftritt.“

Sophie wurde in ein Amtsgericht in der Provinz versetzt. Ihr Nachfolger, Richter Hutschneider, ist um die 60 Jahre alt. Auf den Fall Mia Holl hätte er gern verzichtet. Er fürchtet die Rebellen und beabsichtigt nicht, den Helden zu spielen. Um weder sich noch Familienangehörige in Gefahr zu bringen, handelt er strikt nach Vorschrift, ohne sich um eine Aufdeckung der Wahrheit zu bemühen.

Zunächst geht es um eine Gegenüberstellung der Angeklagten mit dem Kronzeugen. Dabei handelt es sich um den früheren Fernseh-Moderator Würmer, der angeblich unter dem Decknamen Niemand zu den Verschwörern gehört. Er wird in Handschellen hereingeführt und trägt einen Anzug aus weißem Papier wie die Angeklagte.

Niemand„, sagt er [Hutschneider]. „Erkennen Sie diese Frau?“
„Das ist Mia Holl“, erwidert der Kronzeuge ohne Zögern. […]
„Oje“, sagt Mia, die ihr gefesseltes Gegenüber mitleidig betrachtet. „Was hat man mit Ihnen angestellt?“
„Arabisch erstens“, sagt Hutschneider in sein Diktiergerät. „Die Angeklagte nimmt sogleich freundschaftlichen Kontakt mit dem Kronzeugen auf.“
„Hatte Kramer Sie in der Mangel?“, fragt Mia.
„Das ist die Schwester von Moritz Holl“, sagt Niemand in einem Tonfall, als lese er seine Aussage von einem Zettel ab.

Bei seinem nächsten Besuch im Gefängnis teilt Lutz Rosentreter seiner Mandantin mit, dass das Höchste Methodengericht die inzwischen eingereichte Klage abgewiesen habe, man das Verfahren also fortsetzen werde. Er überbringt noch eine weitere schlechte Nachricht: Bei einer ordnungsgemäß durchgeführten Hausdurchsuchung wurden in Mias Wohnung Nahrungsmitteltuben sichergestellt, mit ihren Fingerabdrücken und gefüllt mit 50 Gramm Botulinum-Bakterienkulturen. Damit hätte man das Trinkwasser des ganzen Landes vergiften können. Mia begreift, warum Kramer ihr Nahrungsmitteltuben in die Zelle mitgebracht hatte. Wie gewünscht, schiebt Rosentreter eine lange Nadel durch ein Loch in der Glasscheibe, ohne dass der Aufsichtsbeamte es mitbekommt.

Heinrich Kramer versucht noch einmal, Mia für ein Geständnis zu gewinnen. Einerseits droht er mit der schlimmsten Strafe – Einfrieren auf unbestimmte Zeit – andererseits lockt er sie mit der Aussicht auf mildernde Umstände und eine Haftstrafe unter privilegierten Bedingungen. Erst als er damit keinen Erfolg hat, droht er mit Folter, also einem Rückgriff auf „veraltete Maßnahmen“.

„An den technischen Details hat sich wenig geändert. Da funktioniert im Wesentlichen alles wie vor fünfzig Jahren. Man stellt Sie auf eine Kiste, nackt, versteht sich, und zieht Ihnen eine schwarze Kapuze über den Kopf. An Ihren Fingern, Zehen und primären Geschlechtsteilen werden Kontakte befestigt, Wäscheklammern nicht unähnlich.“ Er öffnet und schließt die Finger, als würde er solche Klammern betätigen. „Die Stromstärke wird stufenlos hochgefahren. Zwei gut ausgebildete Ärzte vom Universitätsklinikum sorgen dafür, dass Sie nicht … draufgehen.“

Mia bleibt vor und während der Folter standhaft. Danach liegt sie zusammengekrümmt auf dem nackten Fußboden ihrer Zelle und wird immer wieder von Spasmen geschüttelt.

Als Kramer sie besucht, erklärt sie ihm, wo die lange Nadel versteckt ist. Er gibt sie ihr, und Mia richtet die Spitze auf sein rechtes Auge.

