Paul Auster : Das Buch der Illusionen

Das Buch der Illusionen
Originalausgabe: The Book of Illusions Henry Holt & Co, New York 2002 Das Buch der Illusionen Übersetzung: Werner Schmitz Rowohlt Verlag, Reinbek 2002 ISBN: 3-498-00052-7, 383 Seiten Rowohlt Taschenbuch, Reinbek 2003 ISBN: 3-499-23526-9, 383 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der amerikanische Literaturprofessor David Zimmer, der seine Frau und seine beiden Kinder 1985 durch einem Flugzeugabsturz verlor, lenkt sich durch die Arbeit an einem Buch über Hector Mann ab, der 1929 spurlos verschwand, nachdem er innerhalb kurzer Zeit zwölf Stummfilme gedreht hatte. Nach der Veröffentlichung wird David eingeladen, den überraschenderweise noch lebenden Filmemacher zu besuchen ...
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Kritik

In seinem witzigen, einfallsreichen und sehr unterhaltsamen Roman "Das Buch der Illusionen" spielt Paul Auster mit der Verschachtelung von Geschichten.
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Am 7. Juni 1985, eine Woche nach dem zehnten Hochzeitstag, verliert der achtunddreißigjährige Literaturprofessor David Zimmer seine zwei Jahre jüngere Ehefrau Helen und seine beiden sieben bzw. vier Jahre alten Söhne Todd und Marco durch einen Flugzeugabsturz. Helen wollte mit den Kindern ihre Eltern in Milwaukee, Wisconsin, besuchen, während David zu Hause in Hampton, Vermont, blieb, um Arbeiten seiner Studenten zu korrigieren. In seiner Trauer kapselt er sich von allen anderen Menschen ab, lässt sich vom College beurlauben und beginnt zu trinken [Alkoholkrankheit]. Finanzielle Engpässe braucht er vorerst nicht zu befürchten, denn er erhält nicht nur eine Entschädigung der Fluggesellschaft, sondern auch eine beträchtliche Summe von Helens Lebensversicherung.

Als er im Fernsehen zufällig einen Ausschnitt aus einem Stummfilm von Hector Mann sieht, kann er erstmals seit dem Schicksalsschlag wieder lachen. Das rettet ihn: Er beschließt, weitere von Hector Mann hinterlassene Stummfilmkomödien anzuschauen.

Hector Mann, der sich bis dahin mit Gelegenheitsarbeiten durchgeschlagen hatte, kam 1927 im Alter von siebenundzwanzig Jahren nach Kalifornien. Über seine Herkunft gibt es verschiedene Versionen. Es heißt, er sei in Deutschland oder in Österreich-Ungarn geboren worden. Vermutlich wuchs er in Argentinien auf und wanderte dann in die USA aus. Jedenfalls drehte er in Hollywood innerhalb von eineinhalb Jahren zwölf Stummfilmkomödien. Dabei fungierte er als Drehbuchautor, Regisseur und Hauptdarsteller zugleich. Produziert wurden die Filme von Kaleidoscope Pictures, einer 1927 von Seymour Hunt, einem Bankier aus Cincinnati, Ohio, gegründeten Filmgesellschaft, die allerdings nach eineinhalb Jahren Konkurs anmeldete. Die letzte Premiere fand am 23. November 1928 statt. Seymour Hunt wurde wegen Aktienbetrugs und Unterschlagung angeklagt; erhängte sich jedoch am 11. Januar 1929 vor dem Beginn des Prozesses. Ein paar Tage später verschwand Hector Mann. Anfangs gab es Spekulationen darüber, wohin er gegangen sein könnte, aber inzwischen hält man ihn für tot.

