Philip Roth : Nemesis

Nemesis
Originalausgabe: Nemesis Houghton Mifflin, Boston 2010 Nemesis Übersetzung: Dirk van Gunsteren Carl Hanser Verlag, München 2011 ISBN: 978-3-446-23642-4, 221 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der junge jüdisch-amerikanische Lehrer Bucky Cantor fühlt sich schuldig, weil er wegen Sehschwäche und geringer Körpergröße nicht im Zweiten Weltkrieg für sein Land kämpfen darf. Als er sich auch noch vorwirft, ihm anvertraute Kinder mit Polio-Viren infiziert zu haben, hadert er mit Gott, obwohl er eigentlich an keinen glaubt. Die Krankheit macht ihn zum Krüppel, physisch wie psychisch ...
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Kritik

"Nemesis" ist ein düsterer Roman. Philip Roth erzählt die tragische Geschichte stringent und schnörkellos, sachlich und zurückhaltend.
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Eugene („Bucky“) Cantor wuchs bei seinen jüdischen Großeltern in Weequahic auf, einem Viertel im Südwesten von Newark, New Jersey. Seine Mutter war bei seiner Geburt gestorben, und sein Vater, ein Buchhalter in einem großen Kaufhaus, hatte wegen seiner Wettschulden Geld unterschlagen, war zwei Jahre im Gefängnis gewesen und danach nie wieder nach Newark zurückgekehrt. Bucky hat ihn nie gesehen. Er besuchte die South Side Highschool in Newark und studierte am Panzer College für Sport und Hygiene in East Orange. Nach dem Abschluss im Juni 1943 wurde er Sportlehrer an der Chancellor Avenue School in Newark.

Als die USA nach dem Angriff auf Pearl Harbor in den Krieg eingetraten, meldete er sich sofort, wurde jedoch wegen seiner Sehschwäche und seiner geringen Körpergröße nicht genommen. Dabei ist Bucky ein hervorragender Speerwerfer und Turmspringer. Es quält ihn, dass er nicht wie seine besten Freunde Jake Garonzik und Dave Jacobs, die bei der Invasion in der Normandie dabei sind, für sein Land kämpfen darf.

In den Sommerferien 1944 beaufsichtigt der Dreiundzwanzigjährige einen Sportplatz im jüdischen Stadtteil Weequahic. Einige aus dem italienischen Viertel stammende Halbstarke versuchen, ihn und die ihm anvertrauten Kinder zu provozieren, aber Bucky stellt sich ihnen mutig in den Weg, bis sie auf den Boden spucken und wegfahren.

Die Spucke lässt Bucky mit Wasser und Ammoniak wegspülen, denn im italienischen Viertel gibt es einige Fälle von Kinderlähmung.

Einige Tage später erkranken Herbie Steinmark und Alan Michaels, zwei der Kinder, die auf dem Sportplatz waren, an Poliomyelitis. Es sind die ersten Fälle im jüdischen Viertel. Doch innerhalb von achtundvierzig Stunden steigt die Zahl der Patienten auf dreizehn. Die meisten Bewohner, die von dem Vorfall auf dem Sportplatz gehört haben, gehen davon aus, dass die Italiener die Viren einschleppten. Andere führen die Epidemie auf Müll oder Mücken zurück. Auch die afroamerikanischen Putzfrauen stehen im Verdacht, den Erreger herumzutragen. Ein Jugendlicher glaubt, dass Horace, der „Idiot“ des Viertels, daran schuld sei, weil er sich nicht wäscht. Der Vater eines der Kinder, die auf dem Sportplatz waren, macht Bucky dafür verantwortlich, weil er die Jungen nicht davon abhielt, sich zu erhitzen. Als Herbie stirbt, sucht Bucky die Eltern auf, um ihnen sein Beileid auszusprechen. (Von dem Eistee, der ihm angeboten wird, trinkt er vorsichtshalber nichts.) Alan Michaels erliegt der Krankheit ebenfalls.

