Friedrich Ani : Der namenlose Tag

Der namenlose Tag
Der namenlose Tag Ein Fall für Jakob Franck Originalausgabe: Suhrkamp Verlag, Berlin 2015 ISBN: 978-3-518-42487-2, 298 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Zwei Monate nach seiner Pensionierung wird der Kriminalkommissar Jakob Franck gedrängt, sich mit einem 21 Jahre zuvor von der Polizei abgeschlossenen Fall zu beschäftigen. Damals wurde die 17-jährige Gymnasiastin Esther Winther erhängt im Park gefunden. Obwohl es keine Hinweise auf ein Verbrechen gab, ist der Vater überzeugt, dass seine Tochter ermordet wurde, und zwar von einem verheirateten Zahnarzt, der Schülerinnen nachgestiegen sein soll ...
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Kritik

Bei "Der namenlose Tag" handelt es sich um einen Kriminalroman, aber Friedrich Ani geht es nicht um Action oder Spannung, sondern um die Romanfiguren, ihre Traumata und Albträume. Die Atmosphäre ist bedrückend; glückliche Figuren finden wir keine.
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Zwei Monate nach seiner Pensionierung wird der 61-jährige Kriminalkommissar Jakob Franck von Ludwig Winther kontaktiert. 21 Jahre zuvor überbrachte Jakob Franck dessen Ehefrau Doris die Nachricht vom Suizid ihrer 17-jährigen Tochter Esther. Er war zwar gar nicht an den Ermittlungen beteiligt, weil er zur Mordkommission gehörte, nahm jedoch seinen Kollegen des Öfteren einen der schrecklichen Gänge zu Hinterbliebenen ab. Eine Frau namens Linda Schelling hatte Esthers Leiche im Park an der Bad Dürkheimer Straße im Münchner Stadtteil Giesing entdeckt, als sie dort mit ihrem Dackel unterwegs gewesen war. Die Gymnasiastin hing erdrosselt an einem Ast, und es gab keine Indizien für ein Verbrechen; alles deutete auf einen Suizid hin. Ein Abschiedsbrief wurde allerdings nicht gefunden.

Esthers damals 44 Jahre alter Vater, der als Verkäufer in einem Münchner Bekleidungsgeschäft arbeitete, war zu einem Fortbildungslehrgang in Salzburg, als Jakob Franck zu seiner Frau nach München-Ramersdorf kam. Sieben Stunden lang hielt der Kommissar die fassungslose Mutter des Mädchens in den Armen, schweigend bis auf ein Wimmern der Verzweifelten und ihr dreimaliges Flehen: „Sagen Sie, dass es nicht wahr ist.“

Doris Winther erhängte sich an ihrem 42. Geburtstag, ein Jahr nach dem Tod ihrer Tochter. Auf einen Zettel hatte sie vorher geschrieben: „Ich gehe. Ich will dich nicht mehr sehen.“

Ludwig Winther wurde alkoholkrank, verlor seine Anstellung und musste auch das Haus aufgeben. Er zog in eine Dachwohnung, überwand die Alkoholabhängigkeit und fand wieder Arbeit als Ausfahrer eines Getränkemarkts. Aber die Ereignisse von damals lassen ihn nicht los. Er kann sich nicht vorstellen, dass Esther sich das Leben nahm und ist überzeugt, dass sie ermordet wurde, vermutlich von Dr. Paul Jordan, einem in der Nähe des Ostbahnhofs praktizierenden Zahnarzt, über den es damals hieß, er steige Schülerinnen nach. Ludwig Winther drängt Jakob Franck, die 21 Jahre alten Ermittlungsergebnisse noch einmal zu überprüfen und den Mörder endlich zu überführen.

Seit Jakob Francks Ehe mit der fünf Jahre jüngeren Buchhändlerin Marion Siedler vor 18 Jahren scheiterte, hat er nicht mehr versucht, eine dauerhafte Beziehung aufzubauen. Er wird noch immer von schrecklichen Erlebnissen aus seiner Dienstzeit gequält. Dann denkt er zum Beispiel an eine 32-jährige Frau, die sich vor den Fernzug nach Budapest geworfen hatte – „der Leichenfundort war vierzig Meter lang“ – und deren Mutter vom Unglück ihrer Tochter nichts wissen wollte. Auch Paulus Landwehr gehört zu den Toten, die Jakob Franck heimsuchen. Der Handwerker hatte seine Frau Pia nach 29 Ehejahren erschlagen.