Neun seiner zwölf Filme waren verschollen, bis ein anonymer Absender zwischen 1981 und 1984 nach und nach ohne weitere Erklärung Kopien verschickte. Inzwischen verfügen sechs Institutionen über je zwei Filme. „Skandal“ und „Wochenende auf dem Lande“ befinden sich im Museum of Modern Art in New York, „Der Jockeyclub“ und „Der Schnüffler“ im Eastman House in Rochester, New York, „Der Kassierer“ und „Doppelt oder nichts“ im American Film Institute in Washington, D. C., „Wilder Tango“ und „Heim und Herd“ im Pacific Film Archive in Berkeley, Kalifornien, „Cowboys“ und „Ein Niemand“ im British Film Institute in London, „Hampelmänner“ und „Der Requisiteur“ in der Cinémathèque Française in Paris.

David Zimmer reist im Winter 1985/86 der Reihe nach in die verschiedenen Städte und schaut sich die zwölf Filme genau an. Gegen die Flugangst nimmt er Xanax.

Es entgeht ihm nicht, dass sich Hector Mann in „Ein Niemand“ an dem betrügerischen Unternehmer Seymour Hunt rächte. Hector Mann spielt in dem Film den Gründer und Direktor der erfolgreichen Limonadenfabrik Fizzy Pop Beverage Corporation. Sein Vizedirektor und vermeintlicher Freund heißt C. Lester Chase.

Hunt, ins Französische übersetzt, ist chasse; streicht man daraus das zweite S, erhält man chase. Bedenkt man ferner, dass Seymour akustisch auch als see more verstanden werden kann und dass Lester häufig zu Les abgekürzt wird, dann kommt man auf C. Les – oder see less […] (Seite 53)

Aufgrund von Spielschulden plant C. Lester Chase, die Firmenkasse auszurauben. Als Erstes räumt er seinen Chef beiseite, indem er ihn dazu bringt, eine angeblich neue Limonade („Jazzmatazz“) zu probieren. Nachdem Hector davon getrunken hat, wird er unsichtbar. Aber das heißt nicht, dass er sich nicht wehren kann. Er räumt in einem Juweliergeschäft in der Nachbarschaft des Verwaltungsgebäudes der Fizzy Pop Beverage Corporation unbemerkt eine Vitrine aus, markiert seinen Weg mit einem Pulver, betritt das Büro des Vizedirektors, der gerade rausgegangen ist, steckt die auf dem Schreibtisch liegenden Aktienzertifikate aus dem Firmentresor ein und legt stattdessen den gestohlenen Schmuck hin. Als C. Lester Chase zurückkommt, wundert er sich. Aber bevor er etwas unternehmen kann, wird er als Juwelendieb verhaftet.

Im Februar 1986 fliegt David Zimmer von Paris in die USA zurück und mietet sich in Brooklyn eine Wohnung, um ungestört an dem Buch „Die stumme Welt des Hector Mann“ arbeiten zu können. Nach knapp neun Monaten ist er damit fertig. Anfang 1987 zieht er wieder nach Vermont.

Kurz darauf erhält er eine Anfrage seines früheren Kommilitonen Alex Kronenberg. Ob er Chateaubriands „Mémoires d’outre-tombe“ für die „Bibliothek der Weltliteratur“ neu übersetzen wolle. David sagt sofort zu und schlägt als neuen Titel „Erinnerungen eines Toten“ vor. Chateaubriand hatte fünfunddreißig Jahre lang an dem Werk geschrieben, und es sollte erst fünfzig Jahre nach seinem Tod veröffentlicht werden. Weil er bei seinem Tod am 4. Juli 1848 Schulden hinterließ, hielt man sich allerdings nicht an seine Verfügung und druckte „Mémoires d’outre-tombe“ noch im Todesjahr.

Drei Monate nach dem Erscheinen des Buches „Die stumme Welt des Hector Mann“ erhält David einen in Albuquerque, New Mexico, aufgegebenen Brief. Der Absender lautet: Frieda Spelling, Blue Stone Ranch, Tierra del Sueño. Die Briefschreiberin gibt sich als Hector Manns Ehefrau aus, bedankt sich für das Buch, unterrichtet David darüber, dass der Filmemacher noch lebt und lädt ihn zu einem Besuch ein. David hält das für einen Witz und antwortet ausweichend, aber Frieda Spelling schickt ihm einen zweiten Brief, in dem sie mitteilt, dass ihr Mann dem Autor des hervorragenden Buches über seine Stummfilme seine nach 1929 gedrehten, aber nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Tonfilme zeigen wolle. Dafür bleibe nicht viel Zeit, weil der Filmemacher schwer krank sei und angeordnet habe, alle Filme innerhalb von vierundzwanzig Stunden nach seinem Tod zu verbrennen. David, der noch immer an einen schlechten Scherz glaubt, bittet um einen Beweis dafür, dass Hector Mann noch lebt.

