John le Carré : Empfindliche Wahrheit
Inhaltsangabe
Kritik
Toby Bell, das einzige Kind einer frommen Handwerkerfamilie von der englischen Südküste, fing als Büroangestellter an, besuchte eine Abendschule und arbeitete sich hoch. Bei der britischen Botschaft in Berlin war er Zweiter Sekretär, dann schickte man ihn nach Madrid und Kairo. Nun wird der 30-Jährige persönlicher Referent von Fergus Quinn, dem frisch ernannten Staatsminister im Foreign Office.
Von Anfang an hört Toby Gerüchte über eine frühere Fehlleistung des Ministers, aber niemand will ihm dazu etwas sagen. Während einer Dienstreise nach Brüssel klagt Fergus Quinn über Kopfschmerzen und zieht sich zurück, aber kurz darauf stellt Toby fest, dass der Minister nicht in seinem Hotelzimmer ist, sondern von einem Unbekannten abgeholt wurde und mit ihm zum Essen fuhr.
Einige Zeit später wird Toby von Fergus Quinn einem Besucherpaar vorgestellt: Mrs Hardy und Jay Crispin. Bei der Amerikanerin handelt es sich um die Witwe und Alleinerbin des Gründers des internationalen Konzerns Spencer Hardy Holdings in Houston/Texas, deren Tochtergesellschaft Ethical Outcomes Inc sie leitet. Jay Crispin ist ihr ranghöchster Mitarbeiter. Er stammt aus einer vornehmen anglo-amerikanischen Familie, absolvierte Sandhurst und quittierte im Alter von 40 Jahren den Militärdienst.
Kurz darauf kündigt Quinn ein streng geheimes Treffen in seinem Büro an. Er selbst habe den Sicherheitsdienst angewiesen, zur fraglichen Zeit alle Wachen abzuziehen und die Kameras auszuschalten, erklärt er seinem persönlichen Referenten. Toby erhält den Auftrag, kurz vor dem Termin zu überprüfen, ob die Anweisungen befolgt wurden.
Nachdem er das getan hat, schaltet er das Tonbandgerät in seinem Schreibtisch ein, das vor langer Zeit eingebaut wurde, um wichtige Gespräche des Ministers in seinem Büro aufzeichnen zu können. Die Mikrofone sind in den Wandpaneelen versteckt. Am nächsten Tag nimmt Toby die Tonbandspule mit nach Hause und kauft sich ein Gerät, mit dem sich die Aufnahme abspielen lässt.
Die geheimen Besucher des Ministers benützten die Namen Jeb und Paul Anderson. Das Gespräch drehte sich um einen geplanten Einsatz in Gibraltar, bei dem Jeb ein geheimes Kommando zur Entführung eines Terroristen („High Value Target“) leiten und Paul direkten Telefonkontakt mit dem Minister halten soll. An der Aktion wird parallel auch eine amerikanische Einheit beteiligt sein, und zwar unter dem Kommando eines Südafrikaners namens Elliot, der für Ethical Outcomes arbeitet und Jay Crispin untersteht. Quinn sagt:
Notwendigerweise werdet ihr inkognito dort sein, ohne Wissen der Behörden vor Ort, unter Einhaltung strengster Sicherheitsauflagen. Ebenso Paul. Ihr führt euren Auftrag aus, indem ihr euch dem HVT strikt von der Landseite nähert, während zeitgleich eure nichtbritische Schwestereinheit vom Meer her vorrückt – in britische Hoheitsgewässer, wohlgemerkt, was immer die Spanier anderes sagen mögen. Sollte diese nichtbritische Einheit aus eigenem Antrieb dafür optieren, das Ziel aus dem Zuständigkeitsbereich, sprich, aus den britischen Hoheitsgewässern zu exfiltrieren, werden weder Sie persönlich noch irgendein Mitglied Ihres Teams mit diesem Akt etwas zu tun haben. […] ihr seid eine Bodeneinheit, die ihrer Aufgabe, souveränes britisches Territorium zu schützen und zu verteidigen, auf eine nach internationalem Recht absolut legale und unangreifbare Art und Weise nachkommt, und ihr tragt keinerlei Verantwortung für den Ausgang der Operation […] überlasst alles Übrige Elliot und seiner Truppe, und ihr seid rechtlich auf der sicheren Seite.
