Paul Auster : Die Brooklyn-Revue

Die Brooklyn-Revue
Manuskript: 2003/2004 Originalausgabe: The Brooklyn Follies Henry Holt, New York 2005 Die Brooklyn-Revue Übersetzung: Werner Schmitz Rowohlt Verlag, Reinbek 2006 ISBN 3-498-00066-7, 351 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

In seinem Roman "Die Brooklyn-Revue" führt Paul Auster ein Dutzend Figuren zusammen, allesamt Gestrandete und Verlierer ohne Hoffnung und Perspektiven. Im Zentrum steht der Ich-Erzähler Nathan Glass, der nach dem Scheitern seiner Ehe und einer Krebsdiagnose in den Vorruhestand geht und sich zum Sterben an seinen Geburtsort Brooklyn zurückzieht. Dort trifft er seinen Neffen Tom Wood wieder, von dem er jahrelang nichts gehört hat – und durch diesen Zufall gerät er in einen Strudel von Ereignissen, der ihn ins volle Leben zurückschleudert ...
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Kritik

"Die Brooklyn-Revue" ist eine burleske, unterhaltsame und leicht zu lesende Mischung aus Drama, Komödie, Familienroman, Romanze und Gaunerstück, geschickt komponiert aus eher unspektakulären Geschichten, die Paul Auster beiläufig, ruhig und unaufgeregt erzählt.
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Ich suchte nach einem ruhigen Ort zum Sterben. (Seite 7)

Mit diesem Satz beginnt der Roman „Die Brooklyn-Revue“ von Paul Auster. Der Ich-Erzähler heißt Nathan („Nat“) Glass. Nach dreiunddreißig Ehejahren reichte seine Frau Edith im November 1998 die Scheidung ein. Im Monat darauf diagnostizierten die Ärzte bei dem Versicherungsvertreter der „Mid-Atlantic Accident & Life“ Lungenkrebs. Nathan ging daraufhin in den Vorruhestand, und nach einem längeren Krankenhausaufenthalt verkaufte er im Jahr 2000 sein Haus in Bronxville, mietete ein Apartment in seinem Geburtsort Brooklyn und wartet dort nun auf den Tod. Zum Zeitvertreib schreibt er aus der Erinnerung Anekdoten über eigene und anderer Leute Torheiten auf Zettel, die er in Pappschachteln ablegt.

Wenn es auch sonst nichts taugt, dachte ich, habe ich wenigstens etwas zu lachen. (Seite 12)

Zufällig begegnet er seinem Neffen Tom Wood, von dem er seit sieben Jahren nichts gehört hat. Nathan wundert sich, dass der junge Mann im Antiquariat „Brightman’s Attic“ hinter der Kasse sitzt.

Toms Mutter June war drei Jahre jünger als ihr Bruder Nathan. Mit vierundzwanzig heiratete sie den Wirtschaftsjournalisten Christopher Wood und bekam zwei Kinder: zunächst Tom und zwei Jahre später Aurora. Nach fünfzehn Jahren zerbrach die Ehe, und June wurde die dritte Frau des wohlhabenden Börsenmaklers Philip Zorn, der eine Tochter namens Pamela hatte. Im Alter von neunundvierzig Jahren starb June an einer Gehirnblutung. 1997 brach Tom sein Literaturstudium an der University of Michigan ab und zog nach New York, wo er sich als Taxifahrer durchschlug, bis er von Harry Brightman als Hilfskraft im Antiquariat eingestellt wurde.

Tom erzählt Nathan von einer wunderbaren Frau, die er jeden Morgen auf seinem Weg zu „Brightman’s Attic“ anhimmelt, während sie nichts ahnend mit ihren beiden Kindern auf den Treppenstufen vor ihrem Haus sitzt und auf den Schulbus wartet. Um seinen Neffen von dieser Fixierung zu befreien und ihm zu demonstrieren, dass es sich bei der Angebeteten um ein Wesen aus Fleisch und Blut handelt, begleitet Nathan ihn eines Morgens und spricht die Frau an. Sie heißt Nancy Mazzucchelli, ist Mitte dreißig, seit sieben Jahre mit dem Geräuschemacher James („Jim“) Joyce verheiratet und stellt Schmuck her. Sie ist tatsächlich außergewöhnlich schön und liebenswürdig, doch offenbar nur durchschnittlich intelligent und interessiert sich auch nicht für Bücher.