Paulus Landwehr war auch da. Er blutete nicht; er blutete nie; er kam in seiner immer gleichen grauweißen, von Farbflecken übersäten Latzhose und dem grünen, nicht weniger ramponierten Sweatshirt und verlangte Schnaps, am besten Kirsch. Elf ungeöffnete und neunzehn leere Kirschwasserflaschen hatten die Ermittler in der Wohnung des Ehepaars Landwehr entdeckt; im Flur und in der Küche stapelten sich Bierkästen; unter dem blutgetränkten und von roten Federn bedeckten Bett im Schlafzimmer kullerten drei halbvolle Eierlikörflaschen. Paulus Landwehr hatte seiner Frau den Schädel gespalten und sich anschließend mit neun Messerstichen selbst getötet. Die Blutspur führte von der Küche durch den Flur ins Wohnzimmer, wo er zusammengebrochen war. Nachbarn hatten Schreie gehört und die Polizei alarmiert. Als Franck am Tatort eintraf, lebte der Malermeister noch, und als hätte er den Ermittler erkannt, griff er nach dessen Hand und flüsterte: Die Frau hat völlig recht g’habt. Landwehr starb auf dem Weg ins Krankenhaus.

Als Jakob Franck wieder allein ist, nimmt er sich die 21 Jahre alten Zeitungs­berichte und die von ihm angefertigten Kopien aus Akten vor. Außerdem wendet er sich an den noch aktiven Kommissar André Block, der damals die Ermittlungen leitete. Block ist zwar nicht bereit, den Fall neu aufzurollen, trifft sich aber wenigstens in der Mittagspause mit dem früheren Kollegen.

Um mehr über Esther Winther zu erfahren, spricht Jakob Franck mit Jan Roland, einem Studienabbrecher Ende 30, der als Fahrradkurier arbeitet. Ihm wurde eine intime Beziehung mit Esther nachgesagt. Er behauptet, Esther habe ständig Ärger mit ihrem Vater gehabt und sei zu Hause verprügelt worden.

„Noch was“, wiederholte Jan Roland. „Unsere Eltern haben erzählt, der Alte würd seine Tochter nicht nur verprügeln. Alles klar? Ob das nur Gerüchte waren – keine Ahnung.“

Als Nächstes fliegt Jakob Franck eigens nach Berlin, um mit Doris Winthers zwei Jahre älterer Schwester Inge Rigah zu reden, einer inzwischen 64 Jahre alten Künstlerin. Inge verließ das Elternhaus in München mit 18 und lebt seither in Berlin. Doris, die damals noch zur Schule ging, heiratete dann Ludwig Winther, den die Schwägerin von Anfang an nicht ausstehen konnte.

„Sie war noch nicht mal Mitte zwanzig, als Esther auf die Welt kam, danach war ihr Leben gelaufen. So seh ich das. Ist das unfair? Kann schon sein; aber nach all den Jahren, mit all dem Abstand, was soll ich anderes sagen? Sie hat studiert, die Doris, Kunstgeschichte, Literatur, aus ihr hätte eine Professorin werden können, sie war belesen und voller Leidenschaft für ihre Themen, sie hätte Karriere machen können, und was macht sie stattdessen? Heiratet einen Hosenverkäufer. […] Wieso hat sie das getan? Wieso hat sie alles aufgegeben?“

Auf die Frage, ob Ludwig Winther seine Tochter missbraucht haben könnte, meint Inge Rigah: „Was reden Sie denn? Nein. Ihr Vater doch nicht.“ Dann fällt ihr ein, dass sie nach der Trauerfeier von Jan Roland angesprochen wurde.

„Er sagt: Ich bin ein Freund von Esther, wir gehen manchmal ins Kino, ich dachte, Sie sollten das wissen: Da ist ein Typ, fünfzig oder so, ein alter Mann, mit dem trifft sie sich und hat Sex, und er zwingt sie zu Sachen. Vielleicht ist der Typ Schuld, dass sie sich aufgehängt hat.“

Weil sie das jedoch nicht glauben konnte, sprach Inge Rigah weder mit ihrer Schwester noch mit ihrem Schwager darüber.

Nach dem Rückflug aus Berlin isst Jakob Franck noch in einem Flughafen-Restaurant eine Pizza. Schließlich steht er auf und setzt sich zu einer Frau, die nicht verhehlt, dass sie ihn beobachtet. Adriana Waldt – so heißt sie – erzählt ihm, wie sich ihre drei Jahre ältere Schwester Sofia während eines Ferienaufhalts vor zwei Jahren mit ihr, ihrem Freund Hagen und Adrianas Lebensgefährten Kai im Meer ertränkte.

„Sie wurde ermordet“, sagte Adriana. „Wir waren nur fünfhundert Meter entfernt und haben’s nicht bemerkt. Und haben weitergeschlafen. Und wurden erst wach, als das Telefon klingelte. Die Frau am anderen Ende sagte: Kommen Sie bitte schnell zur Rezeption. Wir waren nicht angezogen, mein Lebensgefährte nicht, ich nicht.“
„Wer hat Ihre Schwester ermordet, Adriana?“
„Es war das Meer. Das Meer hat sie ermordet. Vom Meer ließ sie sich ermorden. Und wir waren da und haben nichts bemerkt.“

Seit dem Suizid ihrer Schwester lebt Adriana Waldt ganz allein.

Jakob Franck verabredet sich mit Sandra Horn, einer inzwischen 38 Jahre alten Redakteurin, die Esthers trauernden Eltern damals sagte, sie habe schon länger befürchtet, dass sich ihre beste Freundin etwas antun könnte. Auf Dr. Jordan angesprochen, meint sie, Esther habe den Zahnarzt zwar des Öfteren getroffen, aber kein Verhältnis mit ihm gehabt, sondern sich einfach gut mit ihm und seiner Frau Lydia verstanden, auch mit dem sechs Jahre jüngeren Patrick Jordan, der bei seinem Onkel und seiner Tante aufwuchs.

Ludwig Winther meldet sich im Getränkemarkt krank, weil Jakob Franck ihn zum Ostfriedhof bestellt hat. Der ehemalige Kommissar sagt:

„Wenn es einen Mörder gab, dann gehört er zum Kreis Ihrer Familie. Das war es, was ich Ihnen am Grab Ihrer Tochter und Ihrer Frau mitteilen wollte, und ich möchte, dass Sie ein Geständnis ablegen, Herr Winther, an diesem Tag, an diesem Ort.“

Danach schweigt Jakob Franck. Ludwig Winther ist entsetzt darüber, dass der Kommissar ihn verdächtigt, seiner Tochter etwas angetan zu haben. Er erinnert sich, wie sein Vater starb, als er elf Jahre alt war. Seine Mutter ließ sich daraufhin als Kassiererin in einem Ladengeschäft anstellen, und der Gymnasiast Ludwig fing mit 16 eine Einzelhandels-Lehre an, statt das Abitur zu machen und zu studieren. Als Verkäufer in einem Bekleidungsgeschäft habe er zwar nicht zu den Spitzenverdienern gehört, fährt Ludwig Winther fort, aber es immerhin geschafft, ein kleines Haus zu erwerben. Obwohl er alles für seine Frau und seine Tochter tat, machte Esther ihn gegenüber anderen schlecht. Fünf Monate vor Esthers Tod hörte Doris von ihrer Freundin Sigrid, dass Esther Gerüchten zufolge von ihrem Vater missbraucht wurde. Daraufhin stellte Doris ihren Mann zur Rede.

„Und ich sag zu ihr, dass ich nicht versteh, wovon sie spricht, und sie schreit mich wieder an, ob das wahr ist, dass ich ihre Tochter vergewaltigt hätt.“

Ludwig Winther nimmt Jakob Franck mit nach Hause und übergibt ihm das von seiner Frau hinterlassene Tagebuch. Er sagt, er habe nur die letzte Seite gelesen. Am Tag vor ihrem Suizid hatte Doris geschrieben: „Ich gehe. Ich will dich nicht mehr sehen.“ Genau diese Worte standen dann auch im Abschiedsbrief. Doris Winther, das begreift Jakob Franck nun, meinte damit gar nicht ihren Mann, sondern sich selbst.