Nachdem Toby das Band abgehört hat, setzt er sich mit seinem 55-jährigen Mentor Giles Oakley in Verbindung und berichtet ihm, was er herausgefunden hat, ohne die Bandaufnahme zu erwähnen. Oakley meint sogleich:
„Es gab nie etwas, und es wird nie etwas geben, abgesehen von den Fantasien Ihres überhitzten Hirns.“
„Über was für Material Sie auch zu verfügen meinen – hysterischer, anekdotischer, elektronischer Natur, ich will’s gar nicht wissen –, vernichten Sie es, bevor es Sie vernichtet.“
Bevor Toby das Tonband zerschneidet und verbrennt, zeichnet er die Aufnahme digital auf. Fünf Tage nachdem er sich Giles Oakley anvertraute, wird er überraschend nach Beirut versetzt. Ebenso unvermittelt zieht Fergus Quinn sich aus der Politik zurück und wird rüstungspolitischer Berater eines Emirats.
Zwei Jahre später zieht Sir Christopher („Kit“) Probyn, der von der Königin in den Adelsstand erhobene und jetzt pensionierte Hochkommissar einer Gruppe von Karibikinseln, mit seiner kranken Frau in das Dorf St. Pirran an der Küste Nord-Cornwalls. Dort hat Suzanna Probyn einen Gutshof geerbt. Emily Probyn, die einzige Tochter des Paares, praktiziert als Ärztin in einem Londoner Krankenhaus.
Während eines Dorffestes auf dem Bailey’s Green im Jahr darauf, bei dem Kit Probyn als Narrenbischof autritt, fällt ihm ein Campingbus mit der Aufschrift „Jebs Lederwaren“ auf. Der Fahrer starrt ihn an, und auch Kit erkennt ihn: Jeb, der Leiter des Einsatzes in Gibraltar vor drei Jahren! Weil Kits Name über Lautsprecher durchgegeben wird, weiß Jeb nun, wie „Paul Anderson“ in Wirklichkeit heißt. Nichts ahnend, kauft Suzanna eine Umhängetasche von Jeb. Als sie später die Quittung liest, erschrickt sie. Da steht:
Für eine getötete Mutter: nichts
Für ein getötetes Kind: nichts
Für einen Soldaten, der seine Pflicht getan hat: das Aus
Für Paul: der Ritterschlag
Was bedeutet das? Kit erklärt seiner Frau, das beziehe sich auf eine streng geheime Aktion in der Vergangenheit, über die er ihr nichts sagen könne. Sie hätte gar nichts davon erfahren dürfen.
Kit flog damals im Auftrag des Staatsministers Fergus Quinn als „Paul Anderson“ nach Gibraltar und berichtete ihm live am Telefon von der Operation, die vor seinen Augen ablief. Eine Frau, die sich Kirsty nannte, hatte ihn nachts zum Versteck eines britischen Spezialkommandos gebracht, dem außer dem Anführer Jeb drei Männer angehörten: Don, Andy und Shorty. Sie sollten mit einem sich vom Wasser her nähernden amerikanisches Kommando bei der Ergreifung eines Terroristen mit Decknamen Punter zusammenarbeiten, der, so lauteten die Instruktionen, ein Treffen mit dem Waffenhändler Aladin vereinbart hatte. Kit sah acht Amerikaner aus einem Schlauchboot steigen. Dann war die hochmoderne Kommunikation gestört. Quinn drängte am Telefon zum Eingreifen der Briten. Den Ausgang der Operation erlebte Kit nicht mehr mit, denn er wurde von Kirsty abgeholt, die ihm versicherte, dass alles erfolgreich verlaufen sei.
