Paul Auster : Nacht des Orakels

Nacht des Orakels
Originalausgabe: Oracle Night Henry Holt, New York 2003 Nacht des Orakels Übersetzung: Werner Schmitz Rowohlt Verlag, Reinbek 2004 ISBN: 3-498-00064-0, 286 Seiten Rowohlt Taschenbuch, Reinbek 2005 ISBN: 3-499-23987-6, 286 Seiten, 8.90 € (D)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Ob die Geschichte über seine Ehefrau, die der Schriftsteller Sidney Orr in seinem Tagebuch entwirft, der Realität entspricht oder nicht, weiß er nicht. Das Treatment für ein Drehbuch, das er aus Geldnot verfasst, wird von den Filmemachern verworfen, weil es ihnen zu intellektuell vorkommt. Ein Manuskript, das er in ein Drehbuch umschreiben soll, verliert er im Gedränge. Und mit dem Plot für einen neuen Roman gerät er in eine Sackgasse ...
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Kritik

Paul Auster spielt in "Nacht des Orakels" mit Geschichten, die wie Matrjoschka-Puppen ineinander gepackt sind. Er erzählt mit überbordender Fabulierlust und bietet eine höchst unterhaltsame Lektüre auf hohem Niveau.
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Der vierunddreißigjährige Schriftsteller Sidney Orr wohnt mit seiner Ehefrau in Cobble Hill im New Yorker Stadtteil Brooklyn. Sie lernten sich im Frühjahr 1979 kennen, verliebten sich und sind seither ein Paar. Grace, die Tochter des Richters Bill Tebbett und dessen Ehefrau Sally, arbeitet als Designerin bei Holst & McDermott.

Am 12. Januar 1982 bricht Sidney in der Subway zusammen und wird mit Knochenbrüchen, inneren Blutungen, Kopfverletzungen und neurologischen Störungen ins St. Vincent’s Hospital eingeliefert. Erst im Mai kann er das Krankenhaus wieder verlassen, aber er ist noch geschwächt und muss jeden Morgen Tabletten einnehmen. Bei einem Spaziergang am 18. September 1982 schaut er in das neue Schreibwarengeschäft „Paper Palace“. Beim Besitzer handelt es sich um einen Chinesen Ende dreißig. Er heißt M. R. Chang und erzählt Sidney, er habe das Geschäft am 10. August eröffnet, aber der Umsatz sei noch immer enttäuschend. Der Schriftsteller, der seit Monaten nichts geschrieben hat, kauft ein blaues, in Portugal hergestelltes Notizbuch.

Sobald er zu Hause ist, greift er einen Vorschlag auf, den ihm sein Freund und Kollege John Trause zwei Wochen zuvor machte und entwirft eine Romanhandlung, mit der er die Flitcraft-Episode in „Der Malteser Falke“ variiert. Bei Dashiell Hammett erzählt Sam Spade Brigid O’Shaughnessy von einem Ehemann, Vater und erfolgreichen Geschäfsmann, der untertaucht und ein neues Leben ohne seine Familie beginnt, nachdem er beinahe von einem herabstürzenden Balken getroffen wurde. Sidney macht aus dem Mann einen Lektor namens Nick Bowen, der für einen Verlag in New York arbeitet. Eines Tages erhält Nick ein Romanmanuskript mit dem Titel „Nacht des Orakels“, das angeblich 1927 von der bekannten Schriftstellerin Sylvia Maxwell geschrieben wurde und aus ihrem Nachlass stammt. Sylvia Maxwells Enkelin Rosa Leightman schickte es ihm. Am Abend sagt Nick zu seiner Frau Eva, mit der er seit fünf Jahren verheiratet ist, er wolle noch Briefe aufgeben. In der Aktentasche, in der er die Briefe verstaut, befindet sich das Manuskript „Nacht des Orakels“. Auf dem Weg wird er von herabstürzenden Teilen eines Wasserspeiers umgeworfen, aber glücklicherweise nicht ernsthaft verletzt. Nick rappelt sich auf, winkt ein Taxi herbei und lässt sich nach La Guardia fahren. Der nächste Flug geht nach Kansas City. Nick besorgt sich ein One-Way-Ticket und geht an Bord der Maschine, ohne seine Frau angerufen zu haben: Er beginnt ein neues Leben und möchte nichts mehr von seiner Vergangenheit wissen.

