Anne Carina Hashagen : Die Wette

Die Wette
Die Wette Originalausgabe: Anne Carina Hashagen, 2018 ISBN: 9781977083753, 303 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Während 1840 der Jahrmarkt in Kirchbrück eröffnet wird, bricht in der Stadtkirche ein Gerüst von der Decke und erschlägt eine alte Frau. Unter den Attraktionen des Jahrmarkts sticht der Wagen eines Puppen­spielers hervor. Die Aufführungen locken vor allem Schulkinder an, aber bald finden sie den Kasperl weniger lustig als unheimlich, besonders als er eine teuflische Wette vorschlägt und sich danach schreckliche Ereignisse aneinanderreihen ...
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Kritik

Jugendbuch, Dorfroman, Schauer­märchen oder Dark Fantasy? Der Roman "Die Wette" lässt sich in keine Genre-Schublade legen. Anne Carina Hashagen hat einzelne Szenen – vor allem einige der gru­se­ligen – fantasievoll und lebendig ausgemalt.
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Jahrmarkt in Kirchbrück

Während 1840 der dreiwöchige Jahrmarkt in Kirchbrück eröffnet wird, besucht niemand außer der alten Helene Seliger die Mittagsandacht in der Stadtkirche. So kommt nur sie durch ein von der Decke des Kirchenschiffs stürzendes Baugerüst ums Leben.

Einer der Wohnwagen auf dem Jahrmarkt verfügt über eine Klappe mit einer Puppenspiel-Bühne. Da wird vor Schulkindern wie Marie und Karl die Volkssage „Faust“ mit einem Kasperl als Narrenstück aufgeführt.

Marie und Karl

Marie Hasselbach ist 13 Jahre alt. Als sie noch ein Säugling war, starb ihre Mutter, und ihr Vater ging daraufhin fort. Marie wuchs deshalb bei ihrem verwitweten Großvater Georg Hasselbach auf, der den Kramerladen in Kirchbrück betreibt.

Bei ihrem Mitschüler Karl handelt es sich um den Sohn des Schusters Artur Holschuh. Ebenso wie Marie verlor er die Mutter bereits als Kleinkind, aber nicht durch den Tod, sondern weil sie die Familie verließ. An seine Stiefmutter Bertha hat er sich nie gewöhnt, und seine beiden Halbbrüder Fritz und Paul bleiben ihm fremd. Während sie dem Vater eifrig in der Werkstatt helfen, wirft dieser seinem ältesten Sohn vor, sich zu fein für die Handarbeit zu sein.

Als Karl eine fremde Dame auf der Straße bemerkt, glaubt er, seine Mutter sei zurück­gekommen. Nachdem sie ein in der Hauptgasse zwischen zwei Prachtbauten stehendes verfallenes Haus betreten hat, fragt Karl den Antiquar auf der anderen Straßenseite danach. Der Mann behauptet, das Gebäude sei unbewohnt und gehöre einer Gräfin, die auf ihren Gütern lebt und schon seit langem nicht mehr in Kirchbrück war. Daraus schließt Karl, dass er der Sohn einer Gräfin sei und nutzt jede Gelegenheit, der Dame nachzuschleichen.

Marie sorgt sich um Karl, weil dieser sich einbildet, seine Mutter sei zurückgekommen.

Karl und Uli

Karl, der davon träumt, etwas Besseres als sein Vater zu werden, ist am engsten mit Uli befreundet, dem Sohn des Baumwollfabrikanten Theodor Meier, des reichsten Bürgers von Kirchbrück. Der 13-jährige Uli besucht nicht die vom Pfarrer Gotthelf Schwenke geleitete Schule, wie die anderen Kinder, sondern wird von einem Hauslehrer unterrichtet.