Suzanna will wissen, ob bei einer Aktion, an der ihr Mann beteiligt war, eine Mutter und ein Kind umkamen. In seiner Not ruft Kit Ethical Outcomes an und hinterlässt eine Nachricht. Jay Crispin meldet sich daraufhin bei ihm, und sie verabreden sich in London. Dort zeigt Kit dem Amerikaner den Zettel, den seine Frau von Jeb bekam und fragt ihn, was er davon halte. Crispin versichert ihm, bei der Operation „Wildlife“ habe es keine Verluste gegeben und es sei kein Tropfen Blut geflossen. Jeb leide vermutlich an einer posttraumatischen Belastungsstörung und sei Wahnvorstellungen erlegen.
Als Kit von der Unterredung mit Crispin in sein Zimmer im Connaught Hotel zurückkommt, wartet Jeb dort auf ihn. Der Einsatzleiter von damals behauptet, Punter sei gar nicht in Gibraltar gewesen, und Aladin habe denn auch keine Verabredung mit ihm gehabt. Quinn sei von Ethical Outcomes hereingelegt worden. Als Jeb mit seinen Männern die drei fraglichen Häuser durchsuchte, stießen sie auf sechs Mitarbeiter von Ethical Outcomes, eine tote junge Frau und ihr ebenfalls totes Kind. Weil die Muslima – vermutlich eine Illegale aus Marokko, die in dem leer stehenden Haus Unterschlupf gesucht hatte – ihr Kind unter dem Hidschab versteckt hatte, war sie für eine Selbstmordattentäterin mit Sprenggürtel gehalten und erschossen worden. Die fehlgeschlagene Operation „Wildlife“ wurde dann nicht nur von den Amerikanern, sondern auch von den Briten vertuscht.
Kit findet heraus, dass Toby Bell zur Zeit der Operation „Wildlife“ persönlicher Referent des Staatsministers Fergus Quinn war. Er schickt ihm deshalb konspirativ eine Nachricht und bittet ihn um einen Besuch in St. Pirran. Weil Kit den Namen Paul erwähnt, ahnt Toby, worum es geht. Neugierig fährt er nach Cornwall. Als er seinem Gastgeber unter vier Augen gesteht, das Gespräch im Büro des Ministers vor drei Jahren heimlich aufgenommen zu haben, ist der rechtschaffene ältere Herr fassungslos. Dennoch berichtet er seinem Besucher, was er von Jeb erfuhr und dass er und Jeb vorhatten, einen Zeugenbericht über die Operation „Wildlife“ zu schreiben. Zu diesem Zweck wollte Jeb nach St. Pirran kommen. Aber er versetzte Kit, und dann rief eine Frau an, die sich als „Dr. Costello“ aus der psychiatrischen Abteilung des Ruislip General Hospital ausgab und behauptete, Jeb habe sich aus eigenem Antrieb aufnehmen lassen; er leide unter Schizophrenie. Ein Kontrollanruf im Krankenhaus ergab, dass es weder eine Ärztin Costello noch einen Patienten mit Vornamen Jeb gab. Kit möchte nun, dass Toby nach dem Vermissten sucht.
Zum Glück notierte Emily Probyn das Kennzeichen des Busses, mit dem Jeb unterwegs war. Toby lässt sich von einem Freund namens Charlie Wilkins den Namen und die Adresse des Fahrzeughalters besorgen und fährt hin. Er trifft auf Brigid Owens und sagt ihr, ihr Mann David Jebediah Owens sei mit „Paul“ verabredet gewesen und nicht erschienen. Paul mache sich deshalb Sorgen und habe ihn gebeten vorbeizuschauen. Harry, der offenbar seit einiger Zeit mit Brigid Owens zusammenlebt, teilt Toby mit, dass Jeb sich erschossen habe. In seinem bei Glastonbury geparkten Bus jagte der 34-Jährige sich eine Kugel in den Kopf. Der Leichnam wurde bereits eingeäschert. Die Polizei kam zu dem Schluss, dass es sich um einen Selbstmord handelte, vermutlich aufgrund einer posttraumatischen Belastungsstörung. Der Frage, wieso der Linkshänder die Waffe mit der rechten Hand abgefeuert habe, gingen die Ermittler nicht weiter nach. Brigid, die selbst als Polizistin gearbeitet hatte, ist sich sicher, dass ihr Haus professionell durchsucht wurde, während sie und Harry bei der Trauerfeier im Krematorium waren. Aber zwei Fotos, die Toby von seinem Freund Shorty Pike bekommen hatte, blieben unentdeckt. Brigid zeigt Toby die Aufnahmen, auf denen eine tote Muslima und ihr ebenfalls totes Kind zu erkennen sind. Toby kopiert die Bilder mit dem Handy. Dass Jeb sich das Leben nahm, kann Brigid sich nicht vorstellen, denn nur wenige Stunden bevor er tot aufgefunden wurde, hatte er sie angerufen und war so optimistisch wie schon lange nicht mehr gewesen. Er hatte vor, zu ihr und dem Sohn Danny zurückzukehren.
