Robert Musil : Der Mann ohne Eigenschaften

Der Mann ohne Eigenschaften
Der Mann ohne Eigenschaften Originalausgabe: Rowohlt Verlag, Berlin 1930 / 1933 Anaconda Verlag, Köln 2013 ISBN: 978-3-7306-0040-5, 990 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Eine Gruppe von Österreichern strebt 1913 eine vaterländische Aktion im Jahr 1918 an, die eine entsprechende Veranstaltung des Deutschen Reichs übertrumpfen soll. Niemand ahnt, dass sowohl das Deutsche Reich als auch die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie 1918 zusammenbrechen werden. Weil sich das Komitee nicht auf eine gemeinsame Idee einigen kann, wird am Ende statt der "Parallelaktion" ein Weltfriedenskongress geplant – der dann wegen des Kriegsausbruchs auch nicht stattfindet ...
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Kritik

Robert Musil reiht seinem Roman "Der Mann ohne Eigenschaften" Essays und Reflexionen aneinander. Die spärliche Handlung dient dafür als Gerüst. Das Bruchstückhafte dieser Form spiegelt eine Gesell­schaft, der Einheit und Orientierung verlorengegangen sind.
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Handlung

Die Handlung des Romans „Der Mann ohne Eigenschaften“ beginnt im August 1913 und spielt in Wien, der Hauptstadt der k. u. k. Doppelmonarchie, die hier Kakanien genannt wird.

Es war nach seiner Verfassung liberal, aber es wurde klerikal regiert. Es wurde klerikal regiert, aber man lebte freisinnig.

In dem Vielvölkerstaat Kakanien gibt es kein einheitliches Staatsvolk.

Die Ungarn waren zuerst und zuletzt nur Ungarn, und bloß nebenbei galten sie bei anderen Leuten, die ihre Sprache nicht verstanden, auch für Österreich-Ungarn; die Österreicher dagegen waren zuerst und ursprünglich nichts und sollten sich nach Ansicht ihrer Oberen gleich als Österreich-Ungarn oder Österreicher-Ungarn fühlen, – es gab nicht einmal ein richtiges Wort dafür. Es gab auch Österreich nicht. Die beiden Teile Ungarn und Österreich passten zu einander wie eine rot-weiß-grüne Jacke zu einer schwarz-gelben Hose; die Jacke war ein Stück für sich, die Hose aber war der Rest eines nicht mehr bestehenden schwarz-gelben Anzugs, der im Jahre achtzehnhundertsiebenundsechzig zertrennt worden war.

Der Protagonist und die Dame in seiner Begleitung geraten gleich zu Beginn des Romans in eine Ansammlung von Passanten, die um einen am Boden liegenden Mann herumsteht, der von einem Lastwagen erfasst wurde.

Ulrich – wir erfahren nur den Vornamen der Hauptfigur – hatte sich schon als Schüler vorgenommen, ein bedeutender Mann zu werden. Weil er in einem Schulaufsatz nicht nur geschrieben hatte, dass ein Patriot sein Vaterland nicht als das beste aller möglichen betrachten dürfe, sondern auch, dass Gott ebenso gut eine andere Welt hätte erschaffen können, nahm ihn sein Vater vom Gymnasium der Theresianischen Ritterakademie und schickte ihn in eine belgische Erziehungsanstalt. Nach der Schule meldete Ulrich sich zum Militär und kam zu einem Reiterregiment.

Er […] unterschied nur drei Arten von Menschen: Offiziere, Frauen und Zivilisten; letztere eine körperlich unterentwickelte, geistig verächtliche Klasse, der von den Offizieren die Frauen und Töchter abgejagt wurden.

Als 20-jähriger Leutnant verliebte er sich in die deutlich ältere Ehefrau eines Majors, aber die Affäre dauerte nicht lang.

Als er erkannte, dass die Offizierslaufbahn nicht das Richtige für ihn war, nahm er seinen Abschied und studierte Ingenieur-Wissenschaften. Das kam ihm aber zu einseitig vor, und so wurde er Mathematiker. Es war sein dritter Versuch, ein bedeutender Mensch zu werden. Weil Ulrich aber auch das als existenzielle Einschränkung empfand, nahm er sich ein Jahr „Urlaub von seinem Leben“, „um eine angemessene Anwendung seiner Fähigkeiten zu suchen“ und über das rechte Leben nachzudenken. Kurz bevor die eigentliche Romanhandlung einsetzt, kehrte der 32-Jährige aus dem Ausland nach Wien zurück. Dort erwarb er ein Anwesen mit einem Schlösschen, in dem er seine Gelehrtenwohnung mit zahlreichen Büchern einrichtete.

An Geld mangelt es ihm nicht. Ulrichs früh verstorbene Mutter stammte aus einer rheinischen Industriellenfamilie und hatte ein Vermögen mit in die Ehe gebracht. Sein Vater hatte nach dem Jura-Studium als Hauslehrer in vornehmen Häusern begonnen, war dann Universitätsdozent und schließlich Rechtsberater des Feudaladels geworden. Kaiser Franz Josephs I. erhob den emeritierten Professor in den erblichen Adelsstand. Inzwischen ist er 69 Jahre alt.

Befreundet ist Ulrich mit der in einem kleinen Varieté singenden Gelegenheitsprostituierten Leontine („Leona“). Sie ist träge und gefräßig.

Eines Nachts wird Ulrich auf der Straße von drei Männern überfallen und ausgeraubt. Während er noch am Boden liegt, steigt eine schätzungsweise 30 Jahre alte Dame aus einem Taxi, beugt sich über ihn und nimmt ihn mit. Ulrich nennt sie Bonadea, gute Göttin. Obwohl sie mit einem älteren Juristen verheiratet ist und zwei Söhne hat, wird sie vorübergehend seine Geliebte.

Weil Ulrich sich nicht um eine Karriere bemüht, ersucht sein Vater den Grafen Stallburg, den Vorsitzenden der Allerhöchsten Familiengerichtspartikularität beim Hofmarschallamt, sich für den Sohn zu verwenden. Der Graf antwortet sogleich mit einem Vorschlag: Die Deutschen beabsichtigen, das 30-jährige Regierungsjubiläums Kaiser Wilhelms II. um den 15. Juni 1918 herum groß zu feiern. In Österreich will man dagegenhalten, und weil sich die Thronbesteigung Kaiser Franz Josephs I. erst am 2. Dezember 1918 – ein halbes Jahr nach der Veranstaltung in Berlin – zum 70. Mal jähren wird, ist in Kakanien ein ganzes Jubiläumsjahr geplant. Ulrich könnte im Aktionskomitee mitwirken.

Ulrich folgt der brieflichen Aufforderung seines Vaters, sich bei Graf Stallburg in der k. u. k. Hofburg zu melden. Der Vorsitzende der Allerhöchsten Familiengerichtspartikularität beim Hofmarschallamt empfängt ihn huldvoll und gibt ihm ein Einführungsschreiben für Graf Leinsdorf mit, den Initiator der vaterländischen Aktion. Graf Leinsdorf ist etwa 60 Jahre alt, reich und Mitglied des Herrenhauses, aber politisch nicht aktiv. Er strebt eine aus der Mitte des Volkes aufsteigende Kundgebung an.