In seinem Arbeitszimmer, das eigentlich ein Kinderzimmer hätte werden sollen, liest Jakob Franck das Tagebuch. Es beginnt mit der Eintragung: „Esther ist ermordet worden. Von ihrem eigenen Vater.“ Doris Winther erinnerte sich an ihre Kindheit und behauptete, ihre Mutter habe sie gehasst.

„Ich war nicht geplant gewesen. Eigentlich meine Schwester auch nicht, aber da war meine Mutter noch mit unserem Vater zusammen und glaubte, er würde sie heiraten, ein Haus bauen und mit ihr ein normales Familienleben führen.
Zwei Jahre hat er sie belogen und betrogen, dann kam ich auf die Welt, und er haute ab. Ich war zu viel.“

Ein halbes Jahr nach Esthers Tod schrieb Doris Winther:

„Heute war meine Freundin Sigrid zum Kaffeetrinken da. […]
Sie sagte, ihre Tochter [Amanda] habe ihr etwas Merkwürdiges mitgeteilt. Etwas, das sie wiederum von ihrer Klassenkameradin Sandra gehört habe, Esthers bester Freundin. […]
Sandra habe behauptet, Esther hätte bestimmte Dinge erfunden, um ihren Vater zu ärgern und ihn lächerlich zu machen.“

Dass sie ihren Mann zu Unrecht verdächtigt hatte, Esther etwas angetan zu haben, dass sie das überhaupt für möglich gehalten hatte, konnte Doris Winther sich nicht verzeihen.

Jakob Franck spricht mit Sigrid Nickl, einer jetzt 62 Jahre alten ehemaligen Filialleiterin der Stadtsparkasse, und lässt sich von ihr bestätigen, was er im Tagebuch der Toten gelesen hat.

Dann verabredet er sich mit Dr. Paul Jordan. Der 56 Jahre alte Zahnarzt gibt unumwunden zu, Esther in einem Café kennengelernt zu haben. Allerdings beteuert er, ihr Verhältnis sei nicht intim gewesen.

„Sie wollte was von mir, aber ich wollte nichts von ihr. Und mehr war nicht.“

Im weiteren Verlauf des Gesprächs gibt Paul Jordan zu, mit Esthers Freundin Sandra Horn eine Affäre gehabt zu haben. Möglicherweise sei Esther deshalb eifersüchtig gewesen. Er habe das Gerücht über Esthers Missbrauch durch ihren Vater gekannt, sagt er.

„Ich hab Esther zur Rede gestellt, glaub ich, wollte wissen, wieso sie solche Geschichten in Umlauf setzt. Weiß nicht mehr, was sie erwidert hat; ich könnte mir vorstellen, sie ist dabei geblieben und hat weiter behauptet, es wär so gewesen. Ich hab ihr kein Wort geglaubt. Ja, die Esther konnte sehr eigen sein.“

Esther traf sich auch mit Patrick Jordan. Als der Junge sechs Jahre alt war, eskalierte ein Streit seiner Eltern, und der Vater Nils erdrosselte die Mutter Elisabeth mit einem Schal. Nils Jordan, der ein Autohaus geführt hatte, wurde für das Verbrechen zu acht Jahren Haft verurteilt. Sein Bruder Paul und seine Schwägerin Lydia holten Patrick zu sich. Das war fünf Jahre vor Esthers Tod. Inzwischen haben Paul und Lydia Jordan kaum noch Kontakt zu ihrem Neffen.

„Der Junge hat sich selbst aus der normalen Welt katapultiert. Bevor Sie’s anders rausfinden: Er ist vorbestraft, Körperverletzung, Diebstahl, hat Bewährung gekriegt und ist einigermaßen sauber geblieben. Im Moment ist er Türsteher, soweit ich weiß.“


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Jakob Franck bringt André Block dazu, Patrick Jordans im Polizeicomputer gespeicherte Fingerabdrücke mit Spuren am Fundort von Esthers Leiche zu vergleichen, und es stellt sich heraus, dass die von den Ermittlern sichergestellte Plastiktüte von ihm angefasst worden war, in der sich das Seil befunden hatte, an dem die Tote hing. War der damals elfjährige Junge in der Nähe?

Nur durch seine Hartnäckigkeit erreicht Jakob Franck, dass der jetzt 32-Jährige mit ihm redet.

Nachdem Patrick Jordan einiges getrunken hat, erzählt er, dass er die Ermordung seiner Mutter beobachtet habe. Er suchte damals hinter dem Sofa nach einem Spielzeugauto, unbemerkt von den in Streit geratenen Eltern. Der Sechsjährige sah, wie der Vater den grünen Seidenschal abnahm, mit dem er nach Hause gekommen war, und die Mutter damit erdrosselte. Die Leiche wurde später von der Nachbarin Klara Endres entdeckt. Niemand ahnte, dass der Junge Zeuge des Mordes geworden war.

„Sie haben die Polizei nach dem Tod Ihrer Mutter belogen“, sagte Franck unvermittelt. „Das werfe ich Ihnen nicht vor, Sie waren ein Kind, sechs Jahre alt, Sie standen unter Schock, Sie waren allein, Sie hatten etwas erlebt, was kein Kind erleben darf, die Tötung der Mutter durch den Vater.“

Dann fragt Jakob Franck, ob Patrick das Seil, mit dem Esther sich erhängte, in einer Plastiktüte in den Park an der Bad Dürkheimer Straße gebracht habe. Er sei von seiner sechs Jahre älteren Freundin darum gebeten worden, lautet die Antwort. Patrick schaute zu, wie Esther das Seil über einen dicken Ast warf und eine Schlinge knüpfte. Sie wollte sich nichts antun, sondern ausprobieren, wie man einen Selbstmord vortäuscht, um später am Apfelbaum im eigenen Garten die Eltern erschrecken zu können, von denen sie sich vernachlässigt fühlte.

„Sie ist auf den Ast geklettert, der war ja nicht weit oben; auch ich wär da leicht ’naufkommen; sie hat sich die Schlinge um den Hals g’legt und ist dann ganz vorsichtig vom Ast nach unten glitten; sie hat schon auf’passt; sie war ganz vorsichtig, und ich hab alles g’seng. […]
Sie ist irgendwie abg’rutscht, so ein Scheiß. Woher soll’n ich das wissen? Auf einmal haben ihre Beine gezuckt, und sie hat g’strampelt und nach Luft g’schnappt. Und ich bin wegg’rannt. Kann das doch nicht anschauen. Ich hab doch meine Mutter gleich g’sehen da am Baum.“

Selbstverständlich droht Patrick Jordan keine Anklage wegen unterlassener Hilfeleistung, denn vor 21 Jahren war er noch ein traumatisiertes, von der Situation überfordertes und strafunmündiges Kind.

Vergeblich versucht Jakob Franck Ludwig Winther zu erreichen. Der hat sich in seiner Dachwohnung eingeigelt und trägt sich mit Selbstmordgedanken.

Davon ahnt Jakob Franck nichts, als er mit seiner Ex-Frau Marion Siedler in deren Wohnung über die jüngsten Ereignisse spricht und bis zum nächsten Morgen bleibt.

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Im Mittelpunkt des Romans „Der namenlose Tag“ von Friedrich Ani steht die fast klassische Figur eines pensionierten Kriminalkommissars, der die Ermittlungen in einem 21 Jahre alten, von der Polizei längst abgeschlossenen Fall auf eigene Faust wieder aufnimmt. „Der namenlose Tag“ gehört deshalb ins Genre der Kriminalromane, und zwar wegen der genauen Ortsangaben der Regionalkrimis. Aber Leserinnen und Leser, die vor allem Action und Spannung suchen, werden enttäuscht sein, denn Friedrich Ani kommt es darauf zumindest nicht vorrangig an.