„Stellen Sie sich vor, ich habe mir diese Nadel extra beschafft, um Sie Ihnen durchs Auge ins Hirn zu schieben. So viel waren Sie mir wert. Inzwischen bin ich klüger. Die schärfsten Waffen richtet man gegen sich selbst.“

Sie rammt sich die Nadel zentimetertief in den Oberarm und nimmt mit schmerzverzerrtem Gesicht den blutigen Chip heraus.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Zu der langen Liste von Anklagepunkten gehören Hochverrat, die Planung eines Attentats auf die Trinkwasserversorgung und die Vorbereitung eines terroristischen Krieges. Staatsanwalt Bell beantragt die Höchststrafe, und der Verteidiger Lutz Rosentreter erklärt, er verzichte angesichts der erdrückenden Beweislage auf einen Gegentrag. Richter Hutschneider diktiert:

„Urteil in der Strafsache gegen Mia Holl, deutsche Staatsangehörige, Biologin, wegen methodenfeindlicher Umtriebe […]
Römisch erstens. Die Angeklagte ist schuldig der methodenfeindlichen Umtriebe in Tateinheit mit der Vorbereitung eines terroristischen Krieges, sachlich zusammentreffend mit einer Gefährdung des Staatsfriedens, Umgang mit toxischen Substanzen und vorsätzlicher Verweigerung obligatorischer Untersuchungen zu Lasten des allgemeinen Wohls. Römisch zweitens. Sie wird deshalb zum Einfrieren auf unbestimmte Zeit verurteilt. Römisch drittens. Die Angeklagte hat die Kosten des Verfahrens und ihre notwendigen Auslagen zu tragen.“

Zum anberaumten Zeitpunkt wird Mia Holl fürs Einfrieren vorbereitet.

Vielleicht ist es der friedlichste Moment seit Wochen. Vielleicht sogar seit Monaten. Die Liege ist bequem, der Raum sauber, die Luft klimatisiert. Man hat Mia gewaschen, massiert und gefüttert. Man hat sie in einen Neopren-Anzug gesteckt, der die Haut vor Frostschäden schützen wird.

Nach ihrem letzten Wunsch gefragt, bittet Mia um eine Zigarette. Richter Hutschneider traut seinen Augen nicht, als Heinrich Kramer daraufhin lachend ein silbernes Etui aus der Tasche zieht und der Verurteilten eine Zigarette gibt. Im Protokoll vermerkt er, sie habe auf einen letzten Wunsch verzichtet. Wenige Sekunden nachdem der Deckel der Kältemaschine geschlossen wurde, fliegt die Tür auf und Bell stürmt mit der Nachricht herein, dass der Präsident des Methodenrats die Verurteilte auf Antrag der Verteidigung und Wunsch von höchster Stelle begnadigt hat. Sofort wird der Deckel wieder geöffnet.

Kramer kann nicht anders, als mit dem Finger auf Mia zu zeigen. „Schauen Sie sich die Verurteilte an!“, stößt er hervor, als er wieder sprechen kann. „Dieser entgeisterte Blick! Sie hat ernsthaft geglaubt, die METHODE würde Sie zur Märtyrerin machen. Dabei schenken nur unfähige Machthaber dem nervösen Volk eine Kultfigur. Jesus von Nazareth, Jeanne d’Arc – der Tod verleiht dem Einzelnen Unsterblichkeit und stärkt die Kräfte des Widerstands. Das wird Ihnen nicht passieren, Frau Holl. Stehen Sie auf. Ziehen Sie sich an. Gehen Sie nach Hause. Sie sind …“ Noch einmal kehrt der Lachanfall zurück. „Frei!“

Wirklich freigelassen wird Mia jedoch nicht.

„Psychologische Betreuung“, sagt Bell zu Hutschneider. „Bestellen einer Aufsichtsperson. Unterbringung in einer Resozialisierungsanstalt. Medizinische Überwachung. Alltagstraining. […] Vertrauensbildende Maßnahmen. Politische Bildung. Methodenlehre.“

Auch Kramer hat die Hand auf der Klinke. Er wirft Mia sein Zigarettenetui und das Feuerzeug zu.
„Leben Sie wohl, Frau Holl“, sagt er.
Mia bleibt allein zurück. Sie schüttelt mit dem Kopf.
Denn erst jetzt ist sie – erst jetzt ist das Spiel – erst jetzt ist wirklich alles zu Ende.

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Bei „Corpus Delicti. Ein Prozess“ handelt es sich um eine in naher Zukunft spielende Dystopie von Juli Zeh über einen utilitaristischen Überwachungsstaat nach dem Motto „Mens sana in corpore sano“. Um die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland sicherstellen zu können, hat man Grundrechte abgeschafft und die individuelle Freiheit massiv eingeschränkt. Ein Fitness-Programm, persönliche Hygiene und die Vermeidung von Gesundheitsrisiken gehören nicht nur zu den staatsbürgerlichen Pflichten, sondern deren Einhaltung wird auch streng überwacht, und Zuwiderhandlungen stehen unter Strafe.

„Corpus Delicti“ ist ein faszinierendes Gedankenexperiment, in dem Juli Zeh sich vorstellt, wohin bereits heute existierende Tendenzen in wenigen Jahren führen könnten. Stichworte: Rauchverbot, gläserner Bürger, also die Datensammlung übers Internet im Allgemeinen und durch Krankenkassen und Versicherungen im Besonderen, Vorratsdatenspeicherung, Videoüberwachung, Nacktscanner. Gegen den biometrischen Reisepass legte Juli Zeh mit dem Leipziger Rechtsanwalt Frank Selbmann im Januar 2008 Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe ein. In ihrem Roman „Corpus Delicti“ veranschaulicht sie, wie sich zunächst gut gemeinte Bestrebungen verselbständigen können. Das gilt nicht nur für gesundheitspolitische, sondern auch für ökologische und polizeiliche Ziele. Das Sicherheitsbedürfnis der Menschen und ihre Furcht vor Terroranschlägen können missbraucht werden, um Rechte zu beschneiden und Bürger zu entmündigen.

In der Abwägung zwischen Freiheit und Sicherheit, zwischen einem Zuviel des einen und Zuwenig des anderen existieren keine scharfen Grenzen. Waren gesetzlich vorgeschriebene Impfungen nicht segensreich? Ähnliches gilt für die Gurtpflicht und die Rauchverbote der Bundesländer. Die Forderung der Grünen nach einem „Veggie Day“ war in diesem Zusammenhang bloß eine Posse (allerdings eine, die Stimmen kostete). Philipp Mißfelder (1979 – 2015) dachte 2003 als Bundesvorsitzender der Jungen Union Deutschlands öffentlich darüber nach, ob es sinnvoll sei, Greisen im Bedarfsfall auf Kosten der Solidargemeinschaft künstliche Hüftgelenke einzusetzen. Wenn der Mensch als Kostenfaktor wahrgenommen wird, liegt es nahe, für Übergewichtige ebenso wie für Risikosportler zusätzliche Krankenkassenbeiträge zu fordern.

In dem Staatssystem METHODE, das Juli Zeh in der Mitte des 21. Jahrhunderts in Deutschland spielenden Dystopie beschreibt, sind daraus die Konsequenzen gezogen worden. Das Ergebnis ist eine Gesundheitsdiktatur. „Corpus Delicti“ prangert den totalitären Überwachungsstaat an und handelt zugleich von den Dichotomien Natur und Zivilisation, Wahrheit und Propaganda.

Wie in dem Roman „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ von Heinrich Böll geht es in „Corpus Delicti“ um eine Frau, die der Allmacht des Staats gegenübersteht und deren Fall von den Medien missbraucht wird. Das Einfrieren von Menschen als Strafe kennen wir aus dem von Marco Brambilla inszenierten Film „Demolition Man“.

Bemerkenswert ist die in der Inhaltsangabe nicht erwähnte „ideale Geliebte“. Dabei handelt es sich um eine von Moritz Holl im Gefängnis erdachte, sehr poetische Fantasiefigur, die er seiner Schwester gewissermaßen mitgibt, bevor er sich erhängt. Die ideale Geliebte erinnert Mia an die Lebensauffassung ihres Bruders. Als Mia sich öffentlich und uneingeschränkt auf die Seite ihres toten Bruders und gegen das System stellt, hat die ideale Geliebte ihre Aufgabe erfüllt und verschwindet.

„Ich war nicht mit dir, sondern mit deiner Erscheinung befreundet“, sagt Mia.
„Das ist Zynismus.“
„Das ist Sprachgenauigkeit. Du musst mir verzeihen, dass ich dich nicht so wie Moritz lieben konnte. Es ist mir immer schwergefallen, an deine Existenz zu glauben.“

Der Name Mia Holl ähnelt dem der Gastwirtin Maria Holl (1549 – 1634) in Nördlingen, die wegen angeblicher Hexerei angeklagt wurde. Weil sie trotz 62-facher Folterung kein Geständnis ablegte, wurde sie am 11. Oktober 1594 freigesprochen. Der Fanatiker Heinrich Kramer heißt ebenso wie der Autor des 1486 in Speyer veröffentlichten Werkes „Hexenhammer“ („Malleus Maleficarum“).

Juli Zeh schreibt kühl, distanziert und schnörkellos. Die straffe Handlung hat sie in 50 kurze Kapitel gegliedert. Sie beginnt mit dem abschließenden Gerichtsurteil und entwickelt das Geschehen dann im Rückblick, weitgehend chronologisch, aber nicht ganz linear. Die Figurenzeichnung taugt nicht für einen Thriller, bei dem man sich mit der Protagonistin identifiziert und mit ihr leidet. Dafür sind die Charaktere nicht lebendig und vielschichtig genug. Aber einen spannenden Trivialroman hat Juli Zeh auch gar nicht angestrebt. Stattdessen führt sie uns auf kluge und zum Nachdenken anregende Weise vor, wie Deutschland in ein paar Jahren aussehen könnte, wenn wir nicht aufpassen. Sie orientiert sich dabei am epischen Theater.

„Corpus Delicti“ war denn auch zunächst ein Bühnenstück von Juli Zeh, dessen Uraufführung am 15. September 2007 unter der Regie von Anja Gronau bei der RuhrTriennale in Essen erfolgte. Daraus machte die Autorin den 2009 veröffentlichten Roman.

Den Roman „Corpus Delicti“ von Juli Zeh gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Juli Zeh, Christian Neuburger, Gunter Heun u. a. (ISBN 978-3-89561-435-4).

Die 1994 in Ingolstadt gegründete Rockgruppe „Slut“ brachte im Herbst 2009 das Album „Corpus Delicti. Eine Schallnovelle“ mit sieben Songs heraus und ging mit Juli Zeh auf Tournee.

Eine Nominierung für den Kurd-Laßwitz-Preis 2010 lehnte Juli Zeh ab.

Mario Leis, Sabine Rieker schrieben das Buch „Juli Zeh. Corpus Delicti. Lektüreschlüssel“ (Reclam Verlag, Stuttgart 2016, ISBN 978-3-15-015447-2).

 

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2016
Textauszüge: © Schöffling & Co. Verlagsbuchhandlung GmbH

Juli Zeh: Adler und Engel
Juli Zeh: Schilf
Juli Zeh: Nullzeit
Juli Zeh: Unterleuten
Juli Zeh: Leere Herzen
Juli Zeh: Neujahr
Juli Zeh: Über Menschen
Juli Zeh und Simon Urban: Zwischen Welten

Wolfgang Hilbig - "Ich"
Man kann "Ich" als satirischen Künstlerroman lesen, aber auch als surreale Beschreibung der Lebensumstände in der DDR.
„Ich“

 

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.