Statt den Grafen Leinsdorf sucht Ulrich als Nächstes seine Cousine „Diotima“ auf, die Ehefrau des Sektionschefs Hans („Giovanni“) Tuzzi, der als rechte Hand des Außenministers gilt. Hermine („Ermelinda“) Tuzzi – so ihr eigentlicher Name – ist die älteste von drei Töchtern eines Mittelschullehrers. Sie heiratete Hans Tuzzi, als dieser noch Vizekonsul war. Er stieg zwar zu einem einflussreichen Regierungsmitglied auf, aber Diotima hält ihn für geistlos und ist von ihm enttäuscht. Sie verachtet die Zivilisation und setzt stattdessen auf Kultur. In ihrem Salon werden anspruchsvolle Gespräche geführt. Die Idealistin engagiert sich für die vaterländische Aktion im Jahr 1918. In einer antimaterialistisch ausgerichteten Veranstaltung, bei der sie an ein „Größer-Österreich, ein Weltösterreich“ denkt, möchte sie die österreichische Kultur in ihrem innersten Wesen zeigen. Ihr Ziel ist es, dass der europäische Geist in Österreich seine wahre Heimat findet.

Ulrich ist wie Diotima überzeugt, dass sich das Leben dem Geist anzupassen habe, aber philosophischen Systemen misstraut er:

Philosophen sind Gewalttäter, die keine Armee zur Verfügung haben und sich deshalb die Welt in der Weise unterwerfen, dass sie sie in ein System sperren.

„Und wir sollen“, erwiderte [Ulrichs Freund] Walter mit Schärfe „auf jeden Sinn des Lebens verzichten?!“
Ulrich fragte ihn, wozu er eigentlich einen Sinn brauche? Es ginge doch auch so, meinte er.

Nachdem Graf Leinsdorf einige Zeit vergeblich auf Ulrich gewartet hat, der ihm angekündigt worden war, ersucht er den Polizeipräsidenten, nach ihm zu fahnden.

Etwa zur gleichen Zeit beobachtet Ulrich, wie ein Betrunkener wegen Majestätsbeleidigung verhaftet wird. Er protestiert und versucht dem Polizisten zu erklären, dass ein Betrunkener nicht zurechnungsfähig sei und deshalb niemanden beleidigen könne. Daraufhin führt ihn der Beamte wegen Störung einer Amtshandlung ebenfalls ab. Ulrich ist überrascht, als er dann zum Polizeipräsidenten persönlich geführt wird. Der klärt ihn darüber auf, dass Graf Leinsdorf nach ihm gefragt habe und nimmt ihm das Versprechen ab, dass er diesen am nächsten Tag aufsuchen werde.

So wird Ulrich zum Ehrensekretär der „Parallelaktion“. Die erste Sitzung des Ausschusses „zur Fassung eines leitenden Beschlusses in Bezug auf das Siebzigjährige Regierungsjubiläum Sr. Majestät“ findet bei Diotima im Salon statt. Besitz und Bildung sind vertreten. Ausschüsse aus allen Teilen der Bevölkerung sollen bei der Auswahl der Ideen helfen. Die Gastgeberin eröffnet die Tagung:

Die große patriotische Aktion, erklärte sie, müsse ein großes Ziel finden, das, wie Se. Erlaucht gesagt habe, aus der Mitte des Volks aufsteigt. „Wir, die heute zum ersten Mal Versammelten, fühlen uns nicht berufen, dieses Ziel schon festzusetzen, sondern wir sind vorerst nur zusammengetreten, damit wir eine Organisation schaffen, welche die Bildung von Vorschlägen, die zu diesem Ziel führen, in die Wege leiten soll.“

Sie scheitert mit ihrem Vorhaben, Dr. Paul Arnheim zum Vorsitzenden zu machen, denn die anderen Teilnehmer wollen keinen Preußen an der Spitze ihrer Aktion.

Bei Paul Arnheim handelt es sich um einen ebenso vermögenden wie einflussreichen Industriellen und Intellektuellen Ende 40. Er reist viel, spricht fünf Sprachen fließend, kennt sich nicht nur in Industrie und Wirtschaft aus, sondern weiß auch viel über Philosophie, Mystik und Physik, hat selbst Bücher veröffentlicht und kann auch beim Thema Sport kenntnisreich mitreden. Er propagiert die Verbindung von Seele und Wirtschaft, Idee und Macht.

Man kann mit dem Verstand allein weder moralisch sein, noch Politik machen. Der Verstand reicht nicht aus, die entscheidenden Dinge vollziehen sich über ihn hinweg. Menschen, die Großes erreichten, haben immer die Musik, das Gedicht, die Form, Zucht, Religion und Ritterlichkeit geliebt.

In Wien wohnt der Deutsche mit seinem 16-jährigen afrikanischen Diener Soliman in einem der exklusiven Hotels.

Paul Arnheim und Diotima, die sich erst kürzlich kennengelernt haben, lieben sich platonisch. Die Zusammenarbeit bei der Parallelaktion gibt ihnen die Möglichkeit, miteinander zu reden.

Weder Diotima noch Arnheim hatten geliebt. Von Diotima weiß man es, aber auch der große Finanzmann besaß eine in erweitertem Sinn keusche Seele. Er hatte immer Angst gehabt, dass die Gefühle, die er in Frauen erregte, nicht ihm, sondern seinem Geld gelten könnten, und lebte deshalb nur mit Frauen, denen auch er nicht Gefühle, sondern Geld gab. Er hatte niemals einen Freund besessen, weil er sich fürchtete, missbraucht zu werden, sondern nur Geschäftsfreunde, auch wenn der geschäftliche Austausch ein geistiger war.

Arnheim überlegt, ob er Hans Tuzzi um die Scheidung bitten und Diotima heiraten soll. Aber er befürchtet, sich lächerlich zu machen. Und um seine Geschäfte zu fördern, müsste er einer reichen amerikanischen Witwe oder einer dem Hof nahestehenden Adeligen den Hof machen, nicht der Frau eines bürgerlichen Beamten.

Hans Tuzzi misstraut Arnheim von Anfang an. Er sucht deshalb den Chef des Pressedepartements auf, der seinen Kanzleidirektor ruft und ihm aufträgt, einen Faszikel über den Preußen anzulegen. Nachdem der Leiter des Aktenarchivs erklärte, dass über Paul Arnheim kein Material vorhanden sei, beauftragt ihn der Chef des Pressedepartements, dessen Bücher zu bestellen. Tuzzi wendet sich dann auch noch an die Botschaft in Berlin und fordert Informationen über den missliebigen Verehrer seiner Frau an. Aufgrund seiner Erkundigungen verdächtigt Tuzzi den Preußen, als Vertrauensperson des Zaren unterwegs zu sein und fordert seine Frau auf, ihm über Arnheims Machenschaften zu berichten.

