Louis Begley : Ehrensachen

Ehrensachen
Originalausgabe: Matters of Honor Alfred A. Knopf, New York 2007 Ehrensachen Übersetzung: Christa Krüger Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 2007 ISBN 978-3-518-41870-3, 445 Seiten Taschenbuch: Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 2008
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Zu Beginn der 50er-Jahre kommt der Ich-Erzähler Sam nach Harvard und lernt im Studentenheim Henry und Archie kennen. Während Sam und Archie traditionsbewussten Familien der Upperclass angehören, verrät Henrys Akzent seine jüdisch-polnische Herkunft. Er selbst fühlt sich nicht als Jude und strebt wie Sam und Archie nach einer erfolgreichen Karriere, doch das bedeutet für ihn die Abkehr von seiner Familie ...
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Kritik

In seinem Roman "Ehrensachen" ignoriert Louis Begley dramaturgische Regeln und setzt stattdessen auf einen Ich-Erzähler, der vorwiegend beschreibt und Gespräche wiedergibt, statt das Geschehen zu inszenieren.
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Anfang der Fünfzigerjahre beziehen drei Studenten in einem zum Harvard College in Cambridge, Massachusetts, gehörenden Haus eine gemeinsame Wohnung und befreunden sich.

Sam Standish kommt aus den Berkshires. Da er seit seinem 13. Lebensjahr in einem Internat war, bedeutet das Zusammenleben mit Gleichaltrigen für ihn keine Umstellung. Er wuchs bei Adoptiveltern auf, mit denen ihn keine intensiven Gefühle mehr verbinden. Kürzlich erfuhr er, dass Horace Standish, der Bruder seines Großvaters – beide sind bereits tot – einen Trust eingerichtet hatte, der für Sams Ausbildung zur Verfügung steht und von einem Anwalt namens Hibble betreut wird.

Archibald („Archie“) P. Palmer III. ist der Sohn eines Offiziers aus Texas. Bei seinen Großeltern mütterlicherseits handelte es sich um eine Mexikanerin und einen US-amerikanischen Petroleum-Ingenieur. Archie verfügt zwar über einen scharfen Intellekt, aber er vernachlässigt sein Studium, vergnügt sich lieber mit Mädchen und ist erstaunlich trinkfest.

Henry White wurde in Krakau geboren. Dort führte sein Vater ein Geschäft für Lebensmittelexporte und verdiente außerdem Geld mit Immobilien. Seine Mutter, die Tochter eines von den Nationalsozialisten ermordeten wohlhabenden jüdischen Anwalts, hat einen Universitätsabschluss in polnischer Literatur. Als die Deutschen Polen überfielen, wurde sie zusammen mit ihrem Sohn von ihrer früheren Lateinlehrerin Pani Maria versteckt. Henrys ebenfalls jüdischer Vater kam bei seinem Geschäftsführer unter und überschrieb ihm dafür das Familienunternehmen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wanderte er mit seiner Familie über Belgien nach New York aus, wo er noch ein Firmenkonto besaß, eine kleine Fabrik für Vorhang- und Polsterstoffe in Brooklyn gründete und den Familiennamen Weiss in White änderte. Dreimal pro Woche muss Henry mit seiner Mutter telefonieren, die argwöhnt, er sei dabei, sein Elternhaus aufzugeben, um seine jüdische Herkunft verleugnen zu können.

Henry erklärt Sam:

Erinnerst du dich an den Mann, den Raymond Massey in Arsen und Spitzenhäubchen gespielt hat, den Mann, den Dr. Einstein – also Peter Lorre – am Gesicht operiert und durch einen Kunstfehler zum Monster gemacht hat? Raymond Massey, das bin ich. Mit mir ist auch ein Kunstfehler passiert. Darum sage ich immerfort: Dr. Einstein, wir müssen noch mal operieren. (Seite 14)

Solange es Leute gibt, die es kümmert, ob ich ein Jude bin, der vorgibt, keiner zu sein, so lange muss ich Jude bleiben, auch wenn ich mir innerlich nicht jüdischer vorkomme als ein geräucherter Schweineschinken. Wenn jemand mich fragt, muss ich sagen, dass ich Jude bin – es sei denn, diese Wahrheit bringt mich in ein Konzentrationslager oder kostet mich das Leben. Das bin ich mir schuldig, sonderbar für einen wie mich, der nicht glaubt, dass er irgendwem irgendwas schuldet. Aber es ist eine Ehrensache für mich. (Seite 49)