Diesmal bleibt eine Antwort aus. David hat die seltsamen Briefe nahezu vergessen, als er eines Abends ins Kino geht und anschließend in einem Restaurant isst. Auf der Rückfahrt im strömenden Regen bremst er wegen eines Hundes auf der Fahrbahn, verliert die Kontrolle über das Auto und kracht gegen einen Strommasten. Erschöpft, durchnässt und verärgert kommt er nach Hause. In einem dort parkenden Auto wartet seit fünf Stunden eine Frau auf ihn. Es handelt sich um Alma Grund, die sechsunddreißig Jahre alte Tochter des Kameramanns Charlie Grund, der alle Filme von Hector Mann drehte. Sie ist gekommen, um David nach New Mexico zu holen. Hector sei über die Treppe gestürzt, erklärt sie. Nach der Operation im Krankenhaus in Albuquerque erlitt er einen Herzinfarkt und erkrankte dann an einer Lungenentzündung. Er kam zwar am Vortag wieder nach Hause, liegt jedoch im Sterben. Wenn David die Filme vor der Vernichtung noch sehen wolle, müsse er sich beeilen. In seiner schlechten Laune hat David überhaupt keine Lust, nach New Mexico zu reisen, aber Alma nimmt plötzlich eine Pistole aus der Handtasche und richtet sie auf ihn. Rasch merkt er, dass sie es nicht fertig bringt, auf ihn zu schießen. Er entreißt ihr die Waffe, und weil er annimmt, dass sie gar nicht geladen ist, hält er sich die Mündung an den Kopf und drückt ab. Das von ihm erwartete Klicken bleibt aus, weil die Pistole zwar geladen, aber noch nicht entsichert ist. Andernfalls wäre er jetzt tot.

Weil es bereits Mitternacht ist, lädt David die Besucherin ein, bei ihm zu übernachten. Und er hat auch nichts dagegen, als sie nach ein paar Stunden zu ihm ins Bett kriecht.

Am nächsten Tag fahren sie zusammen nach Boston und fliegen von dort nach Albuquerque. Unterwegs erzählt Alma von Hector Mann.

Er wurde 1900 auf einem niederländischen Dampfer auf dem Atlantik als Chaim Mandelbaum geboren. Seine Mutter starb, als er zwölf war. Nachdem sein Vater, ein Kunsttischler, 1919 während der Niederschlagung eines Arbeiteraufstands in der „Semana Trágica“ in Buenos Aires beinahe zu Tode geprügelt worden war, obwohl er sich gar nicht daran beteiligt hatte, emigrierte Chaim in die USA. Zunächst schlug er sich mit Gelegenheitsjobs in New York durch; 1925 zog er nach Kalifornien und avancierte dort 1927 zum Filmemacher Hector Mann.