Außer Tuzzi misstrauen auch Ulrich und Soliman dem preußischen Industriellen.

Ulrich hört gerüchtweise, dass Arnheim bei der Parallelaktion nur mitmache, um Verbindungen zu knüpfen, die es ihm ermöglichen könnten, Anteile an galizischen Ölfeldern zu erwerben. (Tatsächlich kam Arnheim nach Wien, um sich bosnische Erzlager und Waldbestände zu sichern.)

Soliman hasst seinen Herrn insgeheim. Der 16-Jährige glaubt, der Sohn eines afrikanischen Fürsten zu sein. Man habe ihn als Kind gestohlen, meint er. Paul Arnheim kaufte ihn einer Tänzertruppe in Italien ab und erzog ihn im persönlichen Gespräch und durch Literatur. Aber als Soliman 14 Jahre alt war, stellte Arnheim seine Bemühungen ein, und seither beschäftigt er den Jungen nur noch als Diener. Deshalb bestiehlt Soliman ihn, schnüffelt in seinen Sachen herum und belauert ihn zusammen mit Diotimas Zofe Rachel, die drei Jahre älter ist als er.

Die Jüdin Rachel wuchs in Galizien auf und wurde von ihrem Vater verstoßen, nachdem ein junger Mann sie verführt hatte. Sie kam mit ihrer kleinen Tochter nach Wien, gab das Kind in Pflege und wurde selbst von Diotima aufgenommen. Soliman bringt sie dazu, Diotima und Paul Arnheim zu belauschen.

Soliman, der noch keine sexuellen Erfahrungen mit Frauen hat, umwirbt Rachel. Schließlich ergreift sie die Initiative und nimmt ihn mit in ihre Kammer. Bald darauf merkt sie, dass sie erneut schwanger ist.

Diotimas Ehemann Hans hält nichts von der Parallelaktion, aber sie findet viel Resonanz. Das bedeutet, dass zahlreiche Eingaben zu bearbeiten sind. Eine Gegenbewegung entsteht; Demonstranten ziehen vor das stark bewachte Palais des Grafen Leinsdorf, und es kommt zu Ausschreitungen. Um die Leute zu beruhigen, wird eine „Enquête zur Feststellung der Wünsche der beteiligten Kreise der Bevölkerung in Bezug auf die Reform der inneren Verwaltung“ eingesetzt.

Ulrich schlägt als Parallelaktion eine „geistige Generalinventur“ vor.

„Wir müssen ungefähr das tun, was notwendig wäre, wenn ins Jahr 1918 der Jüngste Tag fiele, der alte Geist abgeschlossen werden und ein höherer beginnen sollte. Gründen Sie im Namen Seiner Majestät ein Erdensekretariat der Genauigkeit und Seele; alle anderen Aufgaben sind vorher unlösbar oder nur Scheinaufgaben!“

Ulrich gehört zu den Freunden der Familie Fischel. Leo Fischel lässt sich als „Direktor“ titulieren, ist aber eigentlich nur Prokurist der Lloyd-Bank. Als er vor 24 Jahren Klementine heiratete, deren Vater Präsident des Obersten Rechnungshofes war, brauchte er noch keine antisemitischen Anfeindungen zu befürchten. Inzwischen änderte sich das, und darunter hat auch seine Ehe gelitten. Die 23-jährige Tochter Gerda ist mit Hans Sepp befreundet, der in christgermanischen Kreisen verkehrt.

Sie waren keine Rasseantisemiten, sondern Gegner der „jüdischen Gesinnung“, worunter sie Kapitalismus und Sozialismus, Wissenschaft, Vernunft, Elternmacht und -anmaßung, Rechnen, Psychologie und Skepsis verstanden.

Gerda liebt Hans Sepp nicht besonders, sie hängt eher aus Opposition gegen ihre Eltern an ihm. Nicht von ihm, sondern von Ulrich will sie sich deflorieren lassen. Widerstrebend lässt dieser sich darauf ein, aber der Versuch scheitert.

Seine Lage erinnerte ihn mit einem Mal durch einen unklaren Zusammenhang an seinen nächtlichen Kampf mit den Strolchen, und er wollte diesmal schneller sein, aber im gleichen Augenblick begann etwas Entsetzliches. Gerda hatte alles, was sie überhaupt in sich erreichen konnte, zu Willen gemacht und dazu verwendet, die schmähliche Angst niederzuhalten, die sie litt; es war ihr zumute, als sollte sie hingerichtet werden, und in dem Augenblick, wo sie Ulrich in ungewohnter Nacktheit neben sich spürte und von seinen Händen berührt wurde, schleuderte ihr Körper allen ihren Willen von sich. Irgendwo tief in ihrer Brust fühlte sie noch immer unsagbare Freundschaft, einen zitternd zarten Wunsch, Ulrich zu umarmen, sein Haar zu küssen, seiner Stimme mit ihren Lippen zu folgen, und hatte die Vorstellung, wenn sie sein wahres Wesen berühre, werde sie daran zergehen wie ein wenig Schnee in einer warmen Hand; aber das war ein Ulrich, der, wie gewöhnlich gekleidet, sich in den bekannten Räumen ihres Elternhauses bewegte, und nicht dieser nackte Mann, dessen Feindseligkeit sie erriet und der ihr Opfer nicht ernst nahm, obgleich er ihr keine Besinnung ließ. Und auf einmal bemerkte Gerda, dass sie schrie. […] Gerda flehte um Schonung, wie es ein Kind tut, das eine Strafe empfangen soll oder zum Arzt geführt wird und keinen Schritt weiter tun kann, weil es völlig von Schreien zerrissen und gekrümmt wird. Sie hatte die Hände an die Brüste gezogen und bedrohte Ulrich mit den Nägeln, während sie ihre langen Schenkel krampfhaft zupresste. Diese Empörung ihres Körpers gegen sie selbst war schrecklich.

Am selben Tag kommt die zunehmend geistesgestörte Clarisse, die den wahnsinnigen Lustmörder Christian Moosbrugger bewundert, zu Ulrich und möchte ein Kind von ihm.

Die 25-Jährige ist seit drei Jahren mit seinem Jugendfreund Walter verheiratet. Walter, der neun Jahre älter ist als sie, studierte Kunstgeschichte und parallel dazu an der Kunstakademie; er ist eigentlich Maler, Musiker und Dichter, betätigte sich als Zeichenlehrer, Musikkritiker, Theaterkapellmeister und Herausgeber einer literarischen Zeitschrift, aber seit einiger Zeit ist er in einem Kunstamt angestellt und hat sich im bürgerlichen Leben eingerichtet. Oft tut er gar nichts. Ziele hat er keine, denn er hält Europa für entartet. Clarisse hasst es, wenn er Musik von Richard Wagner am Flügel spielt. Sie schwärmt dagegen für Friedrich Nietzsche und wirkt selbst beinahe wie eine Karikatur des Philosophen.

