Günter Grass : Katz und Maus
Inhaltsangabe
Kritik
… und einmal, als Mahlke schon schwimmen konnte, lagen wir neben dem Schlagballfeld im Gras. Ich hätte zum Zahnarzt gehen sollen, aber sie ließen mich nicht, weil ich als Tickspieler schwer zu ersetzen war. Mein Zahn lärmte. Eine Katze strich diagonal durch die Wiese und wurde nicht beworfen. Einige kauten oder zupften Halme. Die Katze gehörte dem Platzverwalter und war schwarz. Hotten Sonntag rieb sein Schlagholz mit einem Wollstrumpf. Mein Zahn trat auf der Stelle. Das Turnier dauerte schon zwei Stunden. Wir hatten hoch verloren und warteten nun auf das Gegenspiel. Jung war die Katze, aber kein Kätzchen. Im Stadion wurden oft und wechselseitig Handballtore geworfen. Mein Zahn wiederholte ein einziges Wort. Auf der Aschenbahn übten Hundertmeterläufer das Starten oder waren nervös. Die Katze machte Umwege. Über den Himmel kroch langsam und laut ein dreimotoriges Flugzeug, konnte aber meinen Zahn nicht übertönen. Die schwarze Katze des Platzverwalters zeigte hinter Grashalmen ein weißes Lätzchen. Mahlke schlief. Das Krematorium zwischen den Vereinigten Friedhöfen und der Technischen Hochschule arbeitete bei Ostwind. Studienrat Mallenbrandt pfiff: Wechsel Fangball Übergetreten. Die Katze übte. Mahlke schlief oder sah so aus. Neben ihm hatte ich Zahnschmerzen. Die Katze kam übend näher. Mahlkes Adamsapfel fiel auf, weil er groß war, immer in Bewegung und einen Schatten warf. Des Platzverwalters schwarze Katze spannte sich zwischen mir und Mahlke zum Sprung. Wir bildeten ein Dreieck. Mein Zahn schwieg, trat nicht mehr auf der Stelle: denn Mahlkes Adamsapfel wurde der Katze zur Maus. So jung war die Katze, so beweglich Mahlkes Artikel – jedenfalls sprang sie Mahlke an die Gurgel; oder einer von uns griff die Katze und setzte sie Mahlke an den Hals; oder ich, mit wie ohne Zahnschmerz, packte die Katze, zeigte ihr Mahlkes Maus: und Joachim Mahlke schrie, trug aber nur unbedeutende Kratzer davon. (Seite 5f)
So beginnt die Novelle „Katz und Maus“. Pilenz, der Ich-Erzähler, erinnert sich 1959 an die Kriegsjahre in Danzig. Weil er Mahlke und die anderen durch die Sache mit der Katze auf den übergroßen Adamsapfel aufmerksam gemacht und damit eine verhängnisvolle Entwicklung ausgelöst hatte, fühlt er sich verpflichtet Joachim Mahlkes Geschichte zu berichten.
Joachim Mahlke wurde kurz nach Kriegsbeginn vierzehn. Sein Vater, ein Lokomotivführer, war bei einem Zugunglück ums Leben gekommen. Seine Mutter und ihre ältere Schwester, die für ihn sorgten, schickten ihn ein Jahr verspätet zur Schule, weil er schwach und kränklich war. Aus demselben Grund blieb er auch vom Turnunterricht befreit. Seine anderen schulischen Leistungen waren gut, ohne dass man ihn einen Streber hätte nennen können. Mahlke ließ jeden abschreiben. Allerdings zeigte er eine „auffallende Abscheu vor den üblichen Sauereien der Tertianer“ und entfernte beispielsweise einmal ein benütztes Kondom vom Türgriff, bevor der halb blinde Studienrat Treuge es versehentlich anfassen konnte. Seinen Mittelscheitel fixierte er mit Zuckerwasser. Wenn ihn jemand fragte, was er werden wolle, sagte er: Zirkusclown.