Um an Shorty Pike heranzukommen, gibt Toby sich als Journalist Pete Andrews vom South Wales Argus aus und erklärt, er wolle den besten Freund des Selbstmörders interviewen.
Bevor er zu der Verabredung geht, kopiert er die Datei mit der Aufzeichnung des Gesprächs vor drei Jahren in Quinns Büro vom PC auf zwei weitere USB-Sticks – einer klebt bereits auf der Rückseite des Hochzeitsfotos seiner Großeltern –, baut die Festplatte aus und schickt sie seiner Tante Ruby, einer Anwältin in Derbyshire. Auf einen der Datenträger klebt er ein altes Etikett mit der Aufschrift „Abschlussparty Bristol“; dann wirft er ihn in eine mit CDs, Fotos, Briefen und anderen USB-Sticks gefüllte Schublade.
Inzwischen fährt Kit mit dem Dokument, das er mit Jeb zusammen fertigstellen wollte, nach London. Weil Jeb seinen Teil nicht mehr hinzufügen konnte, enthält das Papier nur Kits Zeugenbericht über die Operation Wildlife. Im Foreign Office möchte er den Staatssekretär bzw. geschäftsführenden Direktor sprechen. Nach einer Weile kommt Molly Cranmore zu ihm, die er von früher kennt. Sie kümmere sich jetzt um Ehemalige, die Hilfe benötigen, erklärt sie. Der geschäftsführende Direktor sei in Afrika unterwegs. Sie bringt ihn schließlich zu Asif Lancaster aus dem Büro des geschäftsführenden Direktors, und dieser arrangiert eine Besprechung mit der Sicherheitschefin und dem stellvertretenden Leiter der Rechtsabteilung. Man versichert Kit, dass man die fraglichen Vorgänge in einer sorgfältigen internen Untersuchung aufgeklärt und Fergus Quinn sich aufgrund des Ergebnisses aus der Politik zurückgezogen habe. Was Kit mit dem Dokument vorgehabt habe, fragt die Sicherheitschefin streng. Sie weist darauf hin, dass ihm vor drei Jahren in Gibraltar nichts aufgefallen sei. Alles, was er nun behaupte, habe er zwischen 23 Uhr und 5 Uhr von David Jebediah Owens in einem Hotelzimmer gehört. Wie viel er in dieser Nacht getrunken habe, fragt sie. Kit fährt sie und den Juristen an:
„Hören Sie, Sie alle beide. Nehmen Sie nicht mich ins Verhör. Verhören Sie Crispin. Verhören Sie Elliot. Halten Sie sich an die Amerikaner. Machen Sie diese angebliche Ärztin ausfindig, die behauptet hat, Jeb wäre verrückt geworden, als er in Wahrheit schon tot war. […] Und halten Sie gefälligst eine öffentliche Untersuchung ab. Identifizieren Sie diese arme Frau und ihr Kind und zahlen Sie der Familie eine Entschädigung! Und wenn das erledigt ist, finden Sie heraus, wer Jeb umgebracht hat, einen Tag bevor er meinen Bericht mit unterschreiben und seinen eigenen dranhängen konnte.“
Die Sicherheitschefin und der Vertreter der Rechtsabteilung bleiben ruhig. Sie drohen ihm mit strafrechtlichen Ermittlungen, und zwar in einem geheimen Verfahren. Am Ende meint die Sicherheitschefin:
„Ihr Dokument verbleibt derweil bei unseren Akten, wo wir es hoffentlich nie gegen Sie werden verwenden müssen.“