Die Halskette, die Nathan Nancy abgekauft hat, schenkt er beim Mittagessen in seinem Stammlokal, dem „Cosmic Diner“, spontan der puertoricanischen Kellnerin Marina Luisa Sanchez Gonzalez, die für ihn eine Augenweide darstellt. Marina wagt zuerst nicht, das Geschenk anzunehmen, weil ihr Ehemann Roberto sehr eifersüchtig ist, aber Nathan schlägt ihr vor, die Kette nur im Diner zu tragen und sie bei Dienstschluss in der Ladenkasse zu deponieren. Nie wäre Nathan auf die Idee gekommen, zudringlich zu werden, aber eines Tages, als er im „Cosmic Diner“ auf sein Essen wartet und in dem Roman „Zenos Gewissen“ liest – Marina habe sich krank gemeldet, erfuhr er von Dimitrios, dem Besitzer des Lokals –, stürmt ein UPS-Bote herein, fragt nach Nathan, zerreißt vor seinen Augen die Halskette, beschuldigt ihn, seine Frau angemacht zu haben, beschimpft ihn, droht, ihn umzubringen und verlangt von Dimitrios, dem „Schwein“ Lokalverbot zu erteilen. Dimitrios, der zum Glück größer und stärker ist, wirft den rasenden Roberto Gonzalez hinaus und lässt Marina ausrichten, dass sie gefeuert ist.

Nachdem Nathan in einem Geschäft noch eine von Nancy Mazzucchelli angefertigte Halskette kauft, diesmal für seine erwachsene und verheiratete Tochter Rachel, trifft er auf der Straße Nancy, ihren Mann Jim und die Kinder Devon und Sam. Dadurch festigt sich die Bekanntschaft, und schließlich befreundet Nathan sich mit Nancys Mutter Joyce Mazzucchelli. Das Haus, in dem die Witwe mit Nancy und deren Familie wohnt, gehört ihr. Es stammt von ihrem 1993 verstorbenen Mann Tony, einem Bauunternehmer. Ungeachtet ihres Alters werden Nathan und Joyce – sie ist etwa ein Jahr jünger als er – ein Paar. Bei seinen regelmäßigen Besuchen beobachtet Nathan, wie Nancys Ehe in die Brüche geht. Als Jim eine Affäre mit der Geräuschemacherin Marthy Ives beginnt, trennt Nancy sich von ihm. Er muss das Haus verlassen.

Eines Tages steht plötzlich die neuneinhalbjährige Lucy bei ihrem Onkel Tom vor der Tür. Tom hat sie seit sechs Jahren nicht gesehen. Drei Tage lang redet sie kein Wort und auch danach verrät sie nicht, wo ihre Mutter lebt und warum sie nicht mehr bei ihr ist. Weil Tom kein eigenes Zimmer für Lucy hat, holt Nathan das Mädchen vorübergehend zu sich.

Am Telefon überredet Tom seine Stiefschwester Pamela, Lucy aufzunehmen. Zu dritt fahren sie in Nathans altem und seit Monaten nicht mehr benutzten Wagen los. Lucy will jedoch nicht zu Pamela und schüttet während eines Aufenthalts auf einer Raststätte nordwesstlich von Brattleboro, Vermont, heimlich einige Dosen Coca Cola in den fast leeren Tank. Danach springt das Auto nicht mehr an. Die Mechaniker in der Werkstatt auf der anderen Straßenseite können sich das zunächst auch nicht erklären und wissen deshalb nicht, wie lang die Reparatur dauern wird. Sie vermitteln der kleinen Reisegruppe eine Unterkunft in der nahe gelegenen Pension „Chowder Inn“.