Ulrich besucht die beiden des Öfteren. Walter ist auf ihn eifersüchtig, und im Gespräch mit Clarisse platzt er los:

„Er ist ein Mann ohne Eigenschaften!“

„Nichts ist für ihn fest. Alles ist verwandlungsfähig, Teil in einem Ganzen, in unzähligen Ganzen, die vermutlich zu einem Überganzen gehören, das er aber nicht im Geringsten kennt. So ist jede seiner Antworten eine Teilantwort, jedes seiner Gefühle nur eine Ansicht, und es kommt ihm bei nichts darauf an, was es ist, sondern nur auf irgendein danebenlaufendes ‚wie es ist‘, irgendeine Zutat, kommt es ihm immer an.“

„So ein Mensch ist doch kein Mensch!“

Clarisse lernte Walter vor sieben Jahren kennen, als sie mit ihrer Freundin Marion in der Sommerfrische in der Schweiz war. Sie spielten vierhändig Klavier, aber Clarisse ließ sich nicht von ihm anfassen und hat sich ihm dann auch in der Ehe verweigert.

Als Clarisse 15 Jahre alt war – also zu der Zeit, als sie Walter begegnete – war ihr Vater, der Maler van Helmond, in ihre Freundin Lucy Pachthofen verliebt.

In Lucy mischte sich selbstverständlich die Freundschaft für mich mit dem Gefühl, dass sie den Mann zum Geliebten hatte, zu dem ich noch gehorsam Papa sagen musste. Sie bildete sich nicht wenig darauf ein, aber schämte sich auch heftig vor mir.

Nachdem Lucy mit ihrem Vater nach Spanien gereist war, schlich van Helmond sich nachts ins Zimmer seiner Tochter. Er legte sich zu ihr, streichelte sie mit einer Hand im Gesicht, während die andere über ihre Brüste und dann weiter nach unten wanderte. Er kam bis zu einem Muttermal in ihrer Leiste, das sie als „Auge des Teufels“ bezeichnet, dann entwand sie sich ihm und drehte sich zur Seite.

Er hat sich augenblicklich aufgerichtet. […] er hat mir ganz zart die Hand gedrückt und mit der anderen zweimal über den Kopf gestreichelt, dann ist er fortgegangen, ohne etwas zu sagen.

Walter möchte Clarisse durch ein Kind an sich binden. Aber sie macht sich nichts mehr aus seiner Liebe und will nicht durch ein Kind von ihm beherrscht werden. Stattdessen möchte sie „den Erlöser der Welt“ von Ulrich empfangen. Der denkt jedoch an sein Erlebnis mit Gerda und sagt: „Ich will nicht, Clarisse!“

Eine Depesche benachrichtigt ihn über den Tod seines Vaters. Er fährt mit dem Zug in den Ort, in dem dieser lebte. Seine 27-jährige, in der Provinz verheiratete Schwester Agathe ist bereits seit zwei Wochen dort und saß am Sterbebett.

Agathe war nach dem Tod der Mutter in einem Klosterinternat erzogen worden. Ihr erster Ehemann starb, als sie gerade einmal 19 Jahre alt war. Drei Jahre später heiratete sie den reformpädagogischen Gymnasiallehrer Gottlieb Hagauer, der am k. k. Rudolfsgymnasium unterrichtet und erst zur Beerdigung anreisen wird.

Als sich Ulrich und Agathe nach fünf Jahren erstmals im Elternhaus wiedersehen, in dem der Vater aufgebahrt ist, tragen sie zufällig pyjamaartige Hausanzüge, die wie Pierrotkostüme aussehen und kommen sich wie Zwillinge vor.

„Ich habe nicht gewusst, dass wir Zwillinge sind!“, sagte Agathe, und ihr Gesicht leuchtete erheitert auf.

„Man müsste ein Siamesisches Zwillingspaar sein“, sagte Agathe noch.

Agathe glaubt sich in Ulrich wie in den Scherben eines Spiegels zu sehen. Ulrich findet, dass seine hagere Schwester „etwas Hermaphroditisches“ habe. Weder er noch sie ist über den Tod des Vaters erschüttert. Agathe vertraut ihrem Bruder an, dass sie nicht mehr zu ihrem Ehemann zurückkehren werde und sich scheiden lassen wolle.

Agathe verabscheute die weibliche Emanzipation geradeso, wie sie das weibliche Brutbedürfnis missachtete, das sich das Nest vom Mann liefern lässt.

„Wenn ich ein Mann wäre, ich würde mir gar kein Gewissen daraus machen, mit den Frauen aufs Unzuverlässigste umzugehn. Ich würde sie auch nur aus Zerstreutheit und Staunen begehren!“
[…] „Sie sind lächerliche Schmarotzer. Gemeinsam mit dem Hund teilen sie das Leben des Mannes!“

Nach der Beerdigung des Vaters fährt Ulrich nach Wien zurück. Agathe folgt ihm, wie vereinbart, ein paar Tage später und zieht zu ihm, erst einmal nur für die Dauer des Scheidungsverfahrens. Obwohl sie bisher kaum Kontakt hatten, kommen sie sich jetzt beinahe inzestuös nah. Ulrich, der immer allein gelebt hat, begreift, dass er seinen „Urlaub vom Leben“ beenden und sein Leben neu ordnen muss. Weil er ohnehin annimmt, dass die Parallelaktion scheitern werde und auch dieser Versuch, seinem Leben einen Sinn zu geben, fehlgeschlagen sei, beabsichtigt er, das Ehrenamt des Sekretärs der Parallelaktion niederzulegen. Er geht davon aus, dass es im Leben darauf ankomme, sich der allgemeinen Lösung wie in der Mathematik durch die Kombination von Einzellösungen zu nähern.

Als Agathe Post von ihrem Ehemann erhält, wird ihr bewusst, was sie ihm angetan hat, nicht nur durch die Trennung, sondern auch indem sie das Testament ihres Vaters zu Hagauers Ungunsten fälschte. Sie fühlt sich schlecht, trägt sich mit Selbstmordgedanken und hat eine Giftkapsel bei sich. Als sie weinend am Grab eines Dichters sitzt, der sich das Leben nahm, fragt ein Fremder sie, ob er ihr helfen könne. Er heißt August Lindner, unterrichtet am Franz-Ferdinand-Gynasium und ist Dozent an der Universität. Ob er Ulrich kenne? Ja, er hörte einen Vortrag des Mathematikers in der Pädagogischen Gesellschaft. Besser noch kennt er seinen Kollegen Hagauer, den er als verdienstvollen Lehrer bezeichnet. Er versucht, Agathe zu trösten, erschrickt jedoch, als sie ankündigt, sie werde ihn besuchen. Lindner ist Witwer und hat einen 17 Jahre alten Sohn, der noch zur Schule geht. Da bleibe ihm keine Zeit für gesellschaftlichen Umgang, erklärt er Agathe. Auch eine Einladung zu ihrem Bruder lehnt er ab.

