Friedrich Ani : Ermordung des Glücks

Ermordung des Glücks
Ermordung des Glücks Ein Fall für Jakob Franck Originalausgabe: Suhrkamp Verlag, Berlin 2017 ISBN: 978-3-518-42755-2, 317 Seiten ISBN: 978-3-518-73157-4 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der elfjährige Gymnasiast Lennard Grabbe wird vermisst. 34 Tage nach seinem Verschwinden überbringt der pensionierte Kommissar Jakob Franck den Eltern die Nachricht, dass die Leiche des Jungen gefunden wurde. Spuren zeugen von einem Gewaltverbrechen. Die Mutter igelt sich daraufhin im Kinderzimmer ein. Sie schläft im Bett ihres toten Sohnes und verlässt das Haus nur noch nachts, um im familien­eigenen Café obsessiv zu putzen ...
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Kritik

In "Ermordung des Glücks" befasst sich Friedrich Ani weniger mit dem Kriminalfall als mit Gefühlen und Gedanken der Romanfiguren, trauma­ti­sierten Menschen, die an Angst und Überforderung, Trauer, Schmerz und Schuld zu zerbrechen drohen.
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Lennard ist tot

Aus der Spiegelung der Eingangstür schaute ihr eine abblätternde Frau entgegen.
[…]
Da tauchte der Mann vor ihr auf und verscheuchte ihr Spiegelbild und jede flüchtige Geborgenheit.
Unwillkürlich machte sie einen Schritt nach hinten in Richtung Kuchentheke. Das Gesicht des Mannes auf der Straße wirkte alt und grau und bedrohlich. Der schwarze Schal quoll aus dem Kragen der braunen Lederjacke, der Riemen seiner Umhängetasche verlief quer über die Jacke, wie eine schwarze Narbe.
Nachdem sie das alles registriert hatte, drückte sie die Augen zu und ballte die Fäuste. Als ihr bewusst wurde, was sie tat, riss sie die Augen wieder auf. […] Im selben Moment klopfte der Mann an die Tür.
Wieder zuckte sie zusammen […].
Der Mann klopfte erneut an die Tür, nicht laut, beinah behutsam und ohne seine ausdruckslose Miene zu verändern oder ein Zeichen von Ungeduld erkennen zu lassen. Gleichzeitig vermittelte er den Eindruck unbedingter Entschlossenheit, dachte die Frau und wagte einen Schritt nach vorn.
[…]
Sie zögerte. […]
Fast hatte sie die Tür erreicht, da erschrak sie ein drittes Mal. Ihr Blick krallte sich in das Gesicht hinter der Glasscheibe. Sie kannte die Sorte von Mann, die Art, wie er sie ansah, wie er dastand, aufrecht, selbstbewusst, zielstrebig; sein gepflegtes Äußeres, das perfekt rasierte Gesicht, die kurz geschnittenen Haare; die Lederjacke.
Männern in solchen Lederjacken, mit dieser Körperhaltung, diesen ebenso ruhigen wie lauernden Augen war sie in den zurückliegenden Wochen häufig begegnet, anfangs täglich. Meist traten sie zu zweit auf, und jedes Mal fühte sie sich von ihnen eingekreist und eingeengt. Obwohl sie sich Mühe gaben, freundlichen Frieden zu verbreiten, feuerten sie damit das Toben ihrer Angst erst an.
Der Mann da draußen war ein Kripomann.
[…]
„Mein Name ist Jakob Franck. Ich bin ein ehemaliger Kripobeamter. Können wir reingehen und uns an einen Tisch setzen? Ich habe Ihnen und Ihrem Mann eine schlimme Nachricht zu überbringen.“

34 Tage nachdem der elfjährige Münchner Schüler Lennard Grabbe nicht von der Turnhalle des Asam-Gymnasiums nach Hause kam, überbringt der pensionierte Kommissar Jakob Franck den Eltern Tanja und Stephan Grabbe die Nachricht, dass die Leiche des Jungen in einem Wald bei Höllriegelskreuth gefunden wurde.