Als Uli und Karl ins Spiegelkabinett auf dem Jahrmarkt möchten, hält der Türsteher sie zurück, obwohl sie bereits Eintrittskarten gekauft haben. Die beiden Jungen überlisten den Mann und rennen an ihm vorbei, aber er lacht und ruft ihnen nach:

„Haha, ihr Dummköpfe. Der Eingang war doch ohnehin nur für euch bestimmt.“

Obwohl Karl nur ein Schustersohn ist, wird er zum Abendessen in die Villa des Fabrikanten eingeladen. Ebenso wie Theodor und Mechthild Meier, Uli und dessen ältere Schwester Constanze wird er von Dienstboten bedient. Theodor Meier malt dem Gast eine Zukunftsvision aus, in der Karl die Schusterei seines Vaters übernommen und zur prosperierenden Manufaktur ausgebaut hat. Über seinen Sohn ärgert er sich. Wozu lernt der Junge Latein? Das sei doch nur etwas für Mädchen, meint der Unternehmer. Wichtig sei nur das Rechnen, und ein Junge wie Uli müsse sich durch Jagd, Reiten und Fechten ertüchtigen.

„So wird das nichts in diesem Lande! Wen interessiert’s ob jemand fehlerfrei das Alphabet aufsagen kann? Schulpflicht, Schulpflicht! Und wer denkt an die Zukunft?“

Unvermittelt beginnt Uli, eine Portion Schweinebraten nach der anderen zu verschlingen. Dann lehnt er sich zurück und rülpst grauenvoll.

Hans

Hans ist mit fast 14 Jahren der älteste Schüler in der Klasse, die auch Marie und Karl besuchen. Sein Vater arbeitet in der Eisenbahnfabrik im Nachbarort und hat ihm eine Spielzeug-Dampfmaschine geschenkt. Hans schwärmt für Technik und glaubt nicht an Dinge, die sich nicht beweisen lassen.

Obwohl bereits mehrere Gottesdienst-Besucher behaupteten, sie hätten die Marienstatue in der Stadtkirche blinzeln sehen, bezweifelt Hans das angebliche Wunder. Deshalb stiftet er zwei Mitschüler dazu an, sich mit ihm nach Einbruch der Dunkelheit in die Kirche zu schleichen. Vor der Marienfigur stellen sie die mitgebrachte Leiter auf, und Hans steigt nach oben. Wie von ihm erwartet, findet er eine natürliche Erklärung für das mehrmals beobachtete Phänomen: Marias Augenlider sind mit Honig bestrichen. Damit werden Fliegen angelockt, und wenn sich so ein dicker schwarzer Brummer auf einem der Lider bewegt, entsteht aus einiger Entfernung der Eindruck, die Gottesmutter blinzele.

Die Wette

Bei einer der Puppentheater-Aufführungen sagt der Kasperl zu den Schülerinnen und Schülern:

„Tun und treiben könnt ihr alles Mögliche, nur das Wollen, das liegt euch nicht. Niemals könnt ihr wollen, was ihr wollt. Oder wie ich zu sagen pflege, ihr würdet schon wollen, wenn ihr denn wollen könntet.“

Hans widerspricht und vertritt die Ansicht, dass es einen freien Willen gebe. Daraufhin schlägt der Kasperl den Zuschauern eine Wette vor:

„Ich wette, dass ihr es nicht schafft, bis zum Ende des Jahrmarkts nicht sündigen zu wollen.“

Unheil

Kurz darauf wird der Junge Friedrich Junghans mit zertrümmerten Kopf tot aufgefunden. Der Vater Georg und die mit dem sechsten Kind schwangere Mutter Amelie können sich nicht erklären, wie er ums Leben kam. Als Leser haben wir erfahren, dass Friedrich von einer Mäuseschar getötet wurde, und zwar als Strafe dafür, dass er immer wieder Mausefallen aufstellte, um einige Tage das weiche Fell der Kadaver streicheln zu können.

Die Schülerin Pauline kann nicht schlafen und beobachtet durchs Fenster eine Auseinandersetzung zwischen zwei Jungen, geht jedoch nicht hinunter, um dem Unterlegenen zu helfen, denn sonst hätte sie sich selbst in Gefahr gebracht. Stattdessen legt sie sich wieder ins Bett.

Eine Fliege taumelt vor dem Fensterglas. Der Luftzug hat sie ins Zimmer gezogen. Sie surrt mehrere Minuten ziellos am Fenster entlang, fliegt irgendwann tiefer und erreicht den Fußboden. Hier liegt der Kater. Vom Surren aufgeweckt, hebt er die Tatze. Doch das Surren entfernt sich, befindet sich jetzt irgendwo über dem Tisch am Fenster. Der Kater springt hinterher. Langt mit der Pfote am Tischrand empor. Erwischt den Kerzenhalter, der zur Seite kippt, direkt in den Vorhang. Ein Flämmchen wächst auf dem dünnen Leinenstoff. Sehr zart und unauffällig.