1928 interviewte ihn die dreiundzwanzigjährige Journalistin Brigid O’Fallon. Noch am selben Tag lagen sie miteinander im Bett. Brigid wurde Hectors Geliebte. Sie war es auch, die ihm vorschlug, die weibliche Hauptrolle in „Der Requisiteur“ mit der Schauspielerin Dolores Saint John zu besetzen. Hector verliebte sich in Dolores und machte ihr einen Heiratsantrag, den sie annahm. Die erforderliche Aussprache mit Brigid schob er so lange auf, bis sie ihn zur Rede stellte. An diesem Abend schliefen sie ein letztes Mal miteinander. Dabei wurde Brigid schwanger. Später schnitt sie sich die Pulsadern auf, wurde jedoch gerettet. Als Hector am 14. Januar 1929 zu Dolores kam, lag Brigid tot auf dem Fußboden. Sie hatte ihre Rivalin aufgesucht und einen Streit angefangen. Um die ungebetene Besucherin aus dem Haus zu jagen, griff Dolores zur Pistole – und dabei löste sich unbeabsichtigt ein Schuss, der die Schwangere tötete. Dolores unterließ es, die Polizei anzurufen, denn man hätte ihr nicht geglaubt, dass es sich um einen Unfall handelte. Stattdessen wollte sie ihren Agenten Reginald Dawes um Hilfe bitten. David hielt sie davon ab, denn damit hätte sie sich erpressbar gemacht.

Dann würde sie den Rest ihres Lebens auf blutigen Knien vor ihm herumrutschen müssen. Bloß keinen Dritten hinzuziehen. Entweder ans Telefon gehen und die Polizei holen, oder mit gar keinem reden. und wenn sie mit niemand redeten, würden sie sich selbst um die Leiche kümmern müssen. (Seite 173)

Noch in der Nacht verscharrten sie die Leiche. Am nächsten Morgen fuhr Hector nach Seattle und tauchte unter. Er rasierte sich den Bart ab, und nachdem er in der Central Station eine Mütze mit dem Namenszug Herman Loesser im Stirnband gefunden hatte, nannte er sich so. Seine Verlobte kehrte zu ihren Eltern nach Wichita, Kansas, zurück. Eineinhalb Jahre später heiratete sie den Bankier George T. Brinkerhoff. Sie bekamen zwei Kinder. 1934 starb Dolores bei einem Autounfall.

Hector Mann alias Herman Loesser arbeitete bei einem Fischhändler und dann als Nachtwächter. Im Frühjahr 1931 kam er in Brigids Geburtsstadt Spokane, Washington. Ihre Mutter war im Alter von vierundvierzig an Krebs gestorben, aber der Vater und Brigids jüngere Schwestern Deirdre und Nora lebten noch. Patrick O’Fallon betrieb in Spokane ein Geschäft: „Red’s Sporting Goods“. Hector konnte der Versuchung nicht widerstehen, es zu betreten. An diesem Tag bediente statt des Inhabers dessen jüngste Tochter, Nora. Die Zweiundzwanzigjährige hatte gerade ihr Examen am State College of Washington in Pullman gemacht und eine Stelle als Lehrerin an der Horace-Greeley-Grundschule in Spokane bekommen. Hector fing unter seinem falschen Namen als Lagergehilfe bei „Red’s Sporting Goods“ an.

Er erfuhr, dass Patrick O’Fallon nach dem Verschwinden seiner Tochter Brigid die Polizei in Los Angeles angerufen hatte. Kommissar Reynolds leitete die Ermittlungen, fand aber bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1936 keine Spur der Vermissten. Auch der von O’Fallon beauftragte Privatdetektiv Stegman scheiterte mit seinen Nachforschungen.

Im Lauf der Zeit stieg Hector zum Buchhalter und zum stellvertretenden Geschäftsführer auf. Nachdem Nora einen Heiratsantrag von Albert Sweeney, dem Sohn des Senators von Washington, abgelehnt hatte, nahm Patrick O’Fallon seinen fleißigen Mitarbeiter zur Seite und fragte ihn, ob er schwul sei, weil er nicht merke, dass Nora in ihn verliebt sei. Er stellte Hector vor die Wahl, entweder Nora einen Heiratsantrag zu machen oder entlassen zu werden. Daraufhin verließ Hector Spokane und hinterließ Nora einen Brief, in dem er ihr erklärte, er habe zu seiner plötzlich schwer erkrankten Ehefrau nach New York zurückkehren müssen.