Am selben Abend wird Toby von Giles Oakley, der inzwischen aus dem diplomatischen Dienst ausschied und nun als Senior Vice President einer Bank tätig ist, zu einem Besuch aufgefordert. Oakley will ihm einschärfen, dass es die Operation nie gegeben habe, aber Toby protestiert:
„Wildlife wurde sehr wohl exekutiert. Und ein paar unschuldige Menschen gleich mit. Das wissen Sie so gut wie ich.“
„Ob Sie oder ich es wissen, darum geht es nicht. Es geht darum, ob die Welt es weiß und ob sie es wissen sollte. Und die Antwort auf beide Fragen, mein Lieber […] ist ein ganz entschiedenes Nein.“„Überlegen Sie doch, Toby: ein Haufen amerikanischer Söldner, verstärkt durch eine getarnte britische Spezialeinheit und finanziert von republikanischen Fundamentalisten.“
Als Toby berichtet, warum das polizeiliche Ermittlungsergebnis, Jeb habe sich selbst erschossen, nicht glaubwürdig ist, kommt Oakley ins Grübeln. Davon wusste er nichts.
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.
Am nächsten Tag trifft Toby sich, wie verabredet, mit Shorty Pike in einem Café. Als er mehrmals einen muskulösen Mann vorbeigehen sieht, ahnt er, dass er dabei ist, in eine Falle zu tappen. Aber sein Verlangen, die anrüchige Angelegenheit aufzuklären, ist größer als seine Furcht. Shorty schlägt ihm vor, das Interview nicht im Café zu führen und geht mit ihm zu einem geparkten Wagen. Shorty drängt Toby, hinten einzusteigen. Im nächsten Augenblick setzt sich der Mann, der Toby bereits auffiel, hinters Lenkrad und stellt sich als Elliot vor.
Sie fahren zum Castle Keep in St. John’s Wood. Dort wird Toby von Jay Crispin empfangen. Ethical Outcomes existiert nicht mehr. Crispin arbeitet jetzt für Rosethorne Protection Services und erklärt seinem Besucher stolz, dass das internationale Unternehmen 600 Niederlassungen habe und außer einigen anderen hochkarätigen Leuten fünf Leiter ausländischer Geheimdienste dazu gehörten, davon vier noch im Amt. Crispin weiß, dass Toby sowohl mit Kit Probyn als auch mit Brigid Owens sprach. Und er spielt einen kurzen Ausschnitt aus dem heimlichen Tonbandmitschnitt vor. Toby ahnt, dass die Portugiesin Tina, die für seine Putzfrau Lula einsprang, eine Agentin war und den USB-Stick hinter dem Hochzeitsfoto seiner Großeltern entdeckte. Jay Crispin bietet ihm einen hochbezahlten Job an. Das zeigt Toby, dass man ihn unter allen Umständen davon abhalten will, sein Wissen zu publizieren. Er lehnt das Angebot ab und verlässt unbehelligt das Schloss.
In seiner Wohnung im Londoner Stadtteil Islington wird er jedoch überfallen und zusammengeschlagen. Als er zu sich kommt, hämmert Emily Probyn an seine Türe. Mit Mühe robbt er hin und öffnet. Die Ärztin versorgt seine Verletzungen so gut es geht. Ins Krankenhaus will er nicht, und die Polizei zu verständigen, hält er für zwecklos. Während Emily noch bei ihm ist, wird ein Päckchen abgegeben. Giles Oakley schickt Toby eine Fotokopie einer Geheimakte aus dem Foreign Office über die Operation Wildlife und teilt ihm mit, er werde sich längere Zeit im Ausland aufhalten.