Das Haus brennt nieder. Alle Bewohner können sich retten – bis auf Pauline, die in den Flammen ums Leben kommt.

Die junge Magd Liesel Schreiber bemerkt im Spiegel ein Mal an ihrer Lippe, das sich rasch vergrößert und zum Höcker heranwächst. Der bricht plötzlich auf, und Spinnen kriechen heraus.

Sie muss sich reinwaschen von dem Grauen, das in ihr war. Sie stolpert zur Seite, langt nach dem Fässchen, das auf der Fensterbank steht, öffnet es hastig und träufelt den Rest des Weihwassers auf ihre Fingerkuppen. Sie eilt zurück vor den Spiegel. Erlöse uns, o Herr, erlöse uns, erlöse uns von dem Bösen!

Zitternd hebt sie die Finger, berührt das pochende Mal. Ein Zucken fährt darüber. Wie ein Aufbäumen, ein wehrendes Erzittern. Ein entsetzliches Zischen kommt über ihre Lippen. Und die Lippen beginnen zu schrumpfen. Wie ein Stück Stoff im Feuer. Und mit ihnen die ganze Liesel. Alles an der Liesel zieht sich zusammen, kräuselt sich, rollt sich auf, knisternd und zischend wie verkohlendes Papier, funkensprühend […] die Eingeweide zerstoben in der Luft als rote, verglühende Fetzen.

Liesels Augen starren in den Spiegel. Starren aus dem Spiegel heraus. Wollen einen Schrei ausstoßen. Doch es gelingt nicht mehr. Denn schon ist der Mund mit einem Zischen zerfallen.[…]

Zwei schreckensweite, verglühende Augen im Spiegel, die ihr eigenes Ende betrachten. Nichts bleibt von der Liesel. Nur das dunkle Mal an ihren Lippen.

Das alles ist nur der Beginn einer Reihe von schrecklichen Ereignissen.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Spoiler

Nach drei Wochen wird der Jahrmarkt abgebaut. Zuletzt steht nur noch der Wagen des Puppenspielers auf dem Platz – und der geht schließlich in Flammen auf.

Marie folgt Karl besorgt in das baufällige Haus, in dem er seine Mutter vermutet. Er glaubt, sie in einem Wandspiegel zu sehen und geht darauf zu, obwohl vor ihm eine Öffnung im Boden klafft. Da rennt Marie los und reißt ihn zurück – stürzt jedoch selbst durch das Loch im Boden.

Mit dieser selbstlosen Tat gewinnt sie die Wette und beendet den teuflischen Spuk. In Kirchbrück ist nun wieder alles so, als sei nichts Schlimmes geschehen.

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Der Roman „Die Wette“ von Anne Carina Hashagen lässt sich in keine Genre-Schublade legen. In der ersten Hälfte liest er sich wie ein Jugendbuch, auch wenn der gleich zu Beginn inszenierte Unfall in der Kirche Schlimmes ahnen lässt. Wäre die Milieuschilderung intensiver, ließen sich auch Ansätze eines Dorfromans erkennen (obwohl es sich bei dem Schauplatz Kirchbrück um eine Stadt handelt). Mit der Titel gebenden Wette mutiert das Buch schließlich zu einer Mischung aus Dark Fantasy und Schauermärchen.

Diese Veränderung spiegelt sich auch im Gebrauch der Tempi: Für die ersten 18 Kapitel von „Die Wette“ wählte Anne Carina Hashagen das übliche Präteritum. Dann wechselt sie ins Präsens (unterbrochen von einer Passage im 21. Kapitel), und die letzten eineinhalb Seiten stehen wieder im Präteritum.

Anne Carina Hashagen hat einzelne Szenen – vor allem einige der gruseligen – fantasievoll und lebendig ausgemalt. Aber die in 40 Kapiteln dargestellten Episoden reihen sich aneinander, ohne einen Erzählfluss anschwellen und eine Entwicklung erkennen zu lassen.

