Günter Grass : Grimms Wörter
Inhaltsangabe
Kritik
In seinem Buch „Grimms Wörter. Eine Liebeserklärung“ erzählt Günter Grass nicht nur von der Entstehung des deutschen Wörterbuchs und aus dem Leben der Brüder Grimm, sondern auch von sich selbst. Und das alles vor dem Hintergrund der (Zeit-)Geschichte. Dabei springt er immer wieder zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert hin und her.
Sein [Jacob Grimms] Zeitalter, mein Zeitalter. Seines begann mit der Französischen Revolution, ging in Kriege und die Herrschaft Napoleons über, die seine Heimat Hessen im kurzlebigen Königreich Westphalen aufgehen ließ und ihn, weil im Dienst der Franzosen, abhängig machte. Dem folgte die öde Zeitspanne der Restauration, die Vertreibung aus Göttingen in die „unfreiwillige musze“ des Exils, sodann das Angebot der Verleger aus Leipzig, der Wechsel nach Berlin, wo ein backenbärtiger König ein wenig Hoffnung machte, bald aber landauf landab Stillstand befohlen wurde, doch immerhin europaweit das Zeitalter der Eisenbahn begann. Als im März achtundvierzig die ersehnte Freiheit erst zaghaft zu Wort kam, dann heftig aufflackerte, erlosch sie alsbald, nachdem sie zuvor schon in Frankfurt zerredet worden war. Danach blieb ihm nur sein rückwärts gewendetes Erforschen von Sprachdenkmälern, die verschüttet oder, weil verschandelt, kaum noch kenntlich zu machen waren […]
Mein Zeitalter hob an, als sich die Weimarer Republik gerade ein wenig von ihren chronischen Schwächeanfällen erholt hatte, dann aber um so schneller verfiel, worauf das Dritte Reich nur zwölf Jahre dauerte, doch Zeit genug ließ, jedweden und so auch mich mit einem Völkermord zu belasten, der, auf den Ortsnamen Auschwitz gebracht, für alle Zeit wie ein Kainsmal haftet. Danach lud der aus Trümmern gedeihende Wohlstand zum Vergessen ein. Zeitgleich folgten einander weit entfernt Kriege, die der Rüstungsindustrie Zugewinn brachten, nahmen Auto und Flugzeug der Eisenbahn reiselustige Kunden, wechselte die Mode, erlaubte die Pille Familienplanung, sollte Demokratie erlernt werden, schrieb ich Buch nach Buch, machte mir einen Namen, ergriff als Sozialdemokrat Partei, glaubte als Bürger den Sozialstaat gefestigt zu sehen und erlebe gegenwärtig, wie Korruption zunimmt, während Grundrechte schwinden, indem Freiheit zur Worthülse wird, sobald Reiche unverschämt reicher, Arme klaglos ärmer werden, sodass ich gegen Ende meiner Zeitweil mit Jacob Grimm erkenne: „je näher wir dem rande des grabes treten, desto ferner weichen von uns sollten scheu und bedenken, wie wir früher hatten, die erkannte wahrheit, da wo es an uns kommt, auch kühn zu bekennen.“Wie sich die Zeiten ablagern und durchsuppen. In jedem Danach liegt ein Davor begraben.
Auch mir, dem siebzehnjährigen Jungen, den Krieg und diktierter Glaube dummgehalten hatten, musste das Wort Demokratie mit seinen Verhaltensregeln in Lektionen eingepaukt werden. So erging es allen, denen eine demokratische Grundordnung, wie es lehrbuchhaft hieß, per Dekret verordnet wurde. Das taten gestreng die westlichen Sieger, die sich als von niemand zu bezweifelnde Demokraten gespiegelt sahen. Hingegen bestanden die östlichen Sieger darauf, dass sich in jenem Teil des Landes, der ihnen zugefallen war, der entstehende Staat unter dem vielversprechenden Titel Deutsche Demokratische Republik zu einer prinzipienstarren Diktatur entwickelte.
Ich überlebte zufällig. Und nach dem Abwurf von Atombomben auf zwei japanische Städte, einem weiteren Kriegsverbrechen, das jedoch nicht zählen durfte, weil von Siegern verübt, sollte endlich Frieden die Welt beglücken.