An diesem Abend nehmen Agathe und Ulrich an einer großen Abendgesellschaft bei Diotima teil.

Ulrich erfährt von Generalmajor Stumm von Bordwehr, dem Leiter der Abteilung für Militär-, Bildungs- und Erziehungswesen im Kriegsministerium, dass anstelle einer patriotischen Demonstration für Österreich ein Weltfriedenskongress stattfinden soll. Diotima darf nur noch unter Aufsicht des Unterrichtsministeriums an der Vorbereitung eines Trachtenzugs mitwirken.

Zustand der Gesellschaft

Betrachtungen der Gesellschaft am Vorabend des Ersten Weltkriegs widmet Robert Musil in dem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ großen Raum. Die großbürgerliche wandelt sich zur Massengesellschaft. Der Geist hat sich der Bevormundung durch die Kirche entzogen. Die Aufklärung löste den Mythos bzw. den christlichen Glauben durch den Logos ab. Von Vernunft und Rationalität verspricht man sich nun Sinnstiftung. Aber ein einheitliches Weltbild ist in dieser vom Individualismus geprägten Zeit ohne Ideale und Leitfiguren nicht mehr möglich.

Vielleicht ist es gerade der Spießbürger, der den Beginn eines ungeheuren neuen, kollektiven, ameisenhaften Heldentums vorausahnt? Man wird es rationalisiertes Heldentum nennen und sehr schön finden.

[…] die steigende Vernünftigkeit, die das Ganze durchseucht […] In alle Gehirne hat sich das Verlangen gelegt, immer vernünftiger zu werden, mehr denn je das Leben zu rationalisieren und zu spezialisieren, und zugleich das Unvermögen, sich denken zu können, was aus uns werden soll, wenn wir alles erkennen, zerteilen, typisieren, in Maschinen verwandeln und normen.

Ulrich zweifelt an mechanischen Erklärungsversuchen, in denen Gemütsbewegungen auf innere Ausscheidungen zurückgeführt werden:

Kann man sich zum Beispiel vorstellen, dass der Mensch noch eine Seele haben wird, sobald er sie biologisch und psychologisch völlig zu begreifen und behandeln gelernt hat? Trotzdem streben wir diesen Zustand an! Das ist es. Das Wissen ist ein Verhalten, eine Leidenschaft. Im Grunde ein unerlaubtes Verhalten; denn wie die Trunksucht, die Geschlechtssucht und die Gewaltsucht, so bildet auch der Zwang, wissen zu müssen, einen Charakter aus, der nicht im Gleichgewicht ist.

Ulrich wird einmal von Hans Tuzzi gefragt, was damit gemeint sei, dass jemand Seele habe.

„Wenn man sagt: ‚eine Seele von einem Menschen‘, so meint man einen treuen, pflichtgeduldigen, aufrichtigen Kerl, – ich habe so einen Kanzleidirektor: aber da hat man es doch schließlich mit einer subalternen Eigenschaft zu tun! Oder es ist Seele eine Eigenschaft von Frauen: das ist dann ungefähr so viel wie dass sie leichter weinen als Männer und leichter rot werden –“

Als Seele, antwortet Ulrich, werde etwas bezeichnet, das in der Gesellschaft verloren gegangen sei. Und er räsoniert über den Mangel an Kultur.

Aber wenn Geist allein dasteht, als nacktes Hauptwort, kahl wie ein Gespenst, dem man ein Leintuch borgen möchte, – wie ist es dann? Man kann die Dichter lesen, die Philosophen studieren, Bilder kaufen und nächteweise Gespräche führen: aber ist es Geist, was man dabei gewinnt? Angenommen, man gewönne ihn: aber besitzt man ihn dann? Dieser Geist ist so fest verbunden mit der zufälligen Gestalt seines Auftretens! Er geht durch den Menschen, der ihn aufnehmen möchte, hindurch und lässt nur ein wenig Erschütterung zurück. Was fangen wir mit all dem Geist an? Er wird auf Massen von Papier, Stein, Leinwand in geradezu astronomischen Ausmaßen immer von neuem erzeugt, wird ebenso unablässig unter riesenhaftem Verbrauch von nervöser Energie aufgenommen und genossen: Aber was geschieht dann mit ihm? Verschwindet er wie ein Trugbild? Löst er sich in Partikel auf? Entzieht er sich dem irdischen Gesetz der Erhaltung? Die Staubteilchen, die in uns hinab sinken und langsam zur Ruhe kommen, stehen in keinem Verhältnis zu dem Aufwand.

Paul Arnheim fügt hinzu:

„Diese Größe des Ausdrucks, bei vollkommenster Einfachheit […] führt deutlich vor Augen, was unserer Zeit verlorengegangen ist. Was bedeutet dagegen unsere Wissenschaft? Bruchwerk! Unsere Kunst? Extreme, ohne einen vermittelnden Körper! Das Geheimnis der Einheit fehlt unserem Geist, und sehen Sie, darum ergreift mich dieser österreichische Plan, der Welt ein vereinigendes Beispiel, einen gemeinsamen Gedanken zu schenken, wenn ich ihn auch nicht für ganz durchführbar halte. Ich bin Deutscher. In der ganzen Welt ist heute alles laut und plump; aber in Deutschland ist es noch lauter. In allen Ländern plagen sich die Menschen von früh bis spät, ob sie nun arbeiten oder sich vergnügen; aber bei uns stehen sie noch früher auf und gehen noch später zu Bett. In aller Welt hat der Geist des Rechnens und der Gewalt den Zusammenhang mit der Seele verloren; aber wir in Deutschland haben die meisten Kaufleute und das stärkste Militär.“ Er blickte entzückt rund um den Platz. „In Österreich ist alles das noch nicht so entwickelt. Hier gibt es noch Vergangenheit, und die Menschen haben sich etwas von der ursprünglichen Intuition bewahrt. Wenn sie überhaupt noch möglich ist, so könnte nur von hier die Erlösung des deutschen Wesens vom Rationalismus ausgehen. Aber ich fürchte“, fügte er seufzend hinzu „es wird schwerlich gelingen. Eine große Idee findet heute zu viel Widerstände; große Ideen sind nur noch dazu gut, einander am Missbrauchtwerden zu hindern, wir leben sozusagen im Zustand eines mit Ideen bewaffneten Moralfriedens.“

[…] einzig der kulturvolle Süden Deutschlands könnte noch imstande sein, das deutsche Wesen und so vielleicht auch die Welt von den Ausschreitungen des Rationalismus und Rechentriebs zu befreien.