In Montana unternahm er einen Selbstmordversuch. In Chicago, wo er drei Tage später einen weiteren unternahm, lernte er Sylvia Meers kennen, eine Prostituierte Anfang zwanzig. Sie brachte ihn dazu, in weniger als einer Stunde dreimal zum Orgasmus zu kommen – und überredete ihn nach dieser Leistung, für ihren gerade verhafteten Partner einzuspringen, mit dem sie in Live-Shows Kopulationen vorgeführt hatte. Weil Hector befürchtete, ein Kinogänger könne ihn erkennen, bestand er darauf, bei seinen Nacktauftritten eine Maske zu tragen. Meistens wurden er und Sylvia für Privatvorstellungen engagiert, beispielsweise von Archibald Person, einem siebzig Jahre alten pensionierten Richter, der sehen wollte, wie Hector auf die Brüste seiner Partnerin ejakulierte. Nach einiger Zeit fand Sylvia heraus, wer ihr Partner war, drohte ihm mit der Entlarvung und reduzierte seinen Anteil an den Einnahmen von 40 auf 25 Prozent.

Da wurde es Zeit für Hector, Chicago zu verlassen. Er fuhr nach Sandusky, Ohio. Dort stand er am 21. Dezember 1931 zufällig im Schalterraum einer Bank, als der siebenunddreißigjährige Bankräuber Darryl („Nutso“) Knox mit einer Pistole in der Hand hereinstürmte, die Malerin Frieda Spelling an sich riss und drohte, sie zu töten, falls sich jemand seinen Anordungen widersetzen würde. Ohne lange nachzudenken, warf Hector sich auf den Verbrecher. Der streckte ihn zwar nieder, war aber kurz abgelenkt und wurde in diesem Augenblick vom Wachmann erschossen. Hector kam mit einem zerstörten linken Lungenflügel ins Krankenhaus. Drei Tage lang lag er im Koma, und weil er keine Papiere bei sich trug, wusste niemand, wer er war – bis auf Frieda, die ihn erkannte, weil sie einige seiner Filme gesehen hatte.

Frieda, die zweiundzwanzigjährige Tochter des Bankiers Thaddeus P. Spelling aus Sandusky, heiratete ihren Lebensretter. Er nahm ihren Familiennamen an und nennt sich seither Hector Spelling. 1932 zog das Ehepaar nach New Mexico und richtete sich auf der Blue Stone Ranch bei Tierra del Sueño ein. 1935 gebar Frieda einen Sohn: Thaddeus („Taddy“). Der starb nach fünf Jahren an einer allergischen Reaktion auf einen Bienenstich.

Hector drohte unter der Trauer zusammenzubrechen. Um ihn abzulenken, regte Frieda ihn dazu an, wieder Filme zu drehen. Von Mai 1939 bis März 1940 richteten sie auf der Ranch ein Filmstudio ein. Dort entstanden vierzehn Tonfilme, die allerdings niemand außer der kleinen Gruppe von Mitwirkenden sehen durfte. Hector schrieb die Drehbücher, führte Regie und schnitt die Filme. Charlie Grund, der von Anfang an dabei war, kümmerte sich um die Beleuchtung und führte die Kamera. Für Kulissen und Kostüme war Frieda zuständig. 1945 wurde die junge Schauspielerin Faye Morrison für eine Hauptrolle engagiert. Sie blieb auf der Blue Stone Ranch und heiratete 1946 Charlie Grund, der gerade geschieden worden war. Alma ist ihre Tochter. Als sie fünfzehn war, schickten die Eltern sie auf ein Internat. Danach ging sie aufs College, lebte in New York, London, Los Angeles, heiratete und wurde geschieden. Als ihre Mutter im November 1981 im Alter von neunundfünfzig Jahren starb, kehrte sie nach Tierra del Sueño zurück – und entschloss sich, auf der Ranch zu bleiben. Seit sechseinhalb Jahren arbeitet sie dort an einer Biografie von Hector Mann, die in etwa einem Jahr fertig sein wird.

Die Autofahrt von Albuquerque nach Tierra del Sueño dauert zweieinhalb Stunden. Obwohl es schon spät am Abend ist, will der bettlägerige Kranke den Besucher noch sehen. Allerdings beendet Frieda das Gespräch nach fünf Minuten mit dem Hinweis, ihr Mann benötige jetzt Ruhe.