Bald begann aber der Kalte Krieg, den der heiße in Korea begleitete. Die Großmächte zettelten Stellvertreterkriege an […]
Zuviel geschah gleichzeitig. Kaum hatte sich mein Land, das kriegsbedingt vierzig Jahre lang geteilt war, auf dem Papier geeinigt, ging es fernab wieder einmal ums Öl, was zum Krieg führte, der wiederholt wurde. Golfkriege, in deren Verlauf ferngelenkte Raketen meistens trafen; was danebenging, wurde als Kollateralschaden verbucht.
Gegen diese Kriege sprach sich Ohnmacht in Protesten aus.
Günter Grass beginnt sein Buch mit der Schilderung, wie die „Göttinger Sieben“ – neben Jacob und Wilhelm Grimm waren das der Historiker Friedrich Christoph Dahlmann, der Orientalist Heinrich Ewald, der Literaturhistoriker Georg Gottfried Gervinus, der Staatsrechtler Wilhelm Eduard Albrecht und der Physiker Wilhelm Weber – in einer gemeinsamen Erklärung dagegen protestierten, dass König Ernst August II. von Hannover am 1. November 1837 das vier Jahre zuvor erlassene Grundgesetz seines Staates aufgehoben hatte. Die Professoren wurden deshalb am 11. Dezember ihrer Ämter enthoben. Jacob und Wilhelm Grimm gingen ins Exil nach Kassel, also nach Hessen. Bettina von Arnim, Alexander von Humboldt, Friedrich Carl von Savigny, Karl Lachmann und andere setzten sich dafür ein, dass König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen die Brüder Grimm am 2. November 1840 nach Berlin einlud, wo sie im Jahr darauf in die Akademie der Wissenschaften aufgenommen wurden.
1938 hatten Jacob und Wilhelm Grimm mit der Arbeit an ihrem deutschen Wörterbuch begonnen. Sie ergänzten sich, denn Wilhelm Grimm kam es vor allem auf den Klang der Wörter an, während Jacob Grimm die Herkunft der Wörter erforschte und sich mit grammatischen Fragen beschäftigte. Die beiden dachten, sie würden für die Arbeit zehn oder fünfzehn Jahre benötigen. Das erwies sich als kolossale Fehleinschätzung. Sie verzettelten sich im wahrsten Sinne des Wortes und sahen sich unerwartet mit der Uferlosigkeit des Unterfangens konfrontiert, alle deutschen Wörter seit Martin Luther zu erfassen.
Als Wilhelm Grimm am 16. Dezember 1859 einem Schlaganfall erlag, war das Wörterbuch gerade einmal bis zum Wort „Durst“ gediehen.
Dreiundsiebzig Jahre Frist waren Wilhelm gegeben worden. Nach Studium und eifrigem Märchensammeln, dem Erwecken alter Schriften wie der Kudrundichtung, des Hildebrandliedes und des Konrad von Würzburg, dem Beleben deutscher, irischer und dänischer Sagen, der Eddalieder und nach der Runenkunde und späteren Forschung zur Geschichte des Reims, die ihn vom Buchstaben D weit weggeführt hatte, nach wasnochallem bei krümmender Haltung und jahrelanger Beatmung staubhaltiger Bibliotheken und deren Verlust durch den Göttinger Vorfall, wollte er sich zwar anfangs begeistert jenem Teil des Wörterbuchs zuwenden, der mit dem hinweisenden Einsilber da anhebt, und schließlich über Dwal, was einst Narr bedeutet hat, auf einen dwalichten Menschen kommt, um mit dwatsch und einem Kleistzitat zu enden, das Tauschhandel mit Buchstaben treibt – „ein twatsches Kind! ihr sehts, gut, aber twatsch“ –, dann aber hinderten wechselnde Stimmungen Wilhelm Grimm, mit letzter Sorgfalt weiterhin unterm Joch des D zu frönen.
Jacob Grimm setzte die Realisierung des Projekts fort. Am 17. Februar 1860 bedankte sich der Leipziger Verleger Salomon Hirzel in einem Brief für die zur Korrektur fertige Einführung in den zweiten Band des Wörterbuchs. Allerdings ließ Jacob Grimm die Beschäftigung mit dem Zettelkasten mehrmals ruhen, um zwischendurch an „Weistümer“ weiterzuarbeiten oder Reden über Wilhelm Grimm und das Alter zu schreiben.