Marcia Steinberg macht sich Sorgen um Bucky. Sie lernten sich im Vorjahr an der Chancellor Avenue School kennen, wo sie beide unterrichten. Inzwischen sind sie ein Paar. Marcias Vater ist Arzt in Newark, ihre Mutter hatte als Englischlehrerin gearbeitet, bevor sie 1922 Marcia und 1933 deren Schwestern gebar. Sheila und Phyllis Steinberg sind Zwillinge. In den Sommerferien engagiert Marcia sich als Oberbetreuerin in Indian Hill, einem jüdischen Ferienlager in den Pocono Mountains in Pennsylvania.

Als sie erfährt, dass ihr Kollege Irv Schlanger zum Kriegsdienst eingezogen wird und der Besitzer Bill Blomback deshalb jemand für die Badeaufsicht im Camp sucht, schlägt sie Bucky vor. Überglücklich teilt sie ihrem Freund am Telefon mit, dass Blomback ihn einstellen will. Bucky lehnt das Angebot zunächst ab, denn aufgrund seines Pflicht- und Verantwortungsbewusstseins widerstrebt es ihm, die Jungen in Weequahic im Stich zu lassen. Außerdem müsse er seine verwitwete Großmutter versorgen, erklärt er Marcia, aber die Zweiundzwanzigjährige meint, das könne auch das eine Etage tiefer wohnende junge Ehepaar Einneman übernehmen.

Am nächsten Tag sucht Bucky Marcias Vater in Newark auf und bittet ihn um die Erlaubnis, Marcia die Verlobung vorschlagen zu dürfen. Dr. Steinberg freut sich darüber.

In einem Telefongespräch unterrichtet Bucky Marcia darüber und kündigt an, dass er die Badeaufsicht im Camp Indian Hill übernehmen werde. Dann informiert er seinen Vorgesetzten und begründet seinen Weggang mit der Verlobung. O’Gara unterstellt ihm jedoch, vor der Polio-Epidemie zu fliehen.

Bucky fährt mit dem Zug nach Stroudsburg, wo er von einem Fahrer des Camps abgeholt wird.

Nach Einbruch der Dunkelheit paddelt er mit Marcia in einem Kanu zu einer unbewohnten Insel. Dort ziehen sie sich nackt aus und lieben sich. Danach erzählt Marcia, sie habe für seine Gesundheit gebetet. Bucky, der nicht an Gott glaubt, hält davon nichts, und sie beenden den schönen Abend im Streit.

Zurück im Camp, macht Bucky sich Vorwürfe, die Jungen in Newark verlassen zu haben, nachdem er schon vom Militärdienst befreit worden war.

Und doch – es gab einen Krieg, in dem er kämpfen konnte, und er wurde auf dem Schlachtfeld seines Sportplatzes geführt. Er war aus diesem Krieg desertiert und zu Marcia geflohen, in die Sicherheit von Camp Indian Hill. Wenn er schon nicht in Europa oder im Pazifik kämpfen konnte, dann hätte er wenigstens in Newark bleiben und seinen gefährdeten Jungen in ihrer Angst vor der Kinderlähmung beistehen können.

Er nimmt sich vor, nach Newark zurückzukehren, obwohl er Marcia damit schwer verletzten würde.

Am nächsten Morgen ändert er jedoch seine Meinung und bleibt im Camp Indian Hill.

Telefonisch erkundigt er sich, ob die Einnemans sich ausreichend um seine Großmutter kümmern. Die alte Dame versichert ihm, dass es ihr an nichts fehle. Und sie unterrichtet ihn darüber, dass sich die Polio-Epidemie in Weequahic und in ganz Newark weiter ausgebreitet hat. Neunzehn Menschen sind bereits gestorben. Nun werden die Sportplätze geschlossen, ebenso wie Freibäder und Leihbüchereien.