Sie gehört dem siebenundsechzigjährigen Stanley Chowder. Vor vier Jahren hatte er als Wirtschaftsprüfer aufgehört, um sich mit seiner Ehefrau Peg einen Lebenstraum zu erfüllen und diese Pension zu eröffnen, doch als die ersten Reservierungen eintrafen, erlag Peg einem Schlaganfall. Weil das „Chowder Inn“ deshalb nie in Betrieb genommen wurde, gibt es kein Personal, aber Stanley Chowder überredet seine zweiunddreißigjährige Tochter Honey, eine unverheiratete Lehrerin, abends für die drei Gäste zu kochen.

Durch die dünnen Wände hört Nathan eines Nachts, wie Honey zu Tom ins Zimmer schleicht und zu ihm ins Bett schlüpft. Er freut sich darüber, denn sein Neffe erzählte ihm, dass er seit über einem Jahr mit keiner Frau mehr zusammen gewesen sei.

Bei der Probefahrt nach der Reparatur merkt der Mechaniker, dass die Bremsen defekt sind. Das Cola im Tank hat Nathan, Tom und Lucy also möglicherweise das Leben gerettet.

Nathan beschließt, nach New York zurückzufahren, statt Lucy bei Pamela abzuliefern. Bevor sie sich wieder ins Auto setzen, erfahren sie von Rufus Sprague, einem jamaikanischen Transvestiten Mitte zwanzig, der am Wochenende als Tina Hott auftritt und während der Woche im „Brightman’s Attic“ aushilft, dass Harry Brightman tot ist.

Harry Brightman hieß eigentlich Harry Dunkel. Er wurde 1934 in Buffalo, New York, geboren. Sein Vater war Briefsortierer. Mit achtzehn verließ Harry seine Geburtsstadt, meldete sich zur Marine und wurde nach seiner Militärzeit Schaufensterdekorateur in Chicago.

Seit den frühesten Jahren seiner Pubertät hatte er, gehetzt von ziellosen Trieben und Begierden, unterschiedslos Sexualpartner beiderlei Geschlechts gesammelt. Harry war froh, dass er so war, froh, immun gegen das Vorurteil zu sein, das ihn gezwungen hätte, lebenslänglich auf die Reize einer Hälfte der Menschheit zu verzichten. (Seite 47)

In Chicago machte ihm Bette, die Tochter des Multimillionärs Karl Dombrowski, 1967 einen Heiratsantrag und richtete ihm im Jahr darauf eine Kunstgalerie ein. 1969 kam ihre Tochter Flora zur Welt. Den Durchbruch schaffte der Galerist, als er 1976 den damals zweiunddreißigjährigen Maler Alec Smith groß herausbrachte. Vom ersten Geld kaufte Alec Smith sich ein Haus in Oaxaca, Mexiko, und zog mit seiner Frau dorthin. Aber er schickte weiterhin regelmäßig Bilder – bis er sich drei Tage vor seinem vierzigsten Geburtstag vom Dach stürzte. Ohne die gut verkäuflichen Gemälde von Alec Smith hätte Harry die Galerie schließen müssen, aber da begann der Künstler Gordon Dryer, den Harry vor einem halben Jahr kennen gelernt hatte und der inzwischen sein Geliebter war, neue Gemälde im Stil von Alec Smith zu malen. Die bot Harry Privatsammlern als echte Alec Smith an und verkaufte sie für sehr viel Geld, das er sich mit Gordon teilte. Es ging gut, bis die Witwe Valerie Smith das Haus in Oaxaca 1986 verkaufte, mit ihren drei Kindern in die USA zurückkehrte und sich ausgerechnet mit dem Schönheitschirurgen Andrew Levitt befreundete, der vierzehn gefälsche Alec Smith erworben hatte. Valerie durchschaute den Betrug. Harry und Gordon wurden zu Haftstrafen verurteilt. Bette ließ sich scheiden.

Nach zweieinhalb Jahren im Gefängnis von Joliet, Illinois, zog Harry unter dem Namen Brightman nach Brooklyn und eröffnete 1991 ein Antiquariat.

Kurz bevor Nathan mit Tom und Lucy losfuhr, hatte Harry ihm von einem geplanten Coup erzählt: Gordon Dryer war wieder aufgetaucht. Nach dreieinhalb Jahren Haft hatte er einige Zeit in San Francisco gelebt. Jetzt wohnte er bei einem Liebhaber in New York.