So lief es weiter: Lieferung nach Lieferung, Korrekturbogen nach Korrekturbogen. Im März zweiundsechzig ist er bei Finanzen bis finden, muss aber, weil ihm zu Wilhelms Nachlass und seinen „Weistümern“ immer neue Anordnungen notwendig werden, in einem Brief an Hirzel von einem Unfall berichten, der Jacobs Umgang mit Büchern gemäß ist: „bei einrichtung meiner bibliothek fiel ich rücklings von einer leiter und wider einen schrank. das gab ein loch in den kopf mit heftigem blutverlust, weil eine pulsader durchschnitten war: der schädel konnte verletzt sein, was sich hernach nicht gezeigt hat “
Als letzten Beitrag für das Wörterbuch verfasste Jacob Grimm den über das Wort „Frucht“. Am 20. September 1863 starb er.
Auch nach dem Tod der beiden Initiatoren des Wörterbuchs hörten die Bemühungen nicht auf, es fertigzustellen. Aber der vierte Band (F), der letzte, der noch Beiträge von Jacob Grimm enthielt, erschien erst fünfzehn Jahre nach seinem Tod. Und vorläufig abgeschlossen wurde das Projekt nicht eher als im Jahr 1961 mit dem 32. Band.
Und weiterhin spuckte die deutsche Chronik zeitraffend Daten aus: Während vom Buchstaben F zum letzten dem G angehörigen Wort annähernd ein Jahrhundert verging, über dessen Verlauf Dutzende Wörterklauber, Stichwortbetreuer und Zitatenfahnder wegstarben, der Verlag aber weiterhin Hirzel hieß, veränderten zwei weltumfassende Kriege beinahe alles und doch nicht genug, schwand Bismarcks Kaiserreich, ließ aber seine Beamten zurück, scheiterte eine Revolution an sich selbst, verkam elend die Weimarer Republik, hielten die Schrecken des Tausendjährigen Reiches zwar nur zwölf Jahre lang an, blieben aber spürbar bis heute, und entpuppten sich aus den Trümmern des Reiches zwei deutsche Staaten, die jeweils entschieden anders sein wollten, weshalb sie nichts Gemeinsames erlaubten außer der lautlosen, weil stillschweigend nur Papier bewegenden Arbeit einiger in Ost und West tätiger Stubenhocker am immer noch nicht vollendeten Grimmschen Wörterbuch, zu der die letzten Eintragungen zum G, alles zum S und zum T, ferner zu den Buchstaben V und W, vorauseilend zum Z gehörten: Z wie Zeit. Wortwörtlich ging es weiter, bis nichts mehr fehlte oder zu fehlen schien.
Zwischendurch erzählt Günter Grass, wie gesagt, aus seinem eigenen Leben, weniger dem des Schriftstellers als dem des politisch engagierten Staatsbürgers. Dabei verknüpft er die beiden Zeitebenen vorwiegend assoziativ:
Zusätzliche Wörter wie Arbeitsamt, neuerdings Arbeitsagentur, Arbeitgeber und folgerichtig arbeitslos rufen einerseits jugendliche Erfahrung in Erinnerung, als gegen Kriegsende beim Reichsarbeitsdient der Spaten als Arbeitsgerät im Verlauf militärischer Ausbildung vom Karabiner 98 abgelöst wurde, und bringen mir andererseits meine aus Bürgersinn nicht enden wollende Tätigkeit in der politisch betriebenen Tretmühle nahe.
Günter Grass erinnert sich, wie und warum er begann, sich in die Politik einzumischen:
Eigentlich hätte ich nicht dabei sein sollen, als Hans Werner Richter als Leiter und Herbergsvater der legendären Gruppe 47 ein gutes Dutzend Schriftsteller ins Schöneberger Rathaus führte, wo uns – Ende August oder Anfang September einundsechzig – Berlins Regierender Bürgermeister empfing. Richter befand, ich sei zu anarchistisch und seit dem Erscheinen meines Erstlingsromans „Die Blechtrommel“ als Bürgerschreck zu berüchtigt, um für ein Treffen mit Brandt tauglich zu sein […]
Mich aber hatte eine Rede des Bundeskanzlers Konrad Adenauer, gehalten in Regensburg, in der er seinen Gegenkandidaten als uneheliches Kind verlästerte und dessen Überleben als Emigrant in Verruf zu bringen versucht hatte, aufs politische Gleis gebracht.
Dieser Rufmord aus allerchristlichstem Mund war nicht hinzunehmen. Also wollte ich, der schnauzbärtige Kaschube und Außenseiter, dabei sein, als das gute Dutzend empfangen wurde.