Das Abendessen wird von dem taubstummen und kleinwüchsigen Zwillingspaar Juan und Conchita serviert, das seit zwanzig Jahren im Dienst des Ehepaars Spelling steht.

Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.

Alma und David beschließen den Abend mit Sex. Danach schläft David tief und fest bis 10 Uhr. Erst dann erfährt er, dass Hector in der Nacht starb. Frieda ist bereits unterwegs nach Albuquerque, wo die Leiche eingeäschert werden soll. Sobald sie wieder zurück ist, will sie sofort damit anfangen, alle Filme zu verbrennen.

David wird keine Gelegenheit mehr haben, alle vierzehn seit 1940 von Hector gedrehten Filme anzuschauen. Er beginnt mit „Das Innenleben des Martin Frost“.

Nach der drei Jahre langen Arbeit an einem Roman folgt Martin Frost der Einladung seiner Freunde Hector und Frieda, sich auf ihrer Ranch zu erholen, während sie den Winter in Mexiko verbringen. Als er nach der ersten Nacht auf der Ranch erwacht, liegt eine attraktive fremde Frau nackt neben ihm im Bett. Sie erschrickt augenscheinlich ebenso wie er. Dann erklärt sie ihm, sie sei Friedas Nichte und ebenso wie er eingeladen worden, ein paar Wochen auf der Ranch zu verbringen. Sie heißt Claire Martin, ist Philosophiestudentin und möchte sich ungestört auf ihr Examen vorbereiten. Claire bezieht ein anderes Zimmer – aber am Nachmittag verführt sie Martin. Es ist der Beginn einer heißen Affäre. Dann ruft Hector aus Cuernavaca an, und es stellt sich heraus, dass weder er noch Frieda das Mädchen kennen. Martin verlangt von Claire eine Erklärung, aber sie meint, es sei doch nur wichtig, dass er sie liebe, und er lässt sich darauf ein. Eines Tages sieht Martin durchs Fenster, wie Claire während eines Spaziergangs zusammenbricht. Er holt sie ins Haus und legt sie ins Bett. Offenbar ist sie schwer krank. Weil es eiskalt ist und Martin kein Heizmaterial findet, nimmt er das Manuskript, an dem er während seines Aufenthalts auf der Ranch eifrig arbeitete und verheizt es Blatt für Blatt im Kamin. Die Wärme tut Claire gut; sie erholt sich. – In der letzten Einstellung des Films wird ebenso wie im Titel angedeutet, dass Martin Frost sich das alles nur eingebildet hat.

Frieda kommt vorzeitig aus Albuquerque zurück, weil die Einäscherung erst am Nachmittag vorgenommen werden kann und sie nicht so lange warten wollte.

Sie möchte David beim Verbrennen der Filme nicht dabei haben und lässt ihn durch Alma auffordern, am nächsten Morgen die erste Maschine nach Boston zu nehmen.

Während die beiden Frauen die Filme verbrennen, schaut David sich in Almas Arbeitszimmer um. Das auf dem Schreibtisch liegende 600 Seiten dicke Manuskript trägt den Titel „Das Nachleben von Hector Mann“. Das Motto stammt aus dem Buch „Mein letzter Seufzer“ von Luis Buñuel:

Etwas später schlug ich vor, wir sollten das Negativ auf der Place du Tertre in Montmartre verbrennen; ich hätte das, wäre die Gruppe einverstanden gewesen, ohne zu zögern getan. Und ich würde es auch heute noch tun. Ich stelle mir einen riesigen Scheiterhaufen in meinem kleinen Garten vor, auf dem alle meine Negative und alle Kopien meiner Filme in Flammen aufgehen. Das würde mir absolut nichts ausmachen. (Seltsamerweise stimmten die Surrealisten jedoch gegen meinen Vorschlag.) (Seite 339)

David blättert in einem Tagebuch Hectors. Was er liest, stimmt mit Almas Bericht während der Anreise überein. Unter dem Datum vom 31. März 1932 beschreibt Hector einen Traum: Als er den Hund ausführt, sieht er auf dem Gehsteig etwas bläulich schimmern, und er nimmt sich vor, den vermeintlichen Edelstein Friedas vier Jahre alter Nichte Dorothea zu schenken. Doch als er den bläulich leuchtenden Stein aufheben will, stellt er fest, dass er in etwas Weiches greift. Es ist glitschiger Schleim, ein Klumpen menschlicher Spucke. – Jetzt weiß David, woher der Name der Ranch stammt.