Während des Flugs liest er das Manuskript „Nacht des Orakels“. Der Roman handelt von Lemuel Flagg, einem britischen Leutnant, der während des Ersten Weltkriegs durch eine Granatenexplosion in den Ardennen erblindet und von den elf bzw. vierzehn Jahre alten Kriegswaisen François und Geneviève bewusstlos aufgefunden wird. Sie pflegen ihn in der Hütte, in der sie Zuflucht gefunden haben, und nach dem Krieg nimmt er sie mit nach England. Die Geschichte wird von Geneviève erzählt. Seit seiner Erblindung verfügt Lemuel Flagg in unregelmäßigen Zeitabständen über die Fähigkeit, zukünftige Ereignisse vorherzusehen. Das wird ihm zum Verhängnis, als er sich in Bettina Knott verliebt und sie nach zwei Jahren heiraten will. Am Abend vor der Hochzeit sieht er nämlich voraus, dass sie ihn betrügen wird. Daraufhin stößt er sich ein Messer in die Brust und stirbt [Suizid].

Sidney schreibt stundenlang in sein Notizbuch. Danach fragt Grace, wo er gewesen sei. Sie habe in sein Arbeitszimmer geschaut, ihn dort jedoch nicht gesehen. Er wundert sich, denn er saß die ganze Zeit am Schreibtisch. Gewiss vertiefte er sich so in die Arbeit an dem neuen Roman, dass er die Welt um sich herum vergaß. Aber kann es sein, dass er dadurch auch unsichtbar war?

Sidney und Grace sind an diesem Abend (18. September 1982) mit John Trause zum Essen verabredet. Die drei Freunde treffen sich alle zwei Wochen. John ist sechsundfünfzig, war schon mit Graces Vater befreundet und kennt die sechsundzwanzig Jahre Jüngere von klein auf. Als sie und Sidney 1979 ein Paar wurden, freundeten sich auch die beiden Männer an. Von 1954 bis 1964 war John mit einer Malerin verheiratet. Mit Eleanor hat er einen inzwischen zwanzigjährigen Sohn: Jacob. 1966 heiratete er die Balettchoreografin Tina, die 1974 im Alter von sechsunddreißig Jahren an Krebs starb. Seither ist John allein. Madame Dumas aus Martinique führt ihm den Haushalt. Da John seit kurzem an einer Phlebitis leidet und vor Schmerzen im Bein kaum gehen kann, ist er auf sie angewiesen.

Zu Beginn der Freundschaft erzählte John Sidney von einem französischen Schriftsteller, den er während seines Paris-Aufenthalts in den Fünfzigerjahren kennengelernt hatte. Der schrieb ein episches Gedicht über das Ertrinken eines Kindes. Zwei Monate nach der Veröffentlichung reiste er mit seiner Familie in die Normandie. Am letzten Urlaubstag ertrank seine fünfjährige Tochter. Der Schriftsteller fühlte sich schuldig, denn er war überzeugt, den Tod des Mädchens mit seiner Dichtung herbeigeführt zu haben: „Worte konnten töten.“ (Seite 261) Er schrieb nie wieder etwas.

Sidney arbeitet weiter am Plot seines neuen Romans.

Nach der Ankunft in Kansas City nimmt Nick ein Taxi und lässt sich zum Hyatt Hotel bringen. Zufällig ist es für den siebenundsechzig Jahre alten schwarzen Taxifahrer Edward M. Johnson, der sich Ed Victory nennt, die letzte Tour: Er hört auf und will sich nun ganz auf die Arbeit in seinem Büro für Geschichtspflege konzentrieren.

Am nächsten Tag stellt Nick fest, dass alle seine Kreditkarten gesperrt sind. Eigentlich wollte er mit seinem bisherigen Leben nichts mehr zu tun haben, aber er ruft Rosa Leightman in New York an, um sie um Hilfe zu bitten, erreicht allerdings nur ihren Anrufbeantworter. Zwanzig Minuten vor seinem Anruf verließ sie ihr Apartment. Sie fliegt für eine Woche zur Hochzeit ihrer Schwester nach Chicago.

Deshalb erreicht auch Eva sie nicht, die Nick verdächtigt, mit der attraktiven Frau durchgebrannt zu sein. Nach mehreren vergeblichen Versuchen, Rosa Leightman telefonisch zu erreichen, fährt Eva zu ihr und stellt fest, dass sie nicht zu Hause ist. Das scheint ihren Verdacht zu bestätigen. Eva schiebt Rosa Leightman einen Zettel unter der Türe durch.

Nach zwei Nächten verlässt Nick das Hotel, ohne zu bezahlen, und sucht Zuflucht bei dem einzigen Menschen, den er in Kansas City kennt: Ed Victory. Vielleicht weiß dieser, wo er eine Arbeitsstelle finden kann. Ed hat sogar selbst etwas für ihn. Er bringt Nick in einen Atomschutzbunker, in dem Tausende von Telefonbüchern stehen: das Büro für Geschichtspflege. Nick soll ihm helfen, die Telefonbücher umzusortieren. In einem Nebenraum kann er mietfrei wohnen, wenn es ihm nichts ausmacht, hinter meterdicken Betonwänden vier Meter unter der Erdoberfläche und ohne Fenster zu schlafen.

Ed erzählt vom Zweiten Weltkrieg und erwähnt einen achtzehnjährigen Gefreiten namens John Trause, der Ende 1944 in seine Einheit kam. Der sei inzwischen ein berühmter Schriftsteller. Im April 1945 gehörte Ed zu den Befreiern des Konzentrationslagers Dachau. Er kann nicht vergessen, wie ihn eine der abgemagerten Überlebenden um etwas Milch für ihr Baby bat. Das Kind auf ihrem Arm war schon tot, aber Ed betupfte seine Lippen mit Milch. Die Mutter war glücklich. Nach ein paar Schritten brach sie tot zusammen.

Wilhamena, seine erste Ehefrau, brannte 1953 mit einem Schnapshändler aus Detroit durch. Seine zweite Frau, Rochelle, erlag 1969 einem Herzleiden.

Durch eine Kreditkartenabrechnung erfährt Eva, dass ihr Mann ein Flugticket nach Kansas City kaufte. Um nach ihm zu suchen, fliegt sie ebenfalls dorthin, und zufällig checkt sie auch im selben Hotel ein. Auf dem Foto, das sie mitgenommen hat, erkennt die Empfangsdame Sidney, den Gast, der nach zwei Übernachtungen im Einzelzimmer verschwand, ohne seine Rechnung zu begleichen. Eva bezahlt den Betrag und weiß nun, dass Sidney nicht mit einer anderen Frau zusammen ist. Doch wo kann er sein?

Zum gleichen Zeitpunkt kehrt Rosa Leightman nach New York zurück, findet Evas Zettel und die Nachrichten auf ihrem Anrufbeantworter vor. Sie ruft die von Sidney angegebene Nummer an, aber niemand meldet sich. Ed wurde nämlich inzwischen von seinem neuen Freund ins Saint Anselm’s Hospital gebracht, weil er über Schmerzen in der Brust klagte. Die Ärzte stellen rasch fest, dass er einen Herzinfarkt erlitten hat und setzen für den nächsten Morgen eine Bypass-Operation an. Nachdem Rosa noch mehrere Male vergeblich versucht hat, unter der Telefonnummer in Kansas City jemanden zu erreichen, fährt sie beunruhigt mit einem Bus dorthin.

Nick erklärt sich bereit, im Büro für Geschichtspflege allein weiterzuarbeiten und bekommt Eds Schlüsselbund. Im Bunker legt er die Schlüssel gedankenverloren in ein Regal, sucht das Telefonbuch Warschau 1937/38 heraus und geht damit in sein Zimmer. Normalerweise hätte er die Türe erst aufsperren müssen, denn sie hat weder innen noch außen eine Klinke, aber in der Hektik aufgrund von Eds Zusammenbruch blieb sie offen. Nick betritt den Raum und tritt die Türe hinter sich zu. Damit hat er sich eingeschlossen und keine Chance, sich selbst zu befreien. Da sich ein Getränke- und Lebensmittelvorrat in dem Zimmer befindet, macht er sich zunächst keine Sorgen, denn er geht fest davon aus, dass Ed ihn nach seiner Genesung befreien wird. Dass Ed auf dem Operationstisch starb, ahnt er nicht.

Am 20. September weiß Sidney mit der Geschichte nicht mehr weiter, und er legt das Notizbuch fort.

Das Schreibwarengeschäft, in dem er erst vor zwei Tagen das Notizbuch kaufte, ist ausgeräumt. An der Türe hängt ein Zettel, demzufolge die Räume zu vermieten sind.

In der Zeitung liest er von einer zweiundzwanzigjährigen Prostituierten in der Bronx, die ihr Kind unmittelbar nach der Geburt in eine Mülltonne warf.

Seine Literaturagentin Mary Sklarr ruft an und fragt ihn, ob er daran interessiert sei, das Drehbuch für eine Neuverfilmung des Romans „Die Zeitmaschine“ von Herbert George Wells zu verfassen. Sidney gefällt das Buch zwar nicht, aber die Filmemacher in Hollywood bieten 50 000 Dollar für das Drehbuch. Damit könnte Sidney endlich seine Schulden tilgen. Vor vier Jahren schrieb er schon einmal ein Drehbuch, und zwar über einen Musiker, der sich von einer langen Krankheit erholt und sein Leben nach und nach wieder neu zusammensetzt.

Sidney dreht das blaue Notizbuch aus Portugal um und beginnt von hinten her zu schreiben.

Den britischen Forscher, der mit einer Zeitmaschine in die Zukunft reist, vertauscht er mit dem achtundzwanzigjährigen Sohn eines verstorbenen texanischen Viehbarons, der 1895 eine Zeitmaschine konstruiert und sich damit auf den 27. November 1963 katapultieren lässt. Als Jack erfährt, dass der US-Präsident John F. Kennedy vor fünf Tagen ermordet wurde, beschließt er, dies zu verhindern und reist sieben Tage rückwärts. Als er am 20. November 1963 in Dallas, Texas, aus seiner Zeitmaschine klettert, landet in unmittelbarer Nähe eine Frau ebenfalls mit einer Zeitmaschine. Jill kommt aus dem 22. Jahrhundert. Anlässlich ihres 20. Geburtstags durfte sie zu einer Zeitreise aufbrechen. Obwohl es ist ihr strikt untersagt ist, in das Geschehen einzugreifen, lässt sie sich von Jack dazu überreden, Lee Harvey Oswald am 22. November im Texas School Book Depository aufzulauern und ihn zu fesseln. John F. Kennedy stirbt trotzdem, denn Lee Harvey Oswald ist nicht der einzige Attentäter. Weil Jill gegen die Gesetze ihrer Gesellschaft verstieß, kann sie nicht mehr in ihre Zeit zurück. Darüber ist sie allerdings nicht traurig, denn sie und Jack haben sich verliebt und beschließen, miteinander im Jahr 1963 neu anzufangen. Sie zerstören die Zeitmaschinen und entsagen ihrer Vergangenheit.

Grace, die Sidney schon seit einigen Tagen merkwürdig vorkommt, offenbart ihm, dass sie schwanger ist. Er freut sich darüber, aber Grace zieht zu seinem Entsetzen eine Abtreibung in Erwägung. Ein paar Stunden später gesteht er sich seine wahre Motivation ein: Aufgrund seiner angeschlagenen Gesundheit und der durch die Medikamente verursachten Impotenz ist es fraglich, ob Grace bei ihm bleiben wird. Mit einem Kind würde er sich sicherer fühlen. Umgekehrt könnten Graces Gedanken an eine Abtreibung darauf hindeuten, dass sie unabhängig von ihm bleiben möchte.

Am nächsten Morgen erzählt Grace von einem Traum: Sie besichtigt mit Sidney und ihren Eltern eine Villa. Dabei öffnen sie auch eine Falltür im Boden und klettern in einen Kellerraum, in dem sich zahlreiche Bücher befinden, alles Werke von Sidney. Sie haben leidenschaftlichen Sex. Als sie wieder zur Besinnung kommen, merken sie, dass sie eingeschlossen und ihre Eltern bereits fort sind.

In einer Bar in Manhattan trifft Sidney zufällig M. R. Chang wieder. Der Chinese berichtet ihm, die Mafia habe in der Gegend, wo er sein Schreibwarengeschäft betrieb, alles unter Kontrolle. Ungeachtet seines Vertrags hätte er plötzlich mehr Miete zahlen müssen. Da habe er nachts alles ausgeräumt. Er erzählt Sidney, sein Vater sei als Mathematiklehrer in Peking ein Opfer der Kulturrevolution geworden. Man habe ihn samt der Familie aufs Land geschickt, wo er als Bauer arbeiten musste. Im Gegensatz zu den meisten Bewohnern von New York besitzt Chang ein Auto, und er verspricht, Sidney nach Hause zu fahren. Der schläft auf dem Beifahrersitz ein, und als sie anhalten und er aufwacht, stellt er fest, dass sie nicht in Brooklyn sind, sondern in Queens, und zwar in Chinatown von Flushing. Chang erklärt, er brauche den Rat eines klugen Mannes und versichert, es werde nicht lang dauern. Er führt ihn durch einen Saal, in dem zwanzig chinesische Arbeiterinnen bunte Kleider nähen. Dahinter befindet sich ein Bordell, und Chang möchte wissen, ob Sidney eine Investition in das Etablissement empfehlen würde.

„Ganz neues Lokal“, fuhr der ehemalige Schreibwarenhändler fort. „Erst Samstag eröffnet. Noch nicht alles fertig, aber ich sehe große Möglichkeiten. Man hat mich gefragt, ob ich will einsteigen als Minderheitspartner.“
„Das ist ein Bordell“, sagte ich. „Sind Sie sicher, dass Sie sich an einem illegalen Geschäft beteiligen wollen?“
„Kein Bordell. Entspannungsclub mit nackten Frauen. Hilft Arbeiter, sich besser fühlen.“
„Ich will ja keine Haarspalterei betreiben. Wenn Sie so wild drauf sind, tun Sie’s. Aber ich dachte, Sie sind pleite.“
„Geld nie Problem. Ich leihe. Wenn Profit von Investment mehr als Zins von Kredit, alles okay.“ (Seite 179)

Um Sidney zu beweisen, dass „Schwanz immer stärker als Pflichtgefühl“ (Seite 180), winkt er die schöne Nackte Martine aus Haiti herbei. Sidney kann der Versuchung nicht widerstehen und folgt ihr in eines der Separees, wo sie sich vor ihn kniet und ihm die Hose öffnet. Bald darauf verlässt Sidney das Gebäude mit schlechtem Gewissen und ohne nach Chang zu suchen.

Sidneys Treatment für „Die Zeitreise“ wird abgelehnt; die Filmemacher halten es für zu intellektuell.

Er besucht John Trause und vertraut ihm an, dass Grace schwanger ist. Der Freund bleibt stumm und flüstert dann zu Sidneys Verwunderung: „Die arme Grace.“ Weil er weiß, dass Sidney auf Einnahmen angewiesen ist, um seine Schulden abbezahlen zu können, gibt er ihm das Manuskript einer unveröffentlichten politischen Parabel mit, das er 1952, in Graces Geburtsjahr, schrieb: „Das Reich der Knochen“. Daraus soll Sidney ein Drehbuch machen. Die Geschichte spielt um 1830 in einem imaginären Land. Gemeint seien damit die USA zur Zeit des Senators Joseph McCarthy, erklärt John. Die Regierung täuscht eine Invasion von Barbaren vor, um die Bevölkerung in Angst und Schrecken zu versetzen. Auf diese Weise sollen Oppositionelle zum Schweigen gebracht werden.

Auf dem Rückweg verliert Sidney das Manuskript im Getümmel in der U-Bahn, und als er seine Wohnung betritt, stellt er fest, dass eingebrochen wurde. Graces Schmuck fehlt ebenso wie die signierten Erstausgaben von Büchern befreundeter Schriftsteller. Sidney räumt so rasch wie möglich auf, damit Grace nicht erschrickt, wenn sie von der Arbeit kommt. Sie bleibt jedoch die ganze Nacht fort und taucht erst am anderen Morgen wieder auf. Sie habe Zeit zum Nachdenken gebraucht und in einem Hotel geschlafen, erklärt sie. Nun sei sie entschlossen, das Kind auszutragen. Dass Sidney sich Sorgen machte, bedauert sie.

John bittet Sidney, in der Entzugsklinik Smithers in der Upper East Side von Manhattan nach seinem Sohn Jacob zu schauen. Der Zwanzigjährige wurde von seiner Mutter Eleanor und seinem Stiefvater dorthin gebracht, weil er seit einigen Monaten heroinsüchtig ist. Sidney schlägt vor, Grace mitzunehmen, aber davon rät ihm John ab und klärt ihn darüber auf, dass Grace und Jacob sich schon als Kinder nicht ausstehen konnten.

In der Klinik zeigt Jacob seinem Besucher andere Patienten und meint, im Vergleich zu ihnen sei er „bloß ein netter Spießer“ (Seite 238). Der Ladendieb Freddy zum Beispiel verkleidete sich als Priester, wenn er auf Beute aus war. Dadurch geriet er einmal in eine prekäre Situation: Auf der Straße wurde unmittelbar neben ihm ein Mann von einem Auto erfasst. Passanten forderten den vermeintlichen Geistlichen auf, dem Schwerverletzten die Letzte Ölung zu spenden. Freddy beugte sich daraufhin über den am Boden liegenden Mann, faltete die Hände und murmelte „irgendeinen feierlichen Blödsinn, den er mal im Kino gehört hatte“ (Seite 237). Dann machte er das Kreuzzeichen und suchte das Weite.

Zu seiner Überraschung entdeckt Sidney am 27. September in Manhattan einen „Paper Palace“. Tatsächlich steht Chang im Laden. Aber der Chinese ist beleidigt und will nichts mehr mit ihm zu tun haben. Er weigert sich sogar, ihm ein rotes Notizbuch aus Portugal zu verkaufen. Sidney wirft ihm verärgert eine 10-Dollar-Note hin, das Doppelte des Preises, und will gehen, aber Chang schlägt ihn mit einem Karatehieb zu Boden, tritt ihm in den Rücken, öffnet die Türe und kippt ihn auf den Bürgersteig.

Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.

Zu Hause schlägt Sidney das blaue Notizbuch in der Mitte auf und beginnt über Grace zu schreiben.

John Trause war zwei Jahre nach Tinas Tod mit ihr in Portugal. Sie hatten eine Affäre. Darüber empörte sich Jacob, als er seinen Vater in Portugal besuchte. Der Junge war damals vierzehn. Graces Eltern durften von dem Liebesverhältnis ihrer Tochter mit dem sechsundzwanzig Jahre älteren Freund der Familie nichts wissen. Grace kehrte schließlich allein nach New York zurück. Als John eineinhalb Jahre später ebenfalls wieder da war, setzten sie ihre Affäre fort. Neun Monate später verliebten sich Grace und Sidney. Einige Zeit schwankte Grace zwischen den beiden Männern, dann entschied sie sich für Sidney. Als der im Krankenhaus lag, tröstete John Grace, und sie gingen erneut miteinander ins Bett. Damit hörten sie auch nicht auf, als Sidney wieder nach Hause kam. Erst als er die Tablette wegließ, die ihn impotent machte, beendete Grace ihr Verhältnis mit John endgültig. Kurz darauf erfuhr sie von ihrer Schwangerschaft. Da sie nicht weiß, welcher der beiden Männer der Vater ist, geriet sie in eine Krise.