1965 trat Willy Brandt zum zweiten Mal für die SPD als Kanzlerkandidat an. Günter Grass engagierte sich für ihn im Wahlkampf. In Cloppenburg bewarfen ihn politische Gegner deshalb mit Eiern, und die Tür seines Hauses in Friedenau wurde mit einem Molotow-Cocktail in Brand gesetzt.
In Zeitungskommentaren stand tagsdrauf, mein in Wahlkampfreden ausgesprochener Verzicht auf die ehemals deutschen Ostprovinzen, mithin die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze habe einen „Dummejungenstreich“ provoziert.
Verschrien als Rechthaber, Besserwisser, Moralapostel sehe ich mich, bespuckt und verhöhnt und missachtet, wie vormals der biblische Sündenbock, der belastet mit der Menschenkinder schuldhaftem Tun in die Wüste geschickt wurde, wo gut predigen ist.
Bei der Bundestagswahl am 19. September 1965 bekam die SPD zwar die meisten Stimmen, aber Bundeskanzler Ludwig Erhard konnte in einer Koalition mit der FDP weiterregieren – bis ihn die FDP im Jahr darauf zu Fall brachte und das frühere NSDAP-Mitglied Kurt Georg Kiesinger am 10. November 1966 zum Nachfolger gewählt wurde. Dem neuen Bundeskanzler schrieb Günter Grass in einem offenen Brief:
Ich frage Sie: Wie soll die Jugend in diesem Land jener Partei von vorgestern, die heute als NPD auferstehen kann, mit Argumenten begegnen können, wenn Sie das Amt des Bundeskanzlers mit Ihrer immer noch schwerwiegenden Vergangenheit belasten? Wie sollen wir der gefolterten, ermordeten Widerstandskämpfer, wie sollen wir der Toten von Auschwitz und Treblinka gedenken, wenn Sie, der Mitläufer von damals, es wagen, heute hier die Richtlinien der Politik zu bestimmen?
Günter Grass erzählt in „Grimms Wörter“ von einem Berliner Polizisten, der ihm am Signiertisch sagte, er habe seinen Dienst quittiert, weil er es nicht länger mit ansehen konnte, wie Karl-Heinz Kurras von seinen Kollegen gedeckt wurde, nachdem er bei einem Polizeieinsatz gegen Demonstranten in West-Berlin am 2. Juni 1967 den Studenten Benno Ohnesorg aus nächster Nähe erschossen hatte.
Am 30. April 1971 löste Günter Grass einen Skandal aus, als er Heinar Kipphardt, den Chefdramaturgen der Münchner Kammerspiele, in der Süddeutschen Zeitung als Hexenjäger bezeichnete, weil dieser im Programmheft zu dem von Wolf Biermann aus dem Russischen ins Deutsche übersetzten Drachentöter-Stück „Der Dra-Dra“ lieber zwei Seiten frei ließ, als Passfotos von vierundzwanzig Politikern, kirchlichen Würdenträgern und Führungskräften der Wirtschaft zu drucken, die als „Drachenbrut“ im Sinne des Theaterstücks hätten herhalten sollen.
Am 18. Juni 1988 trafen sich Vertreter der Schriftstellerverbände beider deutscher Staaten – darunter Günter Grass – im Schriftstellererholungsheim „Friedrich Wolf“ in Petzow am Schwielowsee. (Zwei Tage später erhielt die Stasi einen detaillierten Bericht darüber.) Gerhard Henninger, der Erste Sekretär des Schriftstellerverbandes der DDR, verlangte in seiner Rede den Abzug der Pershing-II-Raketen aus der „BRD“. Daraufhin verwies Günter Grass auf die in der DDR stationierten SS-20-Raketen und vertrat die Auffassung, man dürfe nicht einseitig gegen die Raketen der USA protestieren, sondern müsse sich auch gegen die Raketen der UdSSR engagieren. Darüber konnte jedoch keine Einigung erzielt werden. In einer im Freien verbrachten Kaffeepause wäre Günter Grass beinahe von einem herabstürzenden Eichenast erschlagen worden.