Henry verliebt sich in die Studentin Margot Hornung, die auch von anderen jungen Männern umschwärmt wird. Einer ihrer Freunde ist George Standish, der ebenfalls in Harvard studiert. Die Großväter von George und Sam waren Brüder. Obwohl Sam und sein Cousin dafür sorgen, dass Henry und Margot einander vorgestellt werden, wagt der Verliebte nicht, seiner Angebeteten zu sagen, was er für sie empfindet:

Ich muss Margot zu meinem Langzeitprojekt machen. In der Zwischenzeit halte ich mich fern, ich will es mir nicht verscherzen. (Seite 72)

Margots jüdischer Vater war vor dem Zweiten Weltkrieg Bankier in Amsterdam. Ihre Mutter ist eine nichtjüdische Amerikanerin. 1938 schickte Margots Vater sein Kapital und seine Kunstsammlung nach New York, und im Juni 1939 emigrierte er mit seiner Familie. Die Hornungs wohnen in einem Apartment in der Park Avenue.

Silvester feiern Sam, Henry und Margot mit George bei dessen Eltern und übernachten dort auch. Nach ein paar Stunden Schlaf erwacht Margot: George ist heimlich in ihr Zimmer gekommen und in sie eingedrungen. Sie lässt ihn gewähren, kündigt ihm aber die Freundschaft auf und schlüpft in der nächsten Nacht zu Henry ins Bett. Allerdings darf Henry nicht mehr, als ihre Brüste anfassen, denn Margot geht es nur darum, vor George sicher sein.

Auch als Margot ein Verhältnis mit dem belgischen Studenten Etienne van Damme anfängt, bleiben Sam und Henry ihre platonischen Freunde. In Henrys Zimmer läuft sie zwar gern nackt herum, aber mehr als ein paar Berührungen erlaubt sie nicht. Bei anderen Männern hält sie sich weniger zurück: Weil sie eine Nacht mit einem Mann in einem Hotel in Boston verbringt und in ihrem Studentenzimmer vermisst wird, muss sie das College kurz vor dem Abschluss verlassen.

Während Henry in den Sommerferien zu einem Sprachkurs nach Grenoble reist, machen Sam und George zusammen einen Ausflug nach New Orleans. Am späten Abend sucht George nach einer Frau und schleppt Henry mit in eine Bar, in der er zwei am Nachbartisch sitzende Mädchen anmacht. Die beiden lassen sich Getränke ausgeben, doch als George sie auffordert mitzukommen und Geld anbietet, schreit eine von ihnen: „Dieser Scheißkerl denkt, wir sind Huren! Joe, komm rüber und klär ihn auf.“ (Seite 168) Auf der Straße beginnt eine Schlägerei. Sam setzt sich für George ein – und kommt dann erst im Krankenhaus mit gebrochener Nase, gebrochenem Kiefer, drei ausgeschlagenen Zähnen wieder zu sich, und wegen innerer Blutungen entfernen ihm die Ärzte die Milz.

Aufgrund schwerer Depressionen und eines Nervenzusammenbruchs nach seiner Rückkehr muss Sam sein Studium unterbrechen und auch das Studentenheim verlassen. Er wird Pensionsgast bei Madame Shouvaloff und Patient des Psychiaters Dr. Jakob Reiner.

Sams Adoptivvater stirbt an Darmkrebs. Die Witwe erholt sich von dem Schlag bei einem Kurzurlaub mit Sam in Puerto Rico. Einige Zeit später findet sie einen neuen Lebenspartner: Greg Richardson hat zwei Töchter, die bei ihrer Mutter leben. Sobald seine Ehe geschieden ist, heiratet er Sams Adoptivmutter in Pittsfield.

Nach dem Abschluss des Studiums mietet Sam sich eine Wohnung in Manhattan und wechselt zu dem Psychiater Dr. Kalman. Er veröffentlicht seinen ersten Roman. Archie und Henry sind zu diesem Zeitpunkt beim Militär.

Eines Tages erhält Sam einen Anruf von Mr White. Henry sei nicht erreichbar und seine Mutter liege nach einem Selbstmordversuch auf der Intensivsation eines Krankenhauses. Sam fährt sofort hin. Was war geschehen? Als Henry seiner Mutter am Telefon erzählt hatte, dass er zehn Tage Urlaub bekommen habe, freute sie sich auf seinen Besuch, aber er machte ihr klar, dass er mit Freunden nach Gent, Amsterdam und Delft reisen werde. Es kam zu einem Streit. Henry legte auf. Danach versuchte seine Mutter vergeblich, ihn beim Militär zu erreichen und schluckte dann eine Überdosis Schlaftabletten.