Toby entgeht nicht, dass vor dem Haus drei Männer vom Pannendienst viel zu lange mit einem Radwechsel beschäftigt sind.
Aber er lässt sich von Emily den USB-Stick mit der Aufschrift „Abschlussparty Bristol“ heraussuchen und besteht darauf, dass sie ihm hilft, sich zu einem Internet Café in der Nähe zu schleppen. Weil er zu stark zittert, schiebt sie für ihn den USB-Stick ein. Während bereits die Sirenen sich nähernder Polizeifahrzeuge zu hören sind, schicken sie die Dateien an die Presse und das Fernsehen.
In dem Roman „Empfindliche Wahrheit“ beschäftigt sich John le Carré (1931 – 2020) mit einem Dilemma der Regierungen in der westlichen Welt, das sich durch die Terroranschläge vom 11. September 2001 verschärfte: Einerseits sollen die Bürger geschützt und der Rechtsstaat gesichert werden, aber dabei glauben vor allem die Geheimdienste, dass sie einen Überwachungsstaat einrichten müssten. Und damit untergraben sie Werte, die sie eigentlich verteidigen wollen. Es geht in „Empfindliche Wahrheit“ auch um die Frage, wie weit die Geheimhaltung der Maßnahmen gehen darf und ob Whistleblower der Gesellschaft einen Dienst erweisen oder nicht. Das Thema ist brisant und hochaktuell, obwohl John le Carré das Manuskript abgeschlossen hatte, bevor der Amerikaner Edward Snowden (* 1983) im Juni 2013 anfing, die Öffentlichkeit über die weltweiten Überwachungs- und Spionagepraktiken der National Security Agency zu informieren und einen Skandal lostrat (globale Überwachungs- und Spionageaffäre).
Mit „Empfindliche Wahrheit“ kritisiert John le Carré zugleich Tony Blair, weil dieser in dem von George W. Bush proklamierten „Krieg gegen den Terror“ und den damit verbundenen Täuschungen der Öffentlichkeit bedingungslos mitmachte.
Im ersten Kapitel schildert John le Carré den Ablauf der Geheimoperation „Wildlife“ in Gibraltar aus der Sicht eines Beteiligten mit dem Decknamen Paul Anderson. Das könnte den Eindruck erwecken, dass es sich bei „Empfindliche Wahrheit“ um einen Actionthriller handelt. Das wäre falsch, denn von da an erzählt John le Carré in zwei sich rasch verknüpfenden Handlungssträngen von Sir Christopher Probyn alias Paul Anderson und dem Beamten Toby Bell, der dem Verdacht nachgeht, dass ein britischer Minister heimlich mit einem amerikanischen Sicherheitsunternehmen eine Geheimoperation gegen einen islamistischen Terroristen ausgeheckt habe. Und dabei setzt John le Carré weder auf Action noch auf Effekte, sondern auf die Tragik der Ereignisse und spannende Ermittlungen.
Ob die Übersetzung des Wortes „delicate“ im Titel mit „empfindlich“ gelungen ist? Darüber wird es geteilte Meinungen geben. Auf jeden Fall handelt sich bei „Delicate Truth“ / „Empfindliche Wahrheit“ um eine packende, unterhaltsame Lektüre.
Den Roman „Empfindliche Wahrheit“ von John le Carré gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Matthias Brandt (Regie: Margrit Osterwold, Hamburg 2013, 675 Minuten, ISBN 978-3-89903-881-1).
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2014
Textauszüge: © Ullstein Buchverlage
John le Carré (Kurzbiografie)
John le Carré: Der Spion, der aus der Kälte kam (Verfilmung)
John le Carré: Dame, König, As, Spion (Verfilmung)
John le Carré: Die Libelle
John le Carré: Das Russland-Haus (Verfilmung)
John le Carré: Der Schneider von Panama (Verfilmung)
John le Carré: Der ewige Gärtner (Verfilmung)
John le Carré: Federball
John le Carré: Silverview