Die Ermittlungen werden von André Block und Elena Holland geleitet. Den Spuren zufolge war Lennard am Abend seines Verschwindens noch mit seinem Fußball auf einem Spielplatz am Spitzingplatz, also ganz in der Nähe der Schule. Dort prallte er wahrscheinlich so heftig gegen einen Baumstamm, dass sein Schädel brach. Danach brachte jemand den Toten ins Isar-Tal und versteckte ihn unter Zweigen.

Während Stephan Grabbe sich mit Hilfe der Angestellten Claire, die auch seine heimliche Geliebte ist, bemüht, den Betrieb des familieneigenen Cafés „Strandhaus“ nahe der Münchner Freiheit aufrechtzuerhalten, igelt sich seine Frau im Kinderzimmer ein. Sie schläft im Bett ihres Sohnes und verlässt das Mietshaus in der Welfenstraße nur noch nachts, um im Café obsessiv zu putzen.

Tanja und Maximilian

Nicht einmal ihr Bruder Maximilian Hofmeister, mit dem sie seit der Kindheit ein enges Vertrauensverhältnis verbindet, dringt zu ihr durch.

Er betreibt einen Frisörsalon in der Fraunhoferstraße. Die Geschwister hatten nie Geheimnisse voreinander.

Vor 13 Jahren, als sie zusammen auf der Nordseeinsel Juist waren, sagte Maximilian seiner Schwester, seine aus Berlin stammende, in München-Pasing wohnende Freundin Jella Hagen sei tot. Er habe mit ihr Schluss gemacht, fuhr er fort. Sie hatte ihn seit Monaten betrogen und war im dritten Monat von dem Münchner Rechtsanwalt Dr. Erker schwanger. Nach dem Streit in seiner Wohnung, so erzählte Maximilian weiter, habe er sie hinausgeworfen. Im dunklen Treppenhaus sei sie gestürzt und habe sich das Genick gebrochen.

Kurz darauf gestand Maximilian seiner Schwester, dass er Jella gestoßen habe. Noch in der Nacht hatte er die Leiche im Kofferraum zum Walchensee gebracht und dort versenkt.

Ein Verdächtiger

Jakob Franck lässt sich von dem befreundeten Kommissar André Block auf dem Laufenden halten, macht sich seine eigenen Gedanken und spricht mit möglichen Zeugen, die bereits offiziell von der Polizei befragt wurden, zum Beispiel mit Siegfried Amroth, der – wie die Handy-Daten zeigen – zur Tatzeit am Tatort war. Der 64-jährige Versicherungsvertreter ist als Spanner und Exhibitionist vorbestraft. Er kannte den Sohn seiner früheren Nachbarn Grabbe, beteuert jedoch, ihm nie etwas angetan zu haben.

Tanja Grabbe, die seit Tagen kaum noch etwas gegessen hat, bricht nachts vor dem Hotel „Vier Jahreszeiten“ zusammen. Der Wagenmeister holt sie ins Gebäude, führt sie zu einem Sofa in der Halle und erklärt dem Rezeptionisten die Situation. Man verständigt ihren Mann, der sofort mit dem Auto kommt. Aber statt mit Stephan hinauszugehen, nimmt Tanja sich ein Zimmer, bestellt ein Clubsandwich für sich und eine Portion Pommes für Lennard. Das vom Zimmerservice gebrachte Essen bleibt unangerührt. Tanja will sich aus dem Fenster stürzen, aber es lässt sich nicht öffnen. Sie bricht erneut zusammen.

Stephan Grabbe erträgt das Verhalten seiner Frau nicht länger. Er überfällt Siegfried Amroth in dessen Wohnung, würgt und schlägt ihn, weil er ihn für Lennards Mörder hält. Der Vater des toten Jungen folgt keinem Plan, nur der spontanen Idee, Tanja ein schriftliches Geständnis des Mörders zu bringen und sie dadurch aus ihrer selbst gewählten Isolierung herauszureißen. Siegfried Amroth will es jedoch nicht gewesen sein.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Spoiler

Zu Hause verwüstet Stephan Grabbe das Kinderzimmer. Einige Zeit später passt er Siegfried Amroth ab. Er setzt sich hinter ihm in dessen Auto, hält ihm ein Küchenmesser an die Kehle und zwingt ihn, nach Höllriegelskreuth zu fahren. Nachdem er ihn dort mehrmals erfolglos aufgefordert hat, endlich den Mord zu gestehen, schneidet er ihm die Kehle durch.