Friedrich Junghans streichelt so gern weiches Tierfell und fängt deshalb Mäuse, die allerdings entweder noch in der Falle oder kurz darauf verenden. Dabei hat Anne Carina Hashagen wohl an Lennie Small gedacht, eine Figur aus John Steinbecks „Von Mäusen und Menschen“ (Verfilmung).

Uli Meier und Karl Holschuh überlisten einen Türsteher vor dem Spiegelkabinett auf dem Rummelplatz, um an ihm vorbei zu kommen. Aber er ruft ihnen lachend nach, der Eingang sei doch ohnehin nur für sie beide bestimmt gewesen. Damit spielt Anne Carina Hashagen unverkennbar auf Franz Kafkas Türhüterparabel „Vor dem Gesetz“ an.

Eine ausführliche Hommage erweist sie E. T. A. Hoffmann. In dessen Nachtstück „Das öde Haus“ erzählt ein Mann namens Theodor, wie ihm in der Hauptstraße einer fremden Stadt ein zwischen zwei Villen stehendes verfallenes Haus auffiel. Jemand meinte, in dem unbewohnten Gebäude befände sich die Zuckerbäckerei der benachbarten Konditorei, aber als Theodor dort nachfragte, erfuhr er, dass es dem Konditor nicht gelungen war, die Räume von der Besitzerin Gräfin von S. zu bekommen. Nachdem Theodor an einem der Fenstervorhänge einen weiblichen Arm gesehen hatte, beobachtete er das Gebäude weiter mit einem Taschenspiegel. „Erstarrt blieb ich stehen, ein sonderbar bänglich wonniges Gefühl durchströmte mit elektrischer Wärme mein Inneres, unverwandt blickte ich herauf nach dem verhängnisvollen Fenster, und wohl mag ein sehnsuchtsvoller Seufzer meiner Brust entflohen sein.“ Auch wenn Anne Carina Hashagen aus der benachbarten Konditorei ein Antiquariat auf der anderen Straßenseite gemacht hat, entspricht die Episode über Karl Holschuh, der seine Mutter in einem leerstehenden Gebäude vermutet, bis in die Einzelheiten der Vorlage.

Anne Carina Hashagen spielt in „Die Wette“ auf eine Reihe weiterer Werke an und zählt auf:

Bei Friedrich Junghans dachte sie an den Serienmörder Frank Gust. Die Verse des Akkordeonspielers stammen zum Beispiel von Johann Wolfgang von Goethe („Wenn ich ein Vöglein wär“).

Die Sprache in „Die Wette“ ist bildhaft. Die Wortwahl ist nicht immer geglückt, und zu den Besonderheiten des Stils gehören Fragen wie im folgenden Beispiel:

Schritte sind zu hören. Ein Herr mit einem Gegenstand vor dem Oberkörper eilt die Uferpromenade entlang, nähert sich jetzt dem Ort des Geschehens. Wer mag das sein?

Beim Lesen stolpert man über zwei, drei Einzelheiten, zum Beispiel über einen Kant zitierenden Krämer oder ein stickig heißes Kirchenschiff. Dass der Fabri­kan­ten­sohn Uli Meier 1840 über ein eigenes Zimmer verfügt, ist glaubwürdig, aber auch für die Sprösslinge einfacher Familien gibt es in „Die Wette“ Kinderzimmer, sogar für Friedrich Junghans, dessen Mutter mit dem sechsten Kind schwanger ist.

Selbstironisch ist folgende Bemerkung eines Straßenpassanten:

Diese fantastische Literatur, alles Ergebnis von zu viel Absinth und Laudanum. Schreibverbot solle man all diesen Geistersehern erteilen, die mit ihren Kunstmärchen die Jugend überschwemmten.

Der Prolog beginnt nachdenklich:

Manchmal glaube ich, wir sind Geschichten.
Geschichten, die wir uns über uns selbst erzählen. Ich erzähle mir eine Geschichte. Und diese Geschichte, das bin ich. Die Frage ist nur, wer erzählt hier eigentlich?
Haben wir einen ureigenen Kern? Oder sind wir Fragmente aus Gewesenem? […]

Wir sind unsere eigenen Darsteller. Aber sind wir frei in unserem Spiel?

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