Hector hatte diesen Stein bereits gesehen, und er wusste, der Stein existierte nicht, das Leben, das sie gemeinsam aufbauen wollten, war auf eine Illusion gegründet. (Seite 342f)

Nach drei Tagen Abwesenheit ist David wieder in Vermont. Alma will nachkommen. Um ihr das Gästezimmer als Arbeitszimmer einrichten zu können, trägt er die darin gestapelten Kartons mit der Hinterlassenschaft Helens und der Kinder in den Keller.

Am vierten Abend wartet David vergeblich auf Almas täglichen Anruf, und er wählt ihre Nummer, ohne eine Verbindung zu bekommen. Vor dem Morgengrauen erhält er ein Fax mit einem langen Brief Almas. Frieda verbrannte inzwischen die Drehbücher, Storyboards, Kostüme und alle anderen Hinweise auf die Filme. Dann kam Alma dazu, wie sie gerade die letzten Seiten des Manuskripts „Das Nachleben von Hector Mann“ in den Kamin warf. Es handelte sich nur um einen Ausdruck, aber als Alma in ihr Arbeitszimmer stürzte, sah sie sofort, dass der Computer nicht mehr auf dem Schreibtisch stand. Das Ergebnis von fast sieben Jahren Arbeit war zerstört. Frustriert und wütend kehrte sie zu Frieda zurück und stieß sie gegen die Brust. Die Achtzigjährige fiel so unglücklich auf den Kopf, dass sie sofort tot war.

David ruft im Büro des Sheriffs in Tierra del Sueño an. Hilfssheriff Victor Guzman fährt zur Blue Stone Ranch und findet dort die Leichen von Frieda Spelling und Alma Grund. Juan und Conchita sind verschwunden. Alma vergiftete sich mit einer Überdosis der von David auf der Ranch vergessenen Xanax-Tabletten.

Weil Alma keine Verwandten mehr hat, kümmert David sich um die Beerdigung neben ihren Eltern auf einem Friedhof fünfundzwanzig Kilometer nördlich von Tierra del Sueño.

Hector und Frieda Spelling hinterlassen neun Millionen Dollar. Sie kommen einem anonymen Fond zur Erhaltung alter Filme durch das Museum of Modern Art in New York zugute.

Um sich abzulenken, stürzt David sich wieder in die Übersetzung der „Mémoires d’outre-tombe“.

Was danach aus mir wurde, spielt keine Rolle […] Ich kann nur sagen, dass ich jetzt in einer Großstadt lebe, irgendwo zwischen Boston und Washington, D. C., und dass dieser Text das Erste ist, woran ich mich seit „Die stumme Welt des Hector Mann“ versucht habe. Eine Zeit lang habe ich wieder als Professor gearbeitet, dann habe ich eine andere Arbeit gefunden, die mich mehr befriedigte, und die Lehrtätigkeit endgültig aufgegeben. Ich sollte auch hinzufügen (für diejenigen, die so etwas interessiert), dass ich nicht mehr allein lebe. (Seite 377)

1998, ein halbes Jahr nach seinem einundfünfzigsten Geburtstag, erleidet David einen Herzinfarkt. Der zweite folgt am 26. November desselben Jahres. Im Januar 1999 beginnt er damit, das vorliegende „Buch der Illusionen“ zu schreiben, das allerdings erst nach seinem Tod erscheinen darf.