Mrs White wird gerettet, aber bald darauf ruft Henry bei Sam an: Diesmal habe es seine Mutter geschafft. Ursache war wieder ein Streit mit Henry, diesmal während er bei seinen Eltern zu Besuch war. Aufgrund der Auseinandersetzungen verbrachte Henry die letzte Nacht vor seiner Abreise aus New York nicht im Elternhaus, sondern mit Margot, die inzwischen im Metropolitan Museum beschäftigt ist. Als er am Morgen noch einmal zu Hause vorbeischaute, ging der Streit weiter, bis er zum Flughafen musste. Dort wurde er darüber informiert, dass seine Mutter sich die Pulsadern aufgeschnitten hatte.

Mr White überlebt seine Frau nur kurz: Im Januar 1956 erliegt er einem Schlaganfall. Henry muss sich um den Verkauf der Fabrik seines Vaters, die Hypotheken und Mietshäuser kümmern. Nach dem Wehrdienst studiert er Jura in Harvard.

Archie fängt nach seiner Zeit bei der Armee ein Studium an der Wharton Business School in Philadelphia an, bricht es jedoch nach einem Jahr ab und erhält einen Job bei einer Investment Bank an der Wall Street, während seine vierundzwanzigjährige Freundin Phoebe Jones in Ohio studiert. Nachdem die Beziehung in die Brüche gegangen ist, heiratet Archie eine Deutsche namens Alma, die in Buenos Aires aufwuchs, wohin ihre Eltern nach dem Zweiten Weltkrieg ausgewandert waren. Das Paar verunglückt auf der Hochzeitsreise tödlich.

Sam reist viel und schreibt inzwischen an seinem dritten Roman. In Paris trifft er Margot wieder. Sie beabsichtigt, einen fünfzehn Jahre älteren Franzosen zu heiraten, Jean Lebon, der unter dem Pseudonym Jean du Roc als Romancier bekannt ist. Jeans zweite Ehefrau verschleppt jedoch die Scheidung und aufgrund der Unterhaltszahlungen ist er so gut wie mittellos. Sam wundert sich, warum Margot nicht stattdessen Henry heiratet, der sie seit siebzehn Jahren liebt, aber sie wird 1968 Jeans Frau.

Einige Zeit später taucht auch Henry in Paris auf und übernimmt dort unter Derek de Rham eine leitende Position in der Zweigstelle der Bank, für die er in New York arbeitete. Protegiert wird er von dem belgischen Bankier Hubert Comte de Saint-Terre. Der Graf und dessen Ehefrau Gilberte führen Henry in die Brüsseler Schickeria ein.

Nachdem François Mitterand 1981 Staatspräsident in Frankreich geworden ist, soll die von der belgischen Banque de Saint-Terre kontrollierte und von Jacques Blondet geführte französische Banque de l’Occident verstaatlicht werden. Henry findet eine Möglichkeit, wie dies verhindert werden kann, aber er warnt de Saint-Terre und Blondet: Die französische Regierung werde sich dafür rächen und versuchen, das Ansehen der beiden Bankiers zu ruinieren. Die hören nicht auf ihn und gehen den von Henry aufgezeigten Weg gegen dessen Rat und obwohl er nichts damit zu tun haben möchte. Es gelingt ihnen, die Verstaatlichung abzublocken, aber Blondet wird kurz darauf verhaftet und beschuldigt, Steuern hinterzogen zu haben. De Saint-Terre ist entsetzt und macht Henry dafür verantwortlich, obwohl dieser ihn und Blondet gewarnt hatte.

Aufgrund des Bruchs mit Hubert Comte de Saint-Terre kündigt Henry und beschließt, ein neues Leben anzufangen.

Obwohl er Sam ausdrücklich gebeten hat, nicht nach ihm zu suchen, wendet dieser sich einige Zeit später an Margot, die mit einem amerikanischen Filmemacher nach La Jolla, Kalifornien, gezogen war und inzwischen einen Sohn namens Henry (!) hat, der in einem Schweizer Internat lebt. Nachdem Sam von Margot erfahren hat, dass Henry vermutlich unter dem Namen Henri Leblanc in der Nähe von Avignon wohnt, fliegt er nach Paris und mietet dort einen Leihwagen. Es gelingt ihm, Henry aufzuspüren. Er ist mit der Maklerin verheiratet, von der er das Haus gekauft hatte, in dem sie jetzt zusammen wohnen. Mireille brachte aus ihrer ersten Ehe zwei Söhne mit und hat mit Henry zusammen einen dritten Sohn, der auf den Namen Sam (!) hört.