Durch die spielerische Attacke der Katze wurde sich Mahlke seines enormen Kehlkopfes bewusst. Da lernte er plötzlich schwimmen und bat eine Gruppe von Mitschülern darum, mit ihnen zu dem im Jahr zuvor im flachen Wasser der Danziger Bucht außerhalb der Fahrrinne gesunkenen polnischen Minensuchboot der Czaika-Klasse hinausschwimmen zu dürfen. Und bald schon war er nicht nur der schnellste Schwimmer, sondern auch der ausdauerndste Taucher. Während die anderen auf dem mit Möwenmist verkrusteten Wrack in der Sonne lagen und sich ausruhten, holte er immer noch Gegenstände aus dem Schiff herauf, so zum Beispiel ein silbernes Kettchen mit einem Marien-Medaillon. Das hängte er sich um den Hals und dazu auch einen Schraubenzieher, den er benötigte, um unter Wasser Sachen abschrauben zu können. Das Medaillon und der Schraubenzieher lenkten von seinem außergewöhnlichen Adamsapfel ab.
Mahlke schwärmte zwar für die Jungfrau Maria, aber mit Mädchen war „nicht viel bei ihm los“. Als Pilenz‘ Cousinen aus Berlin kamen, guckte er sie an „wie ein Fisch“. Er machte auch nicht mit, wenn Tulla Pokriefke die anderen Schüler auf dem Wrack zum Masturbieren aufforderte. Tulla war „ein Spirkel mit Strichbeinen, hätte genauso gut ein Junge sein können“ (Seite 30); „sie bestand aus Haut, Knochen und Neugierde“ (Seite 31). Mit aufgestütztem Kinn schaute sie zu, wenn einer der Jungen die Badehose herunterzog und masturbierte. „Mensch, das dauert aber“, kommentierte sie, wenn sie zu lang warten musste, bis sie das auf den Möwenmist gespritzte Ejakulat mit dem großen Zeh verrühren konnte. Schließlich ließ Mahlke sich doch noch von ihr überreden. „Einige kurze Bewegungen aus dem rechten Handgelenk heraus“ (Seite 32), und es zeigte sich, dass er von allen Jungen den größten Penis hatte. Darüber hinaus konnte er als Einziger zweimal unmittelbar hintereinander ejakulieren.
Zufällig entdeckte Mahlke bei einem seiner Tauchgänge den Zugang zur ehemaligen Funkerkabine, die über dem Wasserspiegel lag. Dorthin brachte er einige seiner Sachen, darunter ein früher heraufgetauchtes und repariertes Grammophon, auf dem er Platten abspielte. Die Kabine beanspruchte er für sich allein. Niemand durfte ihm dorthin folgen. Die anderen Jungen hörten nur die Musik aus dem Inneren des Schiffs.
Ein ehemaliger Schüler des Conradinums – so hieß das von den Jungen besuchte Gymnasium in Danzig –, der hier 1934 das Abitur gemacht hatte und inzwischen Kapitänleutnant und U-Boot-Kommandant geworden war, verherrlichte in einem Vortrag in der Aula den Krieg. An seinem Hals baumelte ein Eisernes Kreuz. Nach seinen Ausführungen nahm er an einer Turnstunde teil. Und als er sich danach wieder anzog, fehlte die Tapferkeitsauszeichnung. Mahlke wurde als Dieb überführt und zwangsweise zur Horst-Wessel-Oberschule (dem früheren Kronprinz-Wilhelm-Realgymnasium) versetzt.
Auch in den Sommerferien tauchte Mahlke nicht wieder auf: Er hatte sich nach dem Notabitur in ein Wehrertüchtigungslager gemeldet und kam anschließend zum Reichsarbeitsdienst.
Klaus, der ältere Bruder des Erzählers, fiel inzwischen an der Front. Während sein Vater Feldpostbriefe aus Griechenland schickte, ging seine Mutter mit wechselnden Männern „intime Verhältnisse“ ein.
Erst einige Zeit später sahen Pilenz und Mahlke sich wieder. Nun trug Mahlke ein Eisernes Kreuz am Hals, kein gestohlenes, sondern eines, das er für seine Tapferkeit verliehen bekommen hatte. Wie damals der U-Boot-Kommandant wollte er in der Aula des Conradinums einen Vortrag halten. Doch Oberstudienrat Klohse teilte ihm mit, dass man ihn wegen seiner früheren Verfehlung nicht auftreten lassen könne. Am Abend lauerte Mahlke dem Lehrer auf und ohrfeigte ihn.