Man braucht wirklich nicht viel darüber zu reden, es ist den meisten Menschen heute ohnehin klar, dass die Mathematik wie ein Dämon in alle Anwendungen unseres Lebens gefahren ist. Vielleicht glauben nicht alle diese Menschen an die Geschichte vom Teufel, dem man seine Seele verkaufen kann; aber alle Leute, die von der Seele etwas verstehen müssen, weil sie als Geistliche, Historiker und Künstler gute Einkünfte daraus beziehen, bezeugen es, dass sie von der Mathematik ruiniert worden sei und dass die Mathematik die Quelle eines bösen Verstandes bilde, der den Menschen zwar zum Herrn der Erde, aber zum Sklaven der Maschine mache. Die innere Dürre, die ungeheuerliche Mischung von Schärfe im Einzelnen und Gleichgültigkeit im Ganzen, das ungeheure Verlassensein des Menschen in einer Wüste von Einzelheiten, seine Unruhe, Bosheit, Herzensgleichgültigkeit ohnegleichen, Geldsucht, Kälte und Gewalttätigkeit, wie sie unsre Zeit kennzeichnen, sollen nach diesen Berichten einzig und allein die Folge der Verluste sein, die ein logisch scharfes Denken der Seele zufügt! Und so hat es auch schon damals, als Ulrich Mathematiker wurde, Leute gegeben, die den Zusammenbruch der europäischen Kultur voraussagten, weil kein Glaube, keine Liebe, keine Einfalt, keine Güte mehr im Menschen wohne, und bezeichnenderweise sind sie alle in ihrer Jugend- und Schulzeit schlechte Mathematiker gewesen. Damit war später für sie bewiesen, dass die Mathematik, Mutter der exakten Naturwissenschaft, Großmutter der Technik, auch Erzmutter jenes Geistes ist, aus dem schließlich Giftgase und Kampfflieger aufgestiegen sind.

Ulrich beklagt, dass es augenscheinlich nur noch auf Leistung und Erfolg ankomme.

Die Moral unserer Zeit ist, was immer sonst geredet werden möge, die der Leistung. […] Der Erfolg kann alles vergessen machen.

[…] bekennt sich aber der Staat für seine überpersönliche Person selbst auf das Nackteste zu dem Grundsatz, dass man rauben, morden und betrügen dürfe, so daraus Macht, Zivilisation und Glanz entstehe.

Der Industrielle Paul Arnheim vergleicht seine Tätigkeit mit der eines Kirchenführers:

Die Rolle der Finanz in der Gegenwart schien ihm jener der katholischen Kirche ähnlich zu sein, als einer aus dem Hintergrund wirkenden, im Verkehr mit den herrschenden Gewalten unnachgiebig-nachgiebigen Macht, und er betrachtete sich zuweilen in seiner Tätigkeit wie einen Kardinal.

Dieses [Zeitalter] betet das Geld, die Ordnung, das Wissen, Rechnen, Messen und Wägen, alles in allem also den Geist des Geldes und seiner Verwandten an und beklagt das zugleich.

Aber ist das Geld nicht eine ebenso sichere Methode der Behandlung menschlicher Beziehungen wie die Gewalt und erlaubt uns, auf ihre naive Anwendung zu verzichten? Es ist vergeistigte Gewalt, eine geschmeidige, hochentwickelte und schöpferische Spezialform der Gewalt. Beruht nicht das Geschäft auf List und Zwang, auf Übervorteilung und Ausnützung, nur sind diese zivilisiert, ganz in das Innere des Menschen verlegt, ja geradezu in das Aussehen seiner Freiheit gekleidet? Der Kapitalismus, als Organisation der Ichsucht nach der Rangordnung der Kräfte, sich Geld zu verschaffen, ist geradezu die größte und dabei noch humanste Ordnung, die wir zu Deiner [Gottes] Ehre haben ausbilden können; ein genaueres Maß trägt das menschliche Tun nicht in sich!

Arnheim hält die Ichsucht für „die verlässlichste Eigenschaft des menschlichen Lebens“.

Dieses Bedürfnis nach Eindeutigkeit, Wiederholbarkeit und Festigkeit, das die Voraussetzung für den Erfolg des Denkens und Planens bildet, – so dachte Arnheim, auf die Straße hinunterblickend, weiter – wird nun auf seelischem Gebiet immer durch eine Form der Gewalt befriedigt. Wer auf Stein bauen will im Menschen, darf sich nur der niedrigen Eigenschaften und Leidenschaften bedienen, denn bloß was aufs engste mit der Ichsucht zusammenhängt, hat Bestand und kann überall in Rechnung gestellt werden; die höheren Absichten sind unverlässlich, widerspruchsvoll und flüchtig wie der Wind.

Zivilisation und Fortschrittsglaube breiten sich von den USA ausgehend auch in Europa aus.

Eine solche soziale Zwangsvorstellung ist nun schon seit Langem eine Art überamerikanische Stadt, wo alles mit der Stoppuhr in der Hand eilt oder stillsteht. Luft und Erde bilden einen Ameisenbau, von den Stockwerken der Verkehrsstraßen durchzogen. Luftzüge, Erdzüge, Untererdzüge, Rohrpostmenschensendungen, Kraftwagenketten rasen horizontal, Schnellaufzüge pumpen vertikal Menschenmassen von einer Verkehrsebene in die andre; man springt an den Knotenpunkten von einem Bewegungsapparat in den andern, wird von deren Rhythmus, der zwischen zwei losdonnernden Geschwindigkeiten eine Synkope, eine Pause, eine kleine Kluft von zwanzig Sekunden macht, ohne Überlegung angesaugt und hineingerissen, spricht hastig in den Intervallen dieses allgemeinen Rhythmus miteinander ein paar Worte. Fragen und Antworten klinken ineinander wie Maschinenglieder, jeder Mensch hat nur ganz bestimmte Aufgaben, die Berufe sind an bestimmten Orten in Gruppen zusammengezogen, man isst während der Bewegung, die Vergnügungen sind in andern Stadtteilen zusammengezogen, und wieder anderswo stehen die Türme, wo man Frau, Familie, Grammophon und Seele findet. Spannung und Abspannung, Tätigkeit und Liebe werden zeitlich genau getrennt und nach gründlicher Laboratoriumserfahrung ausgewogen. Stößt man bei irgendeiner dieser Tätigkeiten auf Schwierigkeit, so lässt man die Sache einfach stehen; denn man findet eine andre Sache oder gelegentlich einen besseren Weg, oder ein andrer findet den Weg, den man verfehlt hat; das schadet gar nichts, während durch nichts so viel von der gemeinsamen Kraft verschleudert wird wie durch die Anmaßung, dass man berufen sei, ein bestimmtes persönliches Ziel nicht locker zu lassen. In einem von Kräften durchflossenen Gemeinwesen führt jeder Weg an ein gutes Ziel, wenn man nicht zu lange zaudert und überlegt. Die Ziele sind kurz gesteckt; aber auch das Leben ist kurz, man gewinnt ihm so ein Maximum des Erreichens ab, und mehr braucht der Mensch nicht zu seinem Glück, denn was man erreicht, formt die Seele, während das, was man ohne Erfüllung will, sie nur verbiegt; für das Glück kommt es sehr wenig auf das an, was man will, sondern nur darauf, dass man es erreicht. Außerdem lehrt die Zoologie, dass aus einer Summe von reduzierten Individuen sehr wohl ein geniales Ganzes bestehen kann.