Als dem türkischen Schriftsteller Yasar Kemal am 19. Oktober 1997 in der Frankfurter Paulskirche der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen wurde, hielt Günter Grass die Laudatio. Dabei sagte er unter anderem mit Blick auf die „mit fetten Klunkern behängte Elite“ in den vorderen Reihen:
Wer immer hier, versammelt in der Paulskirche, die Interessen der Regierung Kohl/Kinkel vertritt, weiß, dass die Bundesrepublik Deutschland seit Jahren Waffenlieferungen an die gegen ihr eigenes Volk einen Vernichtungskrieg führende Türkische Republik duldet. Nach 1990, als uns die Gunst der Stunde die Möglichkeit einer deutschen Einigung eröffnete, sind sogar Panzer und gepanzerte Fahrzeuge aus den Beständen der ehemaligen Volksarmee der DDR in dieses kriegführende Land geliefert worden. Wir wurden und sind Mittäter. Wir duldeten ein so schnelles wie schmutziges Geschäft. Ich schäme mich meines zum bloßen Wirtschaftsstandort verkommenen Landes, dessen Regierung todbringenden Handel zulässt und zudem verfolgten Kurden das Recht auf Asyl verweigert.
Diese Episoden würzt Günter Grass mit eingeflochtenen Anekdoten (z. B. wenn er sich statt Kondensmilch Konsensmilch zum Kaffee reichen lässt).
Zwischendurch kommentiert er die Zusammenarbeit mit seinen Verlegern Eduard Reifferscheid (Luchterhand), Gerhard Steidl, Maria Sommer und Helen Wolff.
Zum Schluss malt Günter Grass sich aus, wie er mit den Brüdern Grimm im Dezember 1960 im Tiergarten auf einer Anlagenbank sitzt und plaudert.
Welchen Sinn macht es, Episoden aus dem Leben der Brüder Grimm und die Entstehungsgeschichte ihres deutschen Wörterbuchs mit autobiografischen Erinnerungen des Autors zu verflechten? Ich weiß es auch nach dem Lesen des Buches nicht. Günter Grass versteht sein Buch jedenfalls als „Liebeserklärung“ an „Grimms Wörter“, also die deutsche Sprache.
Es fehlt ja nie an Wörtern. Alles heißt, hat seinen Namen, will bestimmt sein. Wörter nageln jeden Gegenstand, plappern jeglichen Blödsinn nach, züngeln, werden gemischt zum Salat, sind, weil geheiligt und gezählt, die sieben Worte am Kreuz.
Ein kunstvolles Spiel mit der Sprache macht „Grimms Wörter“ zum Lesevergnügen, auch wenn es mitunter einfach nur manieriert ist und die Alliterationen in den Kapiteln A, B, C, D, E und F schon fast peinlich sind:
Ach, alter Adam!
Ab Anbeginn setzten dir Angstläuse zu,
plagte dich Aftersausen, war zu ahnen […]Ein Briefcouvert, Bettine,
von deinem Blaubeermund besiegelt,
gibt offen Botschaft mir,
wie blindlings unsre Briefe sich gekreuzt […]Da man sich civilisiert gab, gehörten Centauren
der Fabelwelt an.
Noch war kein Chinin, gewonnen aus Chinarinde,
der Malaria gewachsen.
Ganz zu schweigen von Contergan
und dessen Nebenwirkungen auf Embryonen […]
Die ersten sechs Kapitel seines Buches „Grimms Wörter“ überschreibt Günter Grass mit den Buchstaben von A bis F. Das entspricht den von den Brüdern Grimm noch selbst bearbeiteten Bänden des Deutschen Wörterbuchs. Die letzten drei Kapitel in „Grimms Wörter“ tragen in den Überschriften die Buchstaben K, U und Z.
Mein subjektives Fazit: „Die Blechtrommel“ und „Die Rättin“ gehören zum Besten, was ich jemals gelesen habe, aber in „Grimms Wörter“ gefällt mir nur die eine oder andere Passage aufgrund der Sprache.
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2010
Textauszüge: © Steidl Verlag
Jakob und Wilhelm Grimm (Kurzbiografie)
Deutsches Wörterbuch von Jakob Grimm und Wilhelm Grimm
Günter Grass (Kurzbiografie)
Günter Grass: Bibliografie
Günter Grass: Die Blechtrommel
Günter Grass: Katz und Maus
Günter Grass: Der Butt
Günter Grass: Das Treffen in Telgte
Günter Grass: Die Rättin
Günter Grass: Unkenrufe (Verfilmung 2005)
Günter Grass: Mein Jahrhundert
Günter Grass: Im Krebsgang