Weil ihm trotz seiner Anstrengungen und seiner Anerkennung als Kriegsheld die Rehabilitierung versagt blieb, überzog er seinen Heimaturlaub und beschloss, nicht mehr zu seiner Einheit an die Front zurückzukehren. In seiner Kabine auf dem gesunkenen Minensuchboot wollte er sich verstecken. Während Pilenz Proviant für ihn besorgte, aß Mahlke unreife Stachelbeeren. Davon bekam er Magenkrämpfe und konnte nicht schwimmen. Pilenz musste ein Boot mieten und ihn zu dem Schiffsrwack rudern. Mahlke verschwand in dem Wrack und tauchte nicht wieder auf.
Als Pilenz nach Hause kam, lag sein Einberufungsbescheid auf dem Tisch.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Günter Grass hatte den Text ursprünglich unter der Überschrift „Der Ritterkreuzträger“ als Teil seines Romans „Hundejahre“ konzipiert. Aber am Ende veröffentlichte er ihn als separate Novelle mit dem Titel „Katz und Maus“. Sie bildet zusammen mit den Romanen „Die Blechtrommel“ und „Hundejahre“ die so genannten Danziger Trilogie.
Das Conradinum in Danzig gab es wirklich, und Günter Grass ging dort zur Schule. Die um 1900 gegründete höhere Lehranstalt trug den Namen des Stifters Karl Friderick Freiherr von Conradi (1742 – 1798).
Nicht der Ich-Erzähler steht in „Katz und Maus“ im Fokus, sondern dessen Mitschüler Joachim Mahlke. Als dieser sich seines übergroßen Adamsapfels und seiner Außenseiterrolle bewusst wird, tut er alles, um nicht nur von der Gemeinschaft aufgenommen, sondern auch als Held respektiert zu werden. Am Ende muss er jedoch einsehen, dass es ihm nichts gebracht hat. Er kommt nicht gegen die (durch die Katze symbolisierte) Gesellschaft an.
„Katz und Maus“ ist eine skurrile, sarkastische und teilweise deftig erzählte Novelle, in der Günter Grass jedoch nicht die Fabulierfreude, Brillanz und Sprachkunst seines ersten Romans – „Die Blechtrommel – erreicht.
Unmittelbar nach dem Erscheinen sollte das Buch wegen angeblich pornografischer Szenen (siehe oben) verboten werden.
Schockiert und fasziniert zugleich entdeckte die Öffentlichkeit Ende der Fünfzigerjahre, wie seit eh und je, Amoralität weniger in dem, was sich da bloßlegte, als bei dem, der es offenkundig machte. (Heinrich Vormweg: Günter Grass, Seite 62)
Das Verfahren wurde zwar eingestellt, aber nach der Verfilmung der literarischen Vorlage durch Hans Jürgen Pohland äußerte ein FDP-Abgeordneter 1967 in einer Fragestunde des Deutschen Bundestages Bedenken, ob nicht das Eiserne Kreuz in „Katz und Maus“ verunglimpft werde. (Anlässlich der Befreiungskriege stiftete König Friedrich Wilhelm III. von Preußen 1813 das Eiserne Kreuz. Der Tapferkeitsorden wurde 1870, 1914 und 1939 erneuert.)
Katz und Maus (1967) – Regie: Hans Jürgen Pohland – Drehbuch: Michael Hinz, Helmut Kircher, Hans Jürgen Pohland und Herbert Weissbach – Kamera: Petrus R. Schlömp und Wolf Wirth – Schnitt: Sabine Gail und Christa Pohland – Musik: Attila Zoller – Darsteller: Lars Brandt (Mahlke, jünger), Peter Brandt (Mahlke, älter), Claudia Bremer (Tulla), Wolfgang Neuss (Pilenz), Ingrid van Bergen, Michael Hinz, Herbert Weissbach, Helmut Kircher, Christof Arnold, Hans-Peter Brandes, Wolf-Ruediger Knoche, Klaus Langeheinecke, Mathias Wagner, Wolfgang Zeller
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005
Textauszüge: © Luchterhand Verlag
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