Die Wahrscheinlichkeit, etwas Ungewöhnliches durch die Zeitung zu erfahren, ist weit größer als die, es zu erleben; mit anderen Worten, im Abstrakten ereignet sich heute das Wesentliche, und das Belanglosere im Wirklichen.

Der Mann ohne Eigenschaften

Ulrich ist selbstverständlich nicht eigenschaftslos. Mit dem von Walter geprägten Begriff „Mann ohne Eigenschaften“ ist gemeint, dass sich Attribute gegenseitig aufheben und Ulrich in seiner Ambivalenz nicht festzulegen ist.

Und da der Besitz von Eigenschaften eine gewisse Freude an ihrer Wirklichkeit voraussetzt, erlaubt das im Ausblick darauf, wie es jemand, der auch sich selbst gegenüber keinen Wirklichkeitssinn aufbringt, unversehens widerfahren kann, dass er sich eines Tages als ein Mann ohne Eigenschaften vorkommt.

Ein Mann ohne Eigenschaften besteht aus Eigenschaften ohne Mann.

Es ist eine Welt von Eigenschaften ohne Mann entstanden, von Erlebnissen ohne den, der sie erlebt, und es sieht beinahe aus, als ob im Idealfall der Mensch überhaupt nichts mehr privat erleben werde und die freundliche Schwere der persönlichen Verantwortung sich in ein Formelsystem von möglichen Bedeutungen auflösen solle. Wahrscheinlich ist die Auflösung des anthropozentrischen Verhaltens, das den Menschen so lange Zeit für den Mittelpunkt des Weltalls gehalten hat, aber nun schon seit Jahrhunderten im Schwinden ist, endlich beim Ich selbst angelangt; denn der Glaube, am Erleben sei das wichtigste, dass man es erlebe, und am Tun, dass man es tue, fängt an, den meisten Menschen als eine Naivität zu erscheinen.

Christian Mossbrugger

Den Gegenpol zum „Mann ohne Eigenschaften“ bildet Christian Moosbrugger.

Er wuchs als Hüterbub auf und wurde dann Zimmermannsgeselle. Nachdem er bereits mehrere Haftstrafen verbüßte und einige Zeit in Irrenhäusern verbrachte, wird der 34-Jährige nun wegen eines grausamen Prostituiertenmordes zum Tod verurteilt.

Moosbrugger setzte sich durch seinen Wahn über alle Verbote und Konventionen hinweg. Dabei verhielt er sich, als ob er selbst das Maß aller Dinge sei. Der Aufwand, den Polizei und Gerichtsorgane wegen ihm treiben, kommt seiner Eitelkeit entgegen. Nach dem Todesurteil hat er außer der Hinrichtung nichts mehr zu erwarten. Anders als Ulrich, der noch seinen Weg sucht, ist bei Moosbrugger keine Entwicklung mehr möglich. Er hat seine Selbstbestimmung eingebüßt, ist nur noch Objekt von Zeitungsberichten und theoretischen Diskussionen über die Willensfreiheit.

Man hatte ihn während seines von den Verbrechen eines unheimlichen Blutrausches unterbrochenen ehrlichen Lebens ebenso oft in Irrenhäusern zurückgehalten wie entlassen, und er hatte als Paralytiker, Paranoiker, Epileptiker und zirkulär Irrer gegolten, ehe ihm in der letzten Verhandlung zwei besonders gewissenhafte Gerichtsärzte seine Gesundheit wieder zurückgaben. Natürlich befand sich damals in dem großen, menschenerfüllten Saal keine einzige Person […], die nicht davon überzeugt gewesen wäre, dass Moosbrugger in irgendeiner Weise krank sei; aber es war keine Weise, die den vom Gesetz gestellten Bedingungen entsprach und von gewissenhaften Gehirnen anerkannt werden durfte. Denn wenn man teilweise krank ist, ist man nach Ansicht der Rechtslehrer auch teilweise gesund; ist man aber teilweise gesund, so ist man wenigstens teilweise zurechnungsfähig; und ist man teilweise zurechnungsfähig, so ist man es ganz; denn Zurechnungsfähigkeit ist, wie sie sagen, der Zustand des Menschen, in dem er die Kraft besitzt, unabhängig von jeder ihn zwingenden Notwendigkeit sich aus sich selbst für einen bestimmten Zweck zu bestimmen, und eine solche Bestimmtheit kann man nicht gleichzeitig besitzen und entbehren.

Wenn ein Mensch auch nur teilweise zurechnungsfähig ist, muss er als ganze Person bestraft werden, weil der Teil nicht zu fassen ist.

Es gibt für Juristen keine halbverrückten Menschen.

Weil nach dem Urteilsspruch Zweifel an Moosbruggers Zurechnungsfähigkeit aufkommen, wird die Hinrichtung verschoben, und sein Geisteszustand soll noch einmal untersucht werden.

Ulrichs Vater, der vor 47 Jahren über „Die Zurechnungslehre des Samuel Pufendorf und die moderne Jurisprudenz“ schrieb, klagt in einem Brief an seinen Sohn:

Ich will darauf Rücksicht nehmen, dass Du juridisch nicht gebildet bist, aber so viel wird Dir bekannt sein, dass die beliebteste Einbruchspforte dieser sich fälschlich Humanität nennenden Rechtsunsicherheit die Bestrebung bildet, den die Strafe ausschließenden Begriff der Unzurechnungsfähigkeit in der unklaren Form einer verminderten Zurechnungsfähigkeit auch auf jene zahlreichen Individuen auszudehnen, die weder geisteskrank, noch moralisch normal sind und das Heer jener Minderwertigen, moralisch Schwachsinnigen bilden, von dem unsere Kultur leider immer mehr verseucht wird.

Ulrichs Vater gerät in dieser Frage mit dem befreundeten Kollegen Schwung aneinander, der seiner kompromisslosen Haltung widerspricht und den Determinismus vertritt, demzufolge das menschliche Handeln fremdbestimmt ist.

Ulrich hat dazu seine eigene Meinung:

„Ich glaube, die Physiologen sagen“, fuhr Ulrich fort „dass das, was wir bewusstes Handeln nennen, daraus entsteht, dass der Reiz sozusagen nicht einfach durch einen Reflexbogen ein- und ausfließt, sondern zu einem Umweg gezwungen wird; dann gleichen also die Welt, die wir erleben, und die Welt, in der wir handeln, obwohl sie uns als ein- und dieselbe vorkommen, eigentlich dem Ober- und Unterwasser in einem Mühlgang und sind durch eine Art Bewusstseinsstausee verbunden, von dessen Höhe, Kraft und ähnlichem die Regelung des Zu- und Abflusses abhängt. Oder mit anderen Worten: wenn auf einer der beiden Seiten eine Störung eintritt – eine Entfremdung der Welt, oder eine Unlust zu handeln –, so könnte man doch ganz gut annehmen, dass sich auf diese Weise auch ein zweites, höheres Bewusstsein zu bilden vermöchte? Oder meinen Sie, nicht?“

„Der zurechnungsfähige Mensch kann immer auch anders, der unzurechnungsfähige nie!“

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Die Handlung von „Der Mann ohne Eigenschaften“ spielt 1913/14. Eine Gruppe von Österreichern strebt für 1918 eine vaterländische Aktion an, die eine entsprechende Veranstaltung anlässlich des 30-jährigen Regierungsjubiläums Kaiser Wilhelms II. in den Schatten stellen soll. Niemand ahnt, dass sowohl das Deutsche Reich als auch die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie 1918 zusammenbrechen und Kaiser Karl I. ebenso wie Kaiser Wilhelm II. entthronisiert werden. Und weil sich das Komitee auch gar nicht auf eine gemeinsame Idee einigen kann, wird am Ende statt der „Parallelaktion“ ein Weltfriedenskongress geplant – der dann wegen des Kriegsausbruchs auch nicht stattfindet. Was für eine Ironie!