Gordon erzählte Harry, er habe im Gefängnis einen Ganoven namens Ian Metropolis kennen gelernt, der sich darauf verstehe, das verschollene Originalmanuskript von Nathaniel Hawthornes „The Scarlet Letter“ („Der scharlachrote Buchstabe“) zu fälschen. Dafür sei der Privatsammler Myron Trumbell bereit, drei oder vier Millionen Dollar zu bezahlen. Harry sollte ein Viertel davon bekommen, damit er durch sein Antiquariat die Glaubwürdigkeit des Angebots erhöhte. Kurz darauf erhielt Harry 10 000 Dollar Vorschuss. Nathan riet ihm, den Scheck nicht einzulösen und bei dem Coup nicht mitzumachen, denn es könne sich um eine Falle handeln; möglicherweise versuche Gordon sich für die verbüßte Haftstrafe zu rächen. Harry ließ sich jedoch nicht beirren.

Vier Tage vor dem vereinbarten Übergabetermin tauchte Gordon überraschend mit dem angeblichen Interessenten Myron Trumbell bei Harry im Antiquariat auf. Tatsächlich waren die beiden ein Paar und hatten Harry hereingelegt. Nathans Befürchtung, es könne sich um einen Racheakt handeln, war also berechtigt. Trumbell erinnerte Harry an die Gemäldefälschungen, drohte ihm wegen des geplanten Betrugs mit der Polizei und verlangte für sein Schweigen die wertvollen alten Bücher im Obergeschoss des Antiquariats.

„Überlassen Sie uns den Inhalt dieses Zimmes, und wir betrachten die Schuld als beglichen […] Es ist Ihre Entscheidung, Harry. Leben oder Tod. Ein ausgeräumtes Zimmer – oder zum zweiten Mal im Gefängnis. Ob Sie uns die Bücher morgen geben oder nicht. Sie verlieren sie sowieso.“ (Seite 238)

Wenn Harry nachgedacht hätte, wäre ihm aufgefallen, dass die beiden Besucher nichts gegen ihn unternehmen konnten, ohne sich selbst zu belasten. Aber er verlor den Kopf und rannte ihrem Taxi nach – bis er an einer Straßenecke seiner früheren Aushilfe Nancy Mazzucchelli in die Arme fiel und tot zusammenbrach.

Sobald Nathan wieder in New York ist, lässt er sich von Rufus und Nancy, die im Antiquariat auf ihn warten, berichten, was geschehen ist. Dann sucht er in Harrys Schreibtisch Gordons Telefonnummer heraus und klärt den Erpresser darüber auf, dass er den Möbelwagen abbestellen könne. Harry sei tot.

Seinen Besitz vermachte Harry Tom und Rufus zu gleichen Teilen. Statt Tom bei der Weiterführung des Antiquariats zu helfen, zieht Rufus es allerdings vor, zu seiner Großmutter in der jamaikanischen Hauptstadt Kingston zu ziehen. Bis Tom über das Erbe verfügen kann, reichen die finanziellen Mittel nicht aus, um einen Mitarbeiter zu beschäftigen. Deshalb springt Nathan ein und hilft jeden Tag im Antiquariat, sobald er Lucy in ein Sommercamp der Berkeley Carroll School gebracht hat.

Einige Wochen nach Harrys Tod kommt unvermittelt Honey Chowder zur Tür herein. Sie hat ihre Stelle als Lehrerin aufgegeben, macht Tom einen Heiratsantrag und erklärt, Lucy benötige eine Ersatzmutter. Also heiraten Tom und Honey, ziehen in die Wohnräume über dem Antiquariat und nehmen Lucy bei sich auf.

Nathan bittet seinen inzwischen ebenfalls pensionierten früheren Kollegen Henry Peoples, dessen Aufgabe es war, Versicherungsbetrüger zu überführen, nach Lucys Mutter zu suchen. Nach sechs Wochen teilt Henry Peoples ihm die Adresse mit: Aurora wohnt mit ihrem Ehemann David Wilcox Minor in Winston-Salem, North Carolina.

