Philip Roth : Jedermann

Jedermann
Originalausgabe: Everyman Houghton Mifflin, New York 2006 Jedermann Übersetzung: Werner Schmitz Carl Hanser Verlag, München / Wien 2006 ISBN: 978-3-446-20803-2, 172 Seiten Rowohlt-Taschenbuch-Verlag, Reinbek 2008 ISBN 978-3-499-24594-7, 157 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Philip Roth erzählt die Geschichte der Hauptfigur als Abfolge von Erkrankungen, Operationen und gescheiterten Beziehungen. "Jedermann" beginnt mit der Beerdigung des Protagonisten und endet mit seinem Tod in Vollnarkose auf dem Operationstisch. Dazwischen erinnert er sich gewissermaßen aus dem Off an verschiedene Stationen seines Lebens. Im Lauf der Zeit verliert er seine Gesundheit, Vitalität, Angehörige, Freunde – und das Leben ...
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Kritik

Trotz der lakonisch-nüchternen Sprache ist "Jedermann" ein deprimierender Roman, weil Philip Roth alle glücklichen Momente im Leben seiner Hauptfigur und in deren Umfeld ausgespart hat.
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Beim Ich-Erzähler, dessen Namen wir nicht erfahren, handelt es sich um den jüngeren der beiden Söhne eines jüdischen Juweliers in Elizabeth, New Jersey. Der Vater arbeitete zunächst als Angestellter an der Uhrentheke in Moe Abelsons Geschäft in Irvington. 1933, in dem Jahr, in dem sein zweiter Sohn geboren wird, eröffnet er in Elizabeth sein eigenes Juweliergeschäft – „Jedermanns Schmuckladen“ –, das er einundvierzig Jahre lang betreiben und erst 1974 im Alter von dreiundsiebzig Jahren aufgeben wird.

Als Neunjähriger muss sich der jüngere Sohn des Juweliers im Herbst 1942 einer Leistenbruch-Operation unterziehen. (Davor war er nur einmal im Krankenhaus, als man ihm die Mandeln entfernte.) Nachts erwacht er, weil sich Ärzte und Schwestern um den am Magen operierten Jungen im Bett neben ihm kümmern. Am anderen Morgen ist das Bett des Mitpatienten abgezogen, und der Erzähler schließt daraus, dass der andere Junge starb, während er schlief.

Nach der Leistenbruch-Operation bleibt er fünfundzwanzig Jahre lang gesund. Und er bringt es in einer renommierten Werbeagentur in New York zum Creative Director. Mitte der Sechzigerjahre trennt er sich wegen der acht Jahre jüngeren Werbetexterin Phoebe Lambert von Cecilia, seiner ersten Ehefrau, und den Söhnen Randy und Lonny.

Als er 1967 von einem vierwöchigen Urlaub mit Phoebe auf Martha’s Vineyard zurückkommt, fühlt er sich plötzlich krank. Der Hausarzt findet nichts, und der Psychiater vermutet, es handele sich um Symptome des Neids auf einen erfolgreichen Kollegen. Schließlich besteht der Erzähler darauf, in ein Krankenhaus eingewiesen zu werden. Dort wird er noch am selben Abend operiert, denn er hat einen Blinddarmdurchbruch und eine Bauchfellentzündung. Dreißig Tage lang liegt er im Krankenhaus. Sein vielbeschäftigter älterer Bruder, der bei Goldman Sachs als Bote anfing, aber inzwischen multinationale Großunternehmen bei der Devisenarbitrage berät, nimmt sich eigens vier Tage frei, um ihm Gesellschaft zu leisten.

Mit fünfzig lässt sich der inzwischen mit Phoebe verheiratete Erzähler auf eine Affäre mit seiner neunzehnjährigen Sekretärin ein, die sich gern auf den Boden seines Büros kniet, um a tergo genommen zu werden. Während einer Fotosession auf Grenada treibt er es vorwiegend anal mit dem vierundzwanzig Jahre alten Model Merete Jespersen aus Kopenhagen. Mit ihr verabredet er sich sogar für ein Wochenende in Paris. Im Hotel erhält er die Nachricht, seine Mutter sei schwer erkrankt. Als er nach Elizabeth zurückkommt, ist sie bereits seit einer Stunde tot. Und Phoebe, die sowohl von der Sekretärin als auch von Merete weiß, wirft ihn nach fünfzehn Jahren Ehe hinaus. Anders als die beiden Söhne aus seiner ersten Ehe, die ihm die Scheidung nie verziehen haben, wendet sich die dreizehnjährige Nancy, das einzige Kind von ihm und Phoebe, nicht von ihm ab.

Weil er glaubt, damit seinen Fehler wiedergutmachen zu können, heiratet er Merete, stellt aber bald fest, dass auch diese Ehe zum Scheitern verurteilt ist.

Im August 1989 gerät er im Schwimmbad in Atemnot. Die Ursache wird bei einer Angiografie gefunden: Koronararterien sind verstopft. In einer siebenstündigen Operation werden ihm fünf Bypässe gelegt. Dabei schneidet man ihm auch ein Bein von der Leiste bis zum Knöchel auf und entnimmt eine Beinvene, die für die Bypässe benötigt wird. Weil Merete durch die Situation überfordert ist, drängt Howie seinen jüngeren Bruder, sich nach der Entlassung aus dem Krankenhaus noch einige Wochen lang von zwei Pflegerinnen betreuen zu lassen. Den Nachtdienst leistet Olive Parrott, eine Schwarze aus Jamaika, tagsüber ist Maureen Mrazek da, die in der Bronx aufgewachsene Tochter eines Arbeiters. Sobald der Patient wieder dazu in der Lage ist, fängt er mit Maureen eine Affäre an, und sie begleitet ihn auch zur Beerdigung seines Vaters.

Einige Zeit nach der Scheidung von Merete steigt sein Blutdruck, und die Ärzte implantieren dem Fünfundsechzigjährigen einen Stent in der Nierenarterie. Ein Jahr später muss er an der verstopften linken Karotisarterie operiert werden. Im Jahr darauf entdeckt der Arzt, dass er aufgrund eines verengten Bypasses einen stummen Hinterwandinfarkt hatte. Ein Jahr nach der Weitung des Bypasses müssen auch in drei weitere Bypässe Stents gesetzt werden. Wieder ein Jahr später implantieren ihm die Ärzte einen Defibrillator.

Inzwischen hasst er seinen Bruder wegen dessen Gesundheit. Howie zog sich mit Ende fünfzig aus den Geschäften bei Goldman Sachs zurück. Mit einem Vermögen von 50 Millionen Dollar konnte er sich das leisten. Er sitzt nur noch in einigen Unternehmensvorständen und wurde unlängst für den Aufsichtsratsvorsitz bei Procter & Gamble vorgeschlagen.

Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 zieht der Erzähler von New York in das Seniorendorf Starfish Beach an der Küste von New Jersey. Dort erfüllt er sich einen Traum und richtet in seinem Wohnzimmer ein Maleratelier ein. Weil er sich einsam fühlt, bietet er zweimal pro Woche einen Malkurs an. Das Potenzial der Schüler ist allerdings deprimierend. Nur Millicent Kramer, die Witwe des Verlegers einer Wochenzeitung, erweist sich als begabt und lernt rasch. Doch wegen ihrer Rückenschmerzen kann sie nicht lang vor der Staffelei stehen, und noch während des Kurses nimmt sie sich mit einer Überdosis Schlaftabletten das Leben.

Bald langweilt ihn die Malerei.

„Es gibt einen Grund dafür, warum ich niemals ein Maler war. Das ist mir jetzt klargeworden.“
„Der Grund, warum du kein Maler warst“, erklärte Nancy, „ist der, dass du Frauen und Kinder hattest. Du musstest für sie sorgen. Du hattest Verpflichtungen.“
„Der Grund, warum ich kein Maler war, war der, dass ich kein Maler bin. Weder damals noch heute.“ (Seite 102)

Er geilt sich am Anblick junger Joggerinnen auf, spricht ein „kindliches Varga-Girl in Shorts und Tanktop“ an und gibt ihr seine Telefonnummer. Aber sie ruft nicht an und lässt sich in der Umgebung des Einundsiebzigjährigen nicht mehr sehen. Daraufhin beschließt er, wieder nach Manhattan zu ziehen und eine Wohnung zu mieten, die so groß ist, dass er auch seine inzwischen geschiedene Tochter mit ihren Zwillingen aufnehmen kann. Nancy, die von dem Vorhaben nichts ahnt, ruft ihn jedoch an und teilt ihm mit, dass Phoebe mit einem Schlaganfall in eine Klinik eingeliefert wurde. Sie werde ihre Mutter nach dem Krankenhausaufenthalt zu sich holen und pflegen, kündigt Nancy an.

Kurz darauf erfährt er vom Tod seines früheren Chefs Clarence Spraco. Er ruft dessen Witwe Gwen an, um ihr sein Beileid auszudrücken und sie zu trösten. Auch mit seinem früheren Kollegen Ezra Pollock telefoniert er. Bei Ezra wurde Prostata-Krebs im Endstadium diagnostiziert. Er hat nicht mehr lang zu leben. Brad Karr, der als Creative Supervisor mit dem Erzähler zusammengearbeitet hatte, wurde schon vor Wochen wegen Suizidgefahr in eine psychiatrische Klinik gebracht. Der Erzähler erkundigt sich bei Brads Ehefrau Mary nach der Telefonnummer und ruft ihn ihn. Innerhalb von vier Wochen muss er zu zwei Beerdigungen. Bei den Toten handelt es sich um Frauen aus dem Malkurs.