„Der Mann ohne Eigenschaften“ ist nicht nur das Hauptwerk des Schriftstellers Robert Musil, sondern auch einer der bedeutendsten Romane in deutscher Sprache. Auf den rund 1000 Seiten, die Robert Musil noch selbst veröffentlichte, geschieht äußerlich verhältnismäßig wenig. Robert Musil erzählt keine stringente Geschichte, sondern reiht in 161 Kapiteln Reflexionen, Beschreibungen und Essays übergangslos aneinander, und die spärliche Handlung dient dafür nur als Gerüst. Zugleich spiegelt das Bruchstückhafte dieser Form – und die Tatsache, dass „Der Mann ohne Eigenschaften“ fragmentarisch blieb – auch die Gesellschaft am Vorabend des Ersten Weltkriegs, der Einheit und Orientierung verlorengegangen sind.

Paradox ist, dass Robert Musil in „Der Mann ohne Eigenschaften“ viele lange Gespräche darstellt, die Lektüre jedoch eher abstrakt wirkt.

Im ersten Teil – Eine Art Einleitung – stellt der auktoriale Erzähler Ulrich vor. Der mittlere, mehr als die Hälfte der Seiten umfassende Teil – Seinesgleichen geschieht – dreht sich um die sogenannte „Parallelaktion“, und im letzten Teil – Im tausendjährigen Reich (Die Verbrecher) – geht es um die Beziehung der Geschwister Ulrich und Agathe.

Ulrich und Agathe kommen sich wie Zwillinge oder Spiegelungen vor. Sie sind nicht eigenschaftslos, aber die widersprüchlichen Eigenschaftspaare heben sich gegenseitig auf. Dazu gibt es in „Der Mann ohne Eigenschaften“ sprachliche Entsprechungen, zum Beispiel: k. u. k., Idee und Macht, Besitz und Bildung, Mythos und Logos, Kultur und Zivilisation, Liebe und Gewalt, Seele und Genauigkeit.

Mit „Der Mann ohne Eigenschaften“ wollte Robert Musil „nicht weniger leisten als eine Gesamtkonstruktion der Moderne“ (Inka Mülder-Bach: Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Ein Versuch über den Roman, Carl Hanser Verlag 2013, 544 Seiten, ISBN 978-3446243545, 34.90 €)

Die Hauptfigur sollte ursprünglich Anders heißen, aber dann wählte Robert Musil den Namen Ulrich.

Dieser Ulrich trägt autobiografische Züge des Autors. Es wird vermutet, dass es auch für einige andere Figuren Vorbilder gab, so zum Beispiel die fortschrittliche Pädagogin, Sozialreformerin und Frauenrechtsaktivistin Eugenie („Genia“) Schwarzwald (1872 – 1940) für Diotima, den Schriftsteller, Industriellen und Politiker Walther Rathenau (1867 – 1922) für Paul Arnheim und den Reformpädagogen Georg Kerschensteiner (1854 – 1932) für Gottlieb Hagauer.

1921 begann Robert Musil mit der Arbeit an seinem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. Der erste Band erschien am 26. November 1930 im Rowohlt Verlag. Zwei Jahre später wurde der dritte Teil bzw. der erste des zweiten Buches veröffentlicht (ebenfalls bei Rowohlt). Ein weiterer Teil befand sich 1938 bereits in der Setzerei, aber Robert Musil änderte noch sehr viel und fertigte dann sogar eine neue Reinschrift an, die nicht mehr in Druck ging. Bis an sein Lebensende mühte sich Robert Musil weiter mit seinem Opus magnum ab. Bei seinem Tod hinterließ er 12 000 Seiten Notizen. Daraus stellte die Witwe Martha Musil 1943 eine Fortsetzung der ersten drei Teile des Romans zusammen und publizierte sie 1943 im Selbstverlag. Adolf Frisé brachte 1978 schließlich im Rowohlt Verlag im Rahmen der gesammelten Werke von Robert Musil eine fünfbändige Ausgabe des Romans „Der Mann ohne Eigenschaften“ heraus.

Ausgewählte Ausgaben:

  • Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Band 1
    (Rowohlt Verlag, Berlin 1930, 1074 Seiten)
  • Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Band 2
    (Rowohlt Verlag, Berlin 1933, 605 Seiten)
  • Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Band 1 und 2, Hg.: Adolf Frisé
    (Rowohlt Verlag, Reinbek 1978)
  • Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften (Hörbuch, gelesen von Wolfram Berger, Regie: Hans Drawe, 36 Stunden, Zweitausendeins, Frankfurt 2004)

Literatur über „Der Mann ohne Eigenschaften“:

  • Renate von Heydebrand: Die Reflexionen Ulrichs in Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. Ihr Zusammenhang mit dem zeitgenössischen Denken (Münstersche Beiträge zur deutschen Literaturwissenschaft, Aschendorff, Münster 1966)
  • Claus Hoheisel: Physik und verwandte Wissenschaften in Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. Ein Kommentar (Dissertation, Universität Dortmund 2002)
  • Inka Mülder-Bach: Der Mann ohne Eigenschaften. Ein Versuch über den Roman (Carl Hanser Verlag, München 2013)
  • Brigitta Westphal: Musil-Paraphrasen. Eine künstlerische Auseinandersetzung mit Musils „Mann ohne Eigenschaften“ (2 Bände, Peter Lang, Bern u.a. 1995 / 1999)
  • Norbert Christian Wolf: Kakanien als Gesellschaftskonstruktion. Robert Musils Sozialanalyse des 20. Jahrhunderts (Habilitation, Freie Universität Berlin 2009)

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2013

Robert Musil (Kurzbiografie)

Robert Musil: Die Verwirrungen des Zöglings Törless (Verfilmung)

Uwe Tellkamp - Der Turm
In "Der Turm" entwirft Uwe Tellkamp ein Panorama der DDR in den 80er-Jahren. Die Darstellung ist unaufgeregt, ausufernd und außergewöhnlich detailfreudig, die Sprache z. T. überambitioniert.
Der Turm