Nathan fliegt sofort hin. David öffnet. Er behauptet, seine Frau sei krank und liege im Bett, aber Nathan entdeckt Auroras Füße ganz oben auf der Treppe, fordert sie auf, herunterzukommen und bietet ihr an, sie zu ihrer Tochter zu bringen. Bevor ihr Mann auf die unerwartete Wendung reagieren kann, verlässt Aurora mit Nathan das Haus und fliegt mit ihm nach New York.

Aurora („Rory“) war mit siebzehn zu Hause ausgezogen. 1991 bekam sie ein uneheliches Kind – Lucy –, aber sie lebte damals mit zwei Musikern zusammen und wusste nicht, wer von ihnen der Vater war, Greg oder Billy. Greg starb zwei Jahre nach Lucys Geburt an einer Überdosis Heroin, und Billy verschwand einfach.

1993 wollte Tom sich mit einer Samenspende ein paar Dollar verdienen und entdeckte während des Masturbierens in einem der ausgelegten Pornohefte seine Schwester. Entsetzt rannte er aus der Kabine. Tatsächlich verdiente Aurora ihr Geld achtzehn Monate lang mit Oben-ohne-Auftritten, Nacktfotos und als Pornodarstellerin. Als sie jedoch während eines Drehs von der halben Crew vergewaltigt wurde, hörte sie damit auf und suchte zusammen mit der dreijährigen Lucy Zuflucht bei ihrem Bruder. Als Kellnerin lernte sie zwei Musiker kennen, mit denen sie die Band „Brave New World“ gründete und nach Kalifornien zog, wo sie Lucy einem lesbischen Paar in Oakland anvertraute. Nach dem Scheitern der Band ging Aurora freiwillig in eine Entzugsanstalt, um von den Drogen loszukommen.

Einer der Gruppenleiter, David Minor, nahm sie danach mit zu seiner Mutter nach Philadelphia. Sie heirateten, und David adoptierte Lucy, aber er bestand darauf, dass Aurora mit ihrer Vergangenheit brach und keinen Kontakt mehr zu Verwandten oder früheren Bekannten aufnahm. Sie zogen nach Winston-Salem, wo David beim „True Value Hardware Store“ anfing und es zum stellvertretenden Geschäftsführer brachte.

David schloss sich der von Reverend Bob geführten Sekte „Tempel vom Heiligen Wort“ an, verlangte, dass auch Aurora und Lucy Mitglieder wurden und versuchte alles, um seine Frau zu einer überzeugten Anhängerin seines Glaubens zu machen. Er unterwarf sich den immer radikaleren Forderungen, die Reverend Bob an seine Gemeinde stellte, räumte das Fernsehgerät fort, dann den Radioapparat, die Bücher, den Computer, die CDs und bestellte die Zeitschriften ab. In einer seiner Predigten rief Reverend Bob die Gemeindemitglieder vom vierzehnten Lebensjahr dazu auf, jede Woche einen Tag lang zu schweigen. Als Lucy, für die dieses Gebot noch gar nicht galt, von sich aus einen Schweigetag pro Woche einlegte, suchte Aurora besorgt Reverend Bob auf. Der Sektenführer klagte darüber, dass seine Frau Darlene keine Kinder bekommen könne, er jedoch seinen heiligen Samen ausbringen müsse und versuchte Aurora zu überreden, sich von ihm begatten zu lassen. Fürs Erste begnügte er sich mit Fellatio, und Aurora ließ sich darauf ein, sorgte aber dafür, dass sein Ejakulat auf ihre Bluse spritzte. Mit der Drohung, das Kleidungsstück zur Polizei zu bringen, zwang sie David, der nach wie vor zu Reverend Bob hielt, Lucy eine Fahrkarte nach New York zu kaufen und sie zu ihrem Onkel Tom zu schicken.

Joyce Mazzucchelli stellt Aurora und Lucy in ihrem Haus kostenlos ein Zimmer zur Verfügung. Tom und Honey, die Lucy nur ungern hergeben, versuchen daraufhin, ein eigenes Kind zu zeugen.

Nathan befürchtet, David Minor könne seine Frau zurückholen wollen, aber nach einiger Zeit erhält Aurora das Scheidungsurteil zugeschickt.

Von Männern hat sie ebenso genug wie Nancy Mazzucchelli. Die beiden werden ein Paar. Nancys Mutter ist entsetzt, als sie die zwei Frauen nackt in einem Bett schlafend entdeckt, aber Nathan meint, sie seien erwachsen und müssten selbst entscheiden, wie sie leben möchten.

Während des Gesprächs mit Joyce bricht Nathan zusammen, krümmt sich vor Schmerzen auf dem Boden und glaubt, an einem Herzinfarkt zu sterben. Im Krankenhaus diagnostizieren die Ärzte, dass der Anfall durch eine leicht zu heilende Speiseröhren-Entzündung ausgelöst wurde. Sicherheitshalber wird ihm alle paar Stunden Blut abgenommen. Während seines Klinikaufenthaltes wechseln die Patienten in den benachbarten Betten. Hin und wieder ist ein Bett leer, wenn Nathan von einem Nickerchen erwacht. Möglicherweise ist einer der Patienten gestorben.

Die meisten verschwinden einfach. Ein Mensch stirbt, und nach und nach verlieren sich alle Spuren seines Lebens. Ein Erfinder lebt in seinen Erfindungen weiter, ein Architekt in seinen Bauwerken, aber die meisten Menschen hinterlassen weder Monumente noch dauerhafte Leistungen: ein Regal mit Fotoalben, ein Zeugnis aus dem fünften Schuljahr, einen Bowling-Pokal, einen Aschenbecher, geklaut aus einem Hotelzimmer in Florida am letzten Morgen eines inzwischen fast schon vergessenen Urlaubs. Ein paar Gegenstände, ein paar Dokumente, ein paar Eindrücke, die man bei anderen Leuten hinterlassen hat. (Seite 347f)

Nathan nimmt sich vor, eine Gesellschaft zu gründen, die Biografien schreiben und drucken lässt, um einzelne Personen vor dem Vergessen zu bewahren.

Freunde und Verwandte des Betroffenen gäben die Biografien in Auftrag, und die Bücher erschienen in kleinen privaten Auflage von fünfzig bis drei- oder vierhundert Exemplaren. (Seite 348)

Als Erstes will er Bette Dombrowski anrufen und sie darum bitten, die Biografie ihres verstorbenen Ex-Mannes Harry Dunkel alias Brightman schreiben zu dürfen.

Voller Tatendrang und Lebensfreude verlässt Nathan nach ein paar Tagen an einem strahlend blauen Morgen das Krankenhaus. Es der 11. September 2001, und es ist 8 Uhr.

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In seinem Roman „Die Brooklyn-Revue“ führt Paul Auster ein Dutzend Figuren zusammen, allesamt Gestrandete und Verlierer ohne Hoffnung und Perspektiven. Im Zentrum steht der Ich-Erzähler Nathan Glass, der nach dem Scheitern seiner Ehe und einer Krebsdiagnose in den Vorruhestand geht und sich zum Sterben an seinen Geburtsort Brooklyn zurückzieht. Dort trifft er seinen Neffen Tom Wood wieder, von dem er sieben Jahre lang nichts gehört hat – und durch diesen Zufall gerät er in einen Strudel von Ereignissen, der ihn ins volle Leben zurückschleudert. Er gesundet, indem er sich um seinen Neffen und einige andere Menschen kümmert und für sie Bedeutung erlangt.

„Die Brooklyn-Revue“ ist eine burleske, unterhaltsame und leicht zu lesende Mischung aus Drama, Komödie, Familienroman, Romanze und Gaunerstück, geschickt komponiert aus eher unspektakulären Geschichten, die Paul Auster beiläufig, ruhig und unaufgeregt erzählt. Das Geschehen entwickelt sich mit zunehmendem Tempo vor dem Hintergrund der ethnischen Vielfalt der Bevölkerung in Brooklyn, und mehrmals polemisiert Paul Auster gegen George W. Bush und dessen umstrittene Wahl zum US-Präsidenten im November 2000. Am Ende, als die individuellen Schicksale der Romanfiguren sich zum Guten wenden, steht der Terroranschlag vom 11. September 2001.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2006
Textauszüge: © Rowohlt Verlag

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