Mit dem Toten im blutbesudelten Auto fährt Stephan Grabbe zu seinem Schwager und bittet ihn verzweifelt um Hilfe.

Auf der Liste der Personen, deren Handy zur Tatzeit am Tatort eingeschaltet war, steht auch der Name eines Kollegen der Ermittler: Hauptkommissar Heinrich Dankwart. Er betrank sich an dem Abend, an dem Lennard ermordet wurde in der Gaststätte „Rabenkopf“ und lief dann direkt vor dem Ausgang in einen Lastwagen. Seine Witwe Melanie Dankwart, eine Cousine von Elena Holland, ist schwanger. Jakob Franck sucht sie auf und bittet schließlich darum, sich das von ihr nicht benutzte Auto ihres Mannes ansehen zu dürfen. Im Kofferraum findet er einen Schulranzen.

Maximilian Hofmeister stellt sich der Polizei und gesteht, Siegfried Amroth getötet zu haben, weil dieser nicht habe zugeben wollen, dass er seinen Neffen Lennard ermordete.

Bei der forensischen Untersuchung des Fahrzeugs von Heinrich Dankwart bestätigt sich der Verdacht: Lennards Leiche muss im Kofferraum transportiert worden sein. Es lässt sich nur vermuten, wie der Kommissar mit dem Gymnasiasten zusammentraf. Vielleicht hielt er bei der Heimfahrt vom Dienst am Spitzingplatz, um im Dunkeln zu urinieren und wurde dabei von Lennards Ball getroffen. Es könnte sein, dass es dadurch zu einer Auseinandersetzung kam und der Kommissar den Jungen gegen den Baum schleuderte. Nachdem Heinrich Dankbart die Leiche in Höllriegelskreuth abgelegt hatte, betrank er sich im „Rabenkopf“ und kam dann durch den selbst verschuldeten Verkehrsunfall selbst ums Leben.

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Mit „Ermordung des Glücks“ setzt Friedrich Ani die mit „Der namenlose Tag“ begonnene Buchreihe über Jakob Franck fort. Der Untertitel „Ein Fall für Jakob Franck“ lässt zwar vermuten, dass es sich um einen Thriller handelt, aber Friedrich Ani beschäftigt weniger mit der Aufklärung eines Verbrechens, als mit Gefühlen und Gedanken der Romanfiguren. Wer also bloß Action und „atemlose Spannung“ (Klappentext) erwartet, könnte enttäuscht sein. Friedrich Ani nimmt sich in „Ermordung des Glücks“ viel Zeit, um das Innenleben der Angehörigen des toten Jungen und des pensionierten Kommissars Jakob Franck intensiv auszuleuchten. Es geht um traumatisierte Menschen, die an Angst und Überforderung, Trauer, Schmerz und Schuld zu zerbrechen drohen. Erst gegen Ende zu nimmt die Handlung des Kriminalromans Fahrt auf, und wir werden durch einige Wendungen überrascht.

Friedrich Ani erzählt unaufgeregt, ohne Effekthascherei und mit großem Einfühlungsvermögen aus wechselnden Perspektiven. Die Chronologie der Handlung wird von einer 27 Seiten langen Rückblende auf ein Gespräch der Geschwister Tanja und Maximilian Hofmeister 13 Jahre vor den aktuellen Ereignissen unterbrochen. Auch in einigen Episoden springt Friedrich Ani zeitlich ein klein wenig nach vorne und dann wieder zurück oder umgekehrt. Das erhöht den Reiz der Lektüre von „Ermordung des Glücks“ ebenso wie Parallelmontagen und andere stilistische Raffinessen.

Den Roman „Die Ermordung des Glücks“ von Friedrich Ani gibt es in einer gekürzten Fassung auch als Hörbuch, gelesen von August Zirner (ISBN 978-3-86952-364-4).

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2017
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag

Friedrich Ani (kurze Biografie / Bibliografie)

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Friedrich Ani: Der namenlose Tag
Friedrich Ani: All die unbewohnten Zimmer
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