Wäre Bucky nur ein paar Tage länger in Newark geblieben, bräuchte er sich jetzt keine Vorwürfe zu machen. Dann wäre die Grundlage für den Ferienjob entfallen, und er hätte ohne Kündigung ins Camp Indien Hill wechseln können.

Wenige Stunden nach seinem Telefongespräch mit der Großmutter ruft sie noch einmal an, um ihm mitzuteilen, dass sein Freund Jake Garonzik in Frankreich gefallen sei.

Bucky ist noch keine ganze Woche im Ferienlager, als der siebzehnjährige Betreuer Donald Kaplow krank wird, mit dem er viel zusammen war. Die Symptome lassen befürchten, dass es sich um Kinderlähmung handelt. Bill Blomback fährt Donald nach Stroudsburg ins Krankenhaus.


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Am nächsten Morgen gibt Blomback bekannt, dass Donald Kaplow an Poliomyelitis leide. Und Dr. Huntley, der für das Camp zuständige Arzt, gibt den Kindern und Jugendlichen Anweisungen, wie sie sich vor einer Ansteckung schützen sollen.

Bucky wendet sich an Dr. Huntley. Er sorgt sich, dass er die Seuche aus Weequahic eingeschleppt haben könnte. Der Mediziner erklärt ihm, es komme nur sehr selten vor, dass jemand die Viren verbreitet, ohne selbst krank zu sein. Um Bucky zu beruhigen, nimmt er ihn mit nach Stroudsburg, damit im Krankenhaus eine Rückenmarkspunktierung vorgenommen werden kann. Dabei stellt sich heraus, dass Bucky tatsächlich mit Polio-Viren infiziert ist. Er muss in die Isolierstation.

Mehr als hundert Kinder werden von ihren Eltern aus dem Ferienlager geholt. Als zwei weitere Kinder erkranken, bleibt Blomback nichts anderes übrig, als das Camp zu schließen. Die Zahl der Patienten steigt weiter. Auch Marcias Schwester Sheila gehört dazu.

Schließlich bricht die Poliomyelitis auch bei Bucky aus. Glücklicherweise bleibt seine Atemmuskulatur intakt, und er ist nicht wie Donald Kaplow auf eine eiserne Lunge angewiesen. Doch aufgrund der Lähmungen verkümmern sein linker Arm und die linke Hand. Auch die Beine bleiben gelähmt.

Zur Rehabilitation kommt Bucky ins Sister Kenny Institute in Philadelphia.

Nach vierzehn Monaten wird er von dort entlassen.

Weil kaum jemand einen Behinderten einstellt, schlägt er sich mit Aushilfsarbeiten durch, bis er endlich eine Festanstellung im Büro des Hauptpostamtes von Newark bekommt.

1971 wird er auf der Straße von Arnold („Arnie“) Mesnikoff angesprochen. Der jetzt Neununddreißigjährige war 1944 einer der Jungen gewesen, die Bucky auf dem Sportplatz in Weequahic betreut hatte. Arnie erkrankte damals auch an Kinderlähmung. Ein Jahr lang saß er im Rollstuhl. Seither geht er mit Hilfe von Beinschienen und Krücken. Er studierte Architektur und betreibt gegenüber dem Hauptpostamt sein eigenes Büro. Arnie ist seit achtzehn Jahren verheiratet und hat mit seiner Frau zwei Kinder.

Bucky erzählt ihm, er habe sich damals von Marcia getrennt und nie wieder eine Beziehung mit einer Frau gehabt. Marcia wollte ihn bereits auf der Isolierstation in Stroudsburg sehen, aber das ließ er nicht zu. Dann fuhr sie nach Philadelphia und besuchte ihn im Sister Kenny Institute. Er erklärte ihr, dass er die Beziehung abbrechen wolle, um ihr Leben nicht auch noch zu zerstören. Sie sollte frei sein. Ihr Protest stimmte ihn nicht um. Sie gerieten in Streit, und er hat seither nie mehr etwas von Marcia gehört.