Ani versteht den Kriminalroman auch nicht als Plotmaschine, sondern als eine Perspektive, als ein seismographisches Instrument, mit dessen Hilfe sich etwas über die Gegenwart erfahren lässt, über „das Drama des in seinem Lebenszimmer gefangenen Menschen“. (Peter Körte, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2. September 2015)

Friedrich Anis Augenmerk gilt den Romanfiguren, ihren Traumata und Albträumen, die sie nicht von der Vergangenheit loskommen lassen. Wie erträgt jemand die Tatsache, dass er weder den Suizid einer geliebten Person verhindern konnte noch von der Selbsttötungsabsicht überhaupt etwas merkte? Wo findet ein Hinterbliebener Halt? Solchen Fragen geht Friedrich Ani in „Der namenlose Tag“ fast grüblerisch nach. Schuldgefühle, Unfähigkeit zur Kommunikation, Schweigen, Trauer, aber auch Aufbegehren sind die Themen.

Der Erzählmodus in „Der namenlose Tag“ ist denn auch nicht stringent wie in einem rasanten Thriller, sondern mäandernd, verhalten und passagenweise langatmig. Ein auktorialer Erzähler führt uns im Wechsel der Handlungsstränge durch das Geschehen. Eingefügt sind Rückblenden und ein langer Text aus einem (fiktiven) Tagebuch. Die Atmosphäre ist bedrückend. Glücklichen Personen begegnen wir in „Der namenlose Tag“ nicht. Friedrich Ani beschränkt sich bei der Darstellung nicht auf die Hauptfiguren, wobei er – wie inzwischen üblich – auch ins Privatleben des Ermittlers leuchtet, sondern baut auch Figuren ein, die für den Handlungsablauf keine Bedeutung haben und lediglich dazu dienen, das Unglück anderer zu spiegeln: Pia und Paulus Landwehr, Lore Balan und ihre Tochter, Adriana Waldt und ihre Schwester Sofia. In der Inhaltsangabe unerwähnt blieb Enver, dem Jakob Franck und Ludwig Winther im „Enzianstüberl“ des Wirts Micha Talhoff begegnen. Er verbüßte eine Haftstrafe, weil er seinen Bruder umgebracht hatte.

„Wollte mich verpfeifen; mich, seinen eigenen Bruder; nach dem letzten Überfall, alles war glatt gegangen, und plötzlich wächst dem Ludwig ein Gewissen; auf einmal; nach vierzig Jahren Zusammenarbeit; war wahrscheinlich das Kind schuld, das seine neue Alte gerade geworfen hat. Er bedroht mich, ich muss mich wehren, tot. So weit hätt’s nie kommen müssen. Wuchs dann ohne Vater auf, das Kind.“

Den Roman „Der namenlose Tag“ von Friedrich Ani gibt es in einer gekürzten Version auch als Hörbuch, gelesen von Udo Wachtveitl (Bearbeitung: Margit Osterwold; Regie: Marlene Breuer; ISBN 978-3-86952-291-3). Volker Schlöndorff verfilmte den Roman „Der namenlose Tag“ von Friedrich Ani mit Thomas Thieme in der Hauptrolle.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2015
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag

Volker Schlöndorff: Der namenlose Tag

Friedrich Ani (kurze Biografie / Bibliografie)
Friedrich Ani: Süden und der Straßenbahntrinker
Friedrich Ani: Hinter blinden Fenstern (Verfilmung)
Friedrich Ani: Idylle der Hyänen (Verfilmung)
Friedrich Ani: Kommissar Süden und der Luftgitarrist (Drehbuch)
Friedrich Ani und Ina Jung: Das unsichtbare Mädchen (Drehbuch)
Friedrich Ani: M. Ein Tabor Süden Roman
Friedrich Ani: Ermordung des Glücks. Ein Fall für Jakob Franck
Friedrich Ani: All die unbewohnten Zimmer
Friedrich Ani: Bullauge

Hermann Hesse - Das Glasperlenspiel
Die Idee eines individuellen, aber überzeitlichen Lebenslaufes stand am Anfang. In einer von den Verbrechen des NS-Regimes und den Gräueln des Zweiten Weltkrieges geprägten Zeit verschob sich der Schwerpunkt der Dichtung zur Konzeption einer geordneten Welt der Vernunft und des Humanismus.
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