Belege für die Richtigkeit der Darstellung gibt es keine mehr; Frieda hat sie alle vernichtet. Inzwischen ist David davon überzeugt, dass Hector keines natürlichen Todes starb, sondern von Frieda mit einem Kissen erstickt wurde. Lange dachte er darüber nach, warum Alma die Vernichtung der Filme so gelassen hinnahm. Es gibt nur eine Erklärung dafür: Sie hatte heimlich Kopien davon versteckt.

Sie hat vergessen, es mir zu sagen. Sie hat es mir sagen wollen, es dann aber vergessen. Wenn das stimmt, sind Hectors Filme nicht verloren. Sie sind nur verschwunden, und früher oder später wird jemand kommen und zufällig die Tür des Zimmers aufstoßen, in dem Alma sie versteckt hat, und dann fängt die Geschichte noch einmal ganz von vorne an.
In dieser Hoffnung lebe ich. (Seite 383)

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In seinem witzigen, einfallsreichen und sehr unterhaltsamen Roman „Das Buch der Illusionen“ spielt Paul Auster mit den Grenzen zwischen Fiktion, Einbildung und Wirklichkeit. Es geht um Schuld und Selbstbestrafung, Identitätsverlust und die Frage, ob Kunst auf Öffentlichkeit angewiesen ist. Zufälle spielen – wie immer bei Paul Auster – eine bedeutende Rolle.

Das große Thema dieses Roman ist das gewonnene und verlorene Leben, die gefundene, erfundene und verscherzte Biografie. (Ulrich Greiner, Die Zeit, 8. August 2002)

Den Protagonisten David Zimmer haben wir bereits als Nebenfigur in Paul Austers Roman „Mord über Manhatten“ („Moon Palace“, 1989) kennengelernt.

Das Besonders am „Buch der Illusionen“ sind die raffinierte Verschachtelung und die Verbindung literarischer und filmischer Elemente: Paul Auster beschreibt seitenlang Inhalt und Form von (fiktiven) Filmen, schildert Träume und zitiert fast drei Seiten lang aus François-René de Chateaubriands „Mémoires d’outre-tombe“. Auf den Seiten 157 bis 240 erzählt Alma Grund dem Autor die Geschichte des (fiktiven) Filmemachers Hector Mann. Wie bei einer Matrjoschka-Puppe sind diese Geschichten noch einmal in eine Rahmengeschichte eingebettet, in der wir erfahren, unter welchen Umständen das vorliegende Buch (angeblich) geschrieben wurde. Jede der Geschichten spiegelt Elemente der anderen und variiert Leitmotive des Romans.

„Das Buch der Illusionen“ ist ein feines Gewebe aus Autoreferenzialität, Intertextualität und Intermedialität. (www.ceryx.de)

Paul Austers „Buch der Illusionen“ ist eine der eindrucksvollsten Synthesen von literarischem und filmischem Erzählen, von spannungsreicher Handlung und Reflexion. (Ulrich Baron, Süddeutsche Zeitung, 26. Juli 2002)

In der deutschen Übersetzung von Werner Schmitz wurden ein paar Sprachschnitzer übersehen, etwa bei der Verwechslung von dasselbe und das Gleiche (mehrere Male auf Seite 185) oder wenn es auf Seite 123 heißt: „Meine Scheinwerfer hatten es nicht gestreift.“ (Gemeint ist das Scheinwerferlicht.)

Den Roman „Das Buch der Illusionen“ von Paul Auster gibt es auch in einer gekürzten Fassung als Hörbuch, gelesen von Hans Peter Hallwachs (Regie: Margrit Osterwold, München 2002, 5 CDs, ISBN: 3-453-86347-X).

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2010
Textauszüge: © Rowohlt Verlag

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Obwohl Kazuo Ishiguro zunächst den Eindruck erweckt, "Als wir Waisen waren" sei eine Detektivgeschichte, geht es in Wirklichkeit nicht um Kriminalfälle, sondern um eine zu spät erkannte Lebenslüge. Ungeachtet des tragischen Inhalts habe ich den Roman mit großem Vergnügen gelesen.
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