An ein Jenseits glaubt der Erzähler nicht, denn er versteht sich seit seiner Bar-Mizwa als Atheist.

Religion war eine Lüge, die er schon früh im Leben durchschaut hatte; er nahm Anstoß an allen Religionen, ihr abergläubisches Getue schien ihm sinnlos und kindisch […] Mit Hokuspokus über Tod und Gott und obsoleten Himmelsfantasien hatte er nichts zu schaffen. Es gab nur unsere Körper, geboren, um zu leben und zu sterben nach Bedingungen, geschaffen von Körpern, die vor uns gelebt hatten und gestorben waren. (Seite 54)

Wenige Stunden nachdem er die Nachricht von Ezras Tod erhielt, zeigt sich bei der nächsten medizinischen Jahresuntersuchung, dass nun auch die rechte Halsschlagader verstopft ist. Weil Nancy ohnehin mit ihrer Mutter genügend Sorgen hat, verschweigt er die Diagnose. Und Howie, den er gern gefragt hätte, ob er die Rekonvaleszenz auf seiner Ranch in Santa Barbara verbringen könne, ist mit seiner Frau in Tibet. Auf dem Weg zur Klinik in New York besucht er die Gräber seine Eltern auf dem verwahrlosten jüdischen Friedhof am Jersey Turnpike am Rand von Elizabeth und Newark. Dort unterhält er sich lange mit einem Totengräber über dessen Arbeit.

Anders als bei der linken Karotisarterie lässt er sich diesmal statt einer Spinalanästhesie eine Vollnarkose geben.

Er wacht nicht mehr auf.

Er war nicht mehr, befreit vom Sein, ging er ins Nichts, ohne es auch nur zu merken. Wie er es befürchtet hatte von Anbeginn. (Seite 172)

Nancy organisiert die Beerdigung ihres Vaters auf dem jüdischem Friedhof am Jersey Turnpike. Außer den von ihr eingeladenen Gästen kommt nur Maureen Mrazek. Howie sagt am Grab:

„Dass er den Schliff der Diamanten durch Vaters Juwelierslupe betrachten konnte, wird ebenfalls seinen Wunsch beflügelt haben, selber Kunstwerke zu schaffen […] Ich war der konventionelle Bruder. In mir haben Diamanten den Wunsch beflügelt, Geld zu verdienen.“ (Seite 14)

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Der Roman „Jedermann“ kreist um das Thema Tod, „die größte Beunruhigung des Lebens“ (Seite 160). Philip Roth glaubt nicht an ein Jenseits; er assoziiert den Tod mit Krankheit, Alter, Einsamkeit und Verlöschen im Nichts, mit dem Verlust von Gesundheit, Vitalität, Angehörigen, Freunden und schließlich des Lebens.

Das Alter ist kein Kampf; das Alter ist ein Massaker. (Seite 148)

Dementsprechend erzählt Philip Roth die Geschichte der Hauptfigur, deren Namen wir nicht erfahren, als Abfolge von Erkrankungen, Operationen und gescheiterten Beziehungen. „Jedermann“ beginnt mit der Beerdigung des Protagonisten und endet mit seinem Tod in Vollnarkose auf dem Operationstisch. Dazwischen erinnert er sich gewissermaßen aus dem Off an verschiedene Stationen seines Lebens.

Wie Hofmannsthal mit seinem geistlichen Mysterienspiel hat Roth einen allegorischen Text geschrieben. Und das ist die Krux. Was immer in dem Roman auftaucht, scheint geschaffen worden zu sein, um die Idee der Vergänglichkeit auf unwiderlegliche Weise zu illustrieren. obwohl der Roman vor medizinischem Fachvokabular wimmelt und der Körper als zerfallende Materie gründlichst beschrieben wird, hat Roth – und zwar vorsätzlich, ja geradezu soweit ihm dies überhaupt möglich ist … – keine Figuren aus Fleisch und Blut geschaffen, sondern eine allegorische Gestalt entworfen, an der ihn nur jene Seiten interessieren, die unter dem Aspekt ihrer Todesverzweiflung von Belang sind. (Ijoma Mangold, Süddeutsche Zeitung, 17. August 2006)

Trotz der lakonisch-nüchternen Sprache ist „Jedermann“ ein deprimierender Roman, weil Philip Roth alle glücklichen Momente im Leben seiner Hauptfigur und in deren Umfeld ausgespart hat. Selbst die erotischen Abenteuer des Protagonisten erweisen sich als verhängnisvoll.

Den Roman „Jedermann“ gibt es auch in einer ungekürzten Hörbuch-Fassung, gelesen von Peter Fitz (Regie: Ralph Schäfer, München 2006, 4 CDs, ISBN: 978-3-89940-929-1).

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2010
Textauszüge: © Carl Hanser Verlag

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.