Nachdem Sidney diese Mutmaßungen aufgeschrieben hat, zerreißt er das Notizbuch und wirft die zerknüllten Seiten in den Müll.

Jacob verschwindet aus der Klinik. Kurz darauf taucht er bei Sidney und Grace auf. Er habe Schulden bei Richie und Phil, erklärt er, und wenn er ihnen nicht 5000 Dollar geben könne, fürchte er um sein Leben. Weil er weiß, dass das Ehepaar selbst kein Geld hat, soll Grace ihren Vater darum bitten. Dazu ist sie nicht bereit. Es kommt zum Streit. Jacob prügelt auf Grace ein und tritt ihr in den Bauch. Sidney ist zu schwach, um ihn davon abzuhalten, aber er holt ein Messer aus der Küche und jagt ihn damit aus der Wohnung. Erst zwei Tage später kommt Grace im Methodistenkrankenhaus in Park Slope wieder zu sich. Inzwischen hatte sie einen Abortus. Dass John in der Nacht, in der Jacob sie zusammenschlug, an einer Lungenembolie starb, verheimlichen ihr Sidney und die Eltern zunächst.

Am 1. Oktober erhält Sidney einen Brief von John. Statt des versprochenen Durchschlags des Manuskripts „Das Reich der Knochen“ zieht Sidney einen Scheck über 36 000 Dollar aus dem Kuvert.

Lieber Sid,
ich weiß, ich habe dir einen Durchschlag des MS [„Das Reich der Knochen“] versprochen, aber wozu soll das gut sein? Die Idee war doch nur, dir zu etwas Geld zu verhelfen, also kürze ich die Sache jetzt ab und lege dir einen Scheck bei. Als Geschenk, einfach so […] (Seite 270)

Zwei Monate später wird Jacobs halb verweste Leiche gefunden, eingewickelt in eine schwarze Plastikplane in einem Müllcontainer auf einer verlassenen Baustelle in der Bronx. Er wurde mit zwei Kopfschüssen aus zwei verschiedenen Waffen getötet.

Zwanzig Jahre später schreibt Sidney Orr die Geschichte auf.

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Gewiss ist es kein Zufall, dass der Protagonist des Romans „Nacht des Orakels“ Orr heißt. Das klingt wie or (oder) und deutet darauf hin, dass es verschiedene Möglichkeiten zum Beispiel des Handlungsverlaufs gibt. Eine davon notiert der Schriftsteller Sidney Orr in seinem Notizbuch. Ob sie der Realität entspricht, weiß er nicht. Das Treatment für ein Drehbuch, das er aus Geldnot verfasst – „Fantasy-Schund der primitivsten Art“ (Seite 153) –, wird von den Filmemachern verworfen, weil es ihnen zu intellektuell vorkommt. Ein Manuskript, das er in ein Drehbuch umschreiben soll, verliert er im Gedränge. Und mit dem Plot für einen neuen Roman gerät er in eine Sackgasse. Paul Auster spielt in „Nacht des Orakels“ mit Geschichten, die wie Matrjoschka-Puppen ineinander gepackt sind. Dabei entwickelt er Spiegelungen und Wiederholungen, Verdoppelungen und Variationen. Die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit verschwimmen. Der Autor schaut sich gewissermaßen ständig selbst über die Schulter und betont, dass es sich bei den Geschichten nur um fiktive Handlungen handelt. In teilweise seitenlangen Fußnoten stellt er mitunter die Darstellung selbst in Frage. In „Nacht des Orakels“ bietet Paul Auster mit überbordender Fabulierlust eine höchst unterhaltsame Lektüre auf hohem Niveau.

Den Roman „Nacht des Orakels“ von Paul Auster gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Jan Josef Liefers (Bearbeitung: Katja Krause, Regie: Ralf Becher, Berlin 2004, 5 CDs, ISBN: 3-89813-298-6).

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2010
Textauszüge: © Rowohlt Verlag

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