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Louis Begley hat seinen Roman „Ehrensachen“ aus der Perspektive des Ich-Erzählers Sam Standish geschrieben, bei dem es sich ebenfalls um einen amerikanischen Schriftsteller handelt. Die Handlung – wenn man von einer solchen überhaupt sprechen kann – umfasst den Zeitraum von den Fünfziger- bis zu den Achtzigerjahren; konkrete Zeitpunkte werden dabei durch Hinweise auf politische Ereignisse markiert (Korea-Krieg, Attentat auf John F. Kennedy, Camp-David-Abkommen, Wahl François Mitterands zum Staatspräsidenten). Sam schildert seine Freundschaft mit Archibald („Archie“) P. Palmer III., Henry White und Margot Hornung sowie ihre Wege zur Selbstfindung. Am interessantesten ist Henry, denn für ihn bedeutet der erstrebte Erfolg in Beruf und Gesellschaft eine Verleugnung seiner jüdischen Herkunft. Während Henry im Mittelpunkt steht, erfahren wir nur wenig über Archie, der Mitte der Sechzigerjahre tödlich verunglückt. Der Ich-Erzähler berichtet zwar, dass er kurz nach seiner Geburt adoptiert wurde und beschreibt seine Adoptiveltern als Alkoholiker und Ehebrecher, aber weiter geht er darauf nicht ein. Nach einem Nervenzusammenbruch konsultiert er jahrelang Psychotherapeuten in Boston, New York und Paris – ohne zu verraten, was er dabei über sich selbst lernt. Louis Begley gibt zahlreiche Gespräche wieder und wechselt dabei zwischen indirekter und – nicht in Anführungszeichen gesetzter – direkter Rede. Statt Begebenheiten zu inszenieren, beschreibt er ungewöhnlich viel und hält sich dabei mit belanglosen Details auf, ohne konkret zu werden. Hier ein ohne lange Suche herausgegriffenes Beispiel:

Archie ging gleich nach dem Militärdienst zur Wharton Business School, aber in Philadelphia gefiel es ihm nicht, also hörte er am Ende des ersten Studienjahrs auf und arbeitete für eine Investment Bank an der Wall Street. Die Hoffnung war, dass er mit seinem perfekten Spanisch, eleganten Benehmen und seinen Kontakten vor Ort dem Unternehmen allmählich zum Aufschwung in Mittel- und Südamerika verhelfen würde. Ich spielte wie früher Squash mit ihm. Mein Spiel taugte wieder einmal gar nichts mehr, und Archie war genau der Richtige, mir beim Training Energie und Willen zum Sieg abzuverlangen. Nach einer Weile schaffte ich es gelegentlich, ihn zu schlagen. Er setzte nur Tricks und Tempo ein, und das war mir lieber als Aufschläge mit der Wucht von Kanonenkugeln, die man unmöglich zurückspielen kann. Solange Archie im Süden von Manhattan arbeitete, spielten wir spätnachmittags, was mir sehr gelegen kam. Irgendwann wechselte er die Stelle. Seine neue Firma lag zentraler, und nun spielten wir fast immer um die Mittagszeit, für mich weniger bequem, aber ich lernte, früh aufzustehen und sofort an die Arbeit zu gehen, sodass eine Mittagspause keine wirklich störende Unterbrechung war. Zunächst spielten wir im Harvard Club und aßen danach unten im Grillroom einen Hamburger. Später wurde Archie Mitglied in einem viel vornehmeren Club im feinen Nordteil Manhattans, der höchst luxuriöse Squashplätze zu bieten hatte, und begann, mich zum Spielen nach der Arbeit dorthin einzuladen. Ab und zu nahm ich die Einladung – sehr widerstrebend – an. Es behagte mir nicht, dass er für mich bezahlte, und meine Angebote, mich an der Platzmiete und den Kosten für die Drinks nach dem Spiel zu beteiligten, lehnte er immer ab. In diesem Club ließ man sich Cocktails oder was man sonst trinken wollte, vom Kellner in den großen Raum neben der Umkleidekabine bringen. Ebenso üblich war es, dass alle sich an der Unterhaltung beteiligten, sodass man mehr oder weniger gezwungen war, mit den Mitgliedern und Gästen, die gerade da waren, Konversation zu machen. (Seite 307f)

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2007
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag

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