„Gott hat meine Mutter bei meiner Geburt getötet. Gott hat mir einen Vater gegeben, der ein Dieb war. Gott hat mir Kinderlähmung gegeben, und ich habe sie an mindestens ein Dutzend Kinder weitergegeben, unter anderem an Marcias Schwester. Unter anderem vermutlich an Sie. Unter anderem an Donald Kaplow. Er ist im August 1944 im Krankenhaus von Stroudsburg gestorben, in einer eisernen Lunge.“

Arnie erkennt, dass Bucky verbittert ist und den Gott verflucht, an den er eigentlich gar nicht glaubt.

Das Göttliche als Feind unserer Existenz? […] Nur eine feindliche Gottheit konnte eine Krankheit wie Kinderlähmung erschaffen […] Wenn man alles zusammennahm, sprach vieles für die Existenz einer feindlichen Gottheit. Und sie war allmächtig. Buckys Vorstellung von Gott, wie ich sie zu verstehen glaubte, war die von einem allmächtigen Wesen, auf dessen Natur und Absicht man nicht aus zweifelhaften biblischen Quellen, sondern ausschließlich aus unwiderleglichen, im Lauf eines Lebens im zwanzigsten Jahrhundert gesammelten historischen Beweisen schließen durfte. Seine Vorstellung von Gott war die von einem allmächtigen Wesen, das keine Dreifaltigkeit war wie im Christentum, sondern eine Zweifaltigkeit – die Vereinigung eines perversen Arschlochs mit einem bösartigen Genie.

[Bucky] konnte nicht akzeptieren, dass die Polioepidemie in Weequahic und Camp Indian Hill eine Tragödie war. Die Tragödie musste in Schuld verwandelt werden.

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Der junge jüdisch-amerikanische Lehrer Eugene („Bucky“) Cantor fühlt sich schuldig, weil er wegen seiner Sehschwäche und seiner geringen Körpergröße nicht im Zweiten Weltkrieg für sein Land kämpfen darf. Als er sich auch noch vorwirft, ihm anvertraute Kinder mit Polio-Viren infiziert zu haben, hadert er mit Gott, obwohl er eigentlich an keinen glaubt. Die Krankheit macht auch ihn zum Krüppel, physisch wie psychisch.

„Nemesis“ ist ein düsterer Roman von Philip Roth.

Der Protagonist wirkt wie eine Gegenfigur zu Franklin D. Roosevelt (1882 – 1945), der im Sommer 1921 erkrankte und gelähmt blieb. (Ob es sich um Poliomyelitis oder das seltene Guillain-Barré-Syndrom handelte, ist unklar.) Der US-Präsident gründete 1938 die US-National-Foundation for Infantile Paralysis und führte auch erfolgreich Krieg gegen eine weitere Seuche, die des Faschismus.

Erst auf Seite 88 gibt Philip Roth einen Hinweis auf den Ich-Erzähler („Drei weitere Jungen waren an Kinderlähmung erkrankt: Leo Feinswog, Paul Lippman und ich, Arnie Mesnikoff“), und es dauert noch weitere rund hundert Seiten, bis dieser nach einem Zeitsprung von siebenundzwanzig Jahren (von 1944 auf 1971) im Rest des Buches durchgängig auftritt. Philip Roth lässt Arnie die tragische Geschichte stringent und schnörkellos, sachlich und zurückhaltend erzählen.

Die Polio-Epidemie 1944 in Newark ist fiktiv. Dass man damals nicht wusste, auf welche Weise sich der Erreger verbreitet und es noch keine Schutzimpfung dagegen gab, entspricht jedoch den Tatsachen.

Den Roman „Nemesis“ von Philip Roth gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Joachim Schönfeld (Regie: Ralf Ebel, München 2011, 6 CDs, ISBN 978-3-86717-710-8).

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2011
Textauszüge: © Carl Hanser Verlag

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon einen Monat, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte. Aus familiären Gründen reduziere ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik.