T. C. Boyle : Sprich mit mir

Sprich mit mir
Talk to Me Bloomsbury Publishing, New York 2021 Sprich mit mir Übersetzung: Dirk van Gunsteren Carl Hanser Verlag, München 2021 ISBN 978-3-446-26915-6 (349 Seiten) ISBN 978-3-446-26987-3 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

1978 gibt es eine Reihe von Versuchen zur Erforschung der kognitiven Fähigkeiten von Primaten. Prof. Guy Schermzerhorn ist es gelungen, dem dreijährigen Schimpansen Sam so viel Gebärdensprache beizubringen, dass eine Kommunikation mit ihm möglich ist. Die Studentin Aimee Villard begeistert sich für Sam, und die beiden entwickeln eine enge Beziehung wie zwischen zwei Personen ...
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Kritik

Der Roman "Sprich mit mir" dreht sich um das Verhältnis von Mensch und Tier bzw. Mensch und Natur. T. C. Boyle nimmt zwar die Haltung eines auktorialen Erzählers ein, schaut dabei aber abwechselnd drei Menschen über die Schulter und versucht sich zwischendurch in den Schimpansen Sam hineinzudenken.
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Sam und Aimee

Die 21-jährige Aimee Villard aus Calabasas/Kalifornien studiert 1978 in Santa Maria/Kalifornien im Hauptfach Frühpädagogik und hat noch keine klaren Vorstellungen über ihre Zukunft. Eigentlich müsste sie lernen, aber sie schaut sich Bill Cullens TV-Show „Sag die Wahrheit“ an – und das verändert ihr Leben.

Professor Guy Schermzerhorn ist mit dem drei Jahre alten Schimpansen Sam in der Sendung und demonstriert, dass dieser in Gebärdensprache mit ihm kommunizieren kann.

Aimee bewirbt sich bei dem elf Jahre älteren Forscher Guy Schermzerhorn auf der Harlow Ranch als studentische Hilfskraft, und als Sam sie zum ersten Mal sieht, springt er ihr in die Arme. Zweifellos mag er sie.

Obwohl er kurz zuvor eine andere Studentin ins Gesicht gebissen hat, fühlt Aimee sich in Sams Nähe sicher und ist überzeugt, dass er sie nie angreifen würde. Zwischen ihr und dem Schimpansen entsteht eine enge Beziehung, nicht wie zwischen Herr und Hund, Mensch und Tier, sondern wie zwischen zwei Personen. Sam missfällt es, dass Aimee sich in Guy verliebt und anfängt, mit ihm zu schlafen. Als er die beiden im Bett liegen sieht, reagiert er unwirsch:

„Alles in Ordnung, Sam“, sagte Guy. […]
Aber Sam sträubte die Haare. Er stieß zwei kurze, bellende Laute aus und sprang auf das Bett. „Es ist alles okay“, sagte sie, aber nichts war okay, jedenfalls nicht für Sam. Er sah ihr lange in die Augen, und dann zog er die Bettdecke zurück und berührte erst ihre rechte und dann ihre linke Brust. Dann sah er Guy an und berührte, ohne den Blick abzuwenden, noch einmal ihre Brüste, erst die rechte, dann die linke.

Das Ende der Spracherwerbs-Forschung

Mehr als ein Jahr später veröffentlicht Guys Kollege Borstein einen Aufsatz, in dem er behauptet, Spracherwerbs-Programme mit Tieren gehörten nicht an die Universität, sondern in den Zirkus, denn Tiere seien nicht in der Lage, die menschliche Sprache auch nur ansatzweise zu erlernen.

Guys Institutsleiter steht den Experimenten mit Sam ohnehin kritisch gegenüber, und als sich nun die publizierte Meinung dreht, bleiben Forschungsgelder aus. Guy bemüht sich darum, mit Sam und Aimee in die populäre TV-Show von Johnny Carson eingeladen zu werden. Die öffentliche Aufmerksamkeit könnte Rückenwind zum Weitermachen erzeugen. Johnny Carsons Assistentin Renee Flowers empfängt Guy zwar in Burbank/Kalifornien, vertröstet ihn aber auf später.

Weil sich der Besitzer des Schimpansen, Professor Dr. Donald Moncrief, nichts mehr von einer Fortsetzung des Experiments mit Sam erhofft, holt er ihn auf seine Farm in Davenport/Iowa zurück und sperrt ihn wie 40 andere Schimpansen in einen Käfig. Moncrief trägt eine Augenklappe, seit ihm ein aggressiver Schimpanse ein Auge zerstört hat. Er und sein 28 Jahre alter Doktorand Jack Serfis nähern sich den Tieren nur noch mit einem Elektroschocker in der Hand.

Befreiung

Aimee erträgt die Trennung von Sam nicht. Mit ihrem Auto fährt sie nach Davenport und bietet dem Professor an, unentgeltlich für ihn zu arbeiten. Moncrief lässt zu, dass sie den „Affenstall“ – wie er es nennt – sauber hält.

Sam leidet in der Gefangenschaft – bis Aimee ihn aus dem Käfig befreit und mit ihm flieht.

Nach ein paar Tagen auf einem Campingplatz mietet sie einen Wohnwagen im Trailerpark von Gary und Brenda Sue Booth bei Kingman/Arizona.

Der katholische Pater Curran hört von dem Schimpansen, der mit seiner Begleiterin in einer Gebärdensprache kommuniziert. Er nimmt Kontakt mit ihr auf und lässt sich von ihr überreden, Sam zu taufen.

An Halloween pochen fünf als Piraten verkleidete Betrunkene an der Tür. Aimee öffnet, und als Sam den vordersten Mann mit einer Augenklappe sieht, erschrickt er, weil er an den Professor mit dem Elektroschocker denkt. Er springt den Mann an und wirft ihn rückwärts um.

Der am Fußknöchel Verletzte droht dem Trailerpark mit einer Anzeige, aber Aimee kann Brenda die Kündigung noch einmal ausreden.

Bald darauf wird in einen benachbarten Wohnwagen eingebrochen. Die allein lebende Besitzern merkt es, als sie von der Arbeit kommt, und die Spur führt zu Aimees Trailer. Sam muss es gewesen sein.

„Was hast du dazu zu sagen, Sam?“, wollte Aimee wissen, ging zu ihm und baute sich, die Hände in die Hüften gestemmt, im Verhörmodus vor ihm auf.
Und da geschah etwas, das nicht aufhörte, sie zu erstaunen, und im Lauf der nächsten Wochen erzählte sie die Geschichte mindestens ein Dutzend Mal: Sam log. Dabei konnten Tiere doch gar nicht lügen. […] Sie fragte ihn noch einmal, strenger.
In Gebärdensprache behauptet Sam, Guy sei der Einbrecher gewesen.
„Verarsch mich nicht“, sagte sie. „Wie hätte Guy das tun sollen? Er ist nicht mal hier.“
Noch ein Gebärde. Die langen Finger tanzten, die Augen wichen ihrem Blick aus.
„Nein, war er nicht. Er ist in Kalifornien, wie du weißt. Er ist nicht in den Trailer dieser Frau eingebrochen“, sagte sie und machte gleichzeitig die entsprechende Gebärden. „Das warst du.“
Wenn er lächelte, zog er die Lippen zurück, so dass man Zahnfleisch und Zähne sehen konnte, und genau das tat er jetzt. Er war komisch und liebenswert und noch etwas anderes – sie sah es zum ersten Mal, und es jagte ihr einen Schauer über den Rücken: Er war berechnend. Er war kein Mensch, aber auch kein Tier, sondern etwas dazwischen, etwas Unnatürliches, Deformiertes, auch wenn Pater Carran sich hatte täuschen lassen.

Nach dem Einbruch findet Aimee sich damit ab, dass Brenda ihr zum Monatsende kündigt. Sie sieht sich nach einem anderen Trailerpark um.


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überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Das Ende

Aber bevor Aimee umziehen kann, stehen Donald Moncrief und Jack Serfis in der Tür des Wohnwagens.

Aimee hatte Guy angerufen und ihm verraten, wo sie sich mit Sam versteckte. Er besuchte sie, aber sie gerieten in Streit, er reiste vorzeitig wieder ab – und rief Donald Moncrief an, um ihm mitzuteilen, wo Sam zu finden sei.

Der Professor verlangt sein Eigentum zurück. Als Sam ihn erkennt, stürzt er sich auf ihn, wirft ihn um, wie den Betrunkenen an Halloween, lässt dann jedoch nicht von ihm ab, sondern zerbeißt ihm das Gesicht. Serfis schießt mit der Betäubungspistole auf Sam, aber der reißt sich den Pfeil aus dem Arm und beißt dem Assistenten den Daumen der Hand ab, mit der er die Betäubungspistole hält. Im nächsten Augenblick kommt Brenda mit einer Schusswaffe, und ein Bewohner nähert sich mit einem Gewehr. Sam flieht auf die nahe Mesa, während Brenda die Polizei ruft.

Aimee weiß, was das bedeutet. Um Sam eine erneute Gefangenschaft im Käfig zu ersparen, löst sie eine tödliche Dosis Betäubungstabletten in einer Flasche Cola auf und geht damit zu Sam hinauf. Obwohl er merkt, dass das Getränk ungewohnt schmeckt, trinkt er die Flasche aus, weil er Aimee vertraut.

Als sich die Polizei mit Spürhunden nähert, hängt er tot in ihren Armen.

Donald Moncrief, der nach Sams Angriff vollends erblindet ist, verkauft die anderen vierzig Schimpansen an eine Einrichtung, die sie mit HIV infiziert und für die AIDS-Forschung verwendet.

Aimee, die nun wieder bei ihrer Mutter in Calabasas wohnt und weiterstudieren möchte, muss mit einer Anklage wegen Diebstahls und Fahrlässigkeit bei der Beaufsichtigung eines gefährlichen Tieres rechnen. Außerdem verlangt Donald Moncrief Schadenersatz für Sam.

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In den Sechziger- und Siebzigerjahren gab es eine Reihe von Versuchen zur Erforschung der kognitiven Fähigkeiten von Primaten. Dem Psychologen und Anthropologen Roger Sheridan Fouts (*1943) gelang es, der Schimpansin Washoe mehrere hundert Begriffe in der Gebärdensprache der Gehörlosen beizubringen, die das Tier sinnvoll verwendete und sogar zu Begriffsketten verknüpfte. Washoe verstand auch Wenn-dann-Bezüge. Der Linguist Noam Chomsky (*1928) hielt es dagegen für undenkbar, dass Primaten jemals mit Menschen kommunizieren könnten.

Vor diesem Hintergrund erzählt T. C. Boyle in seinem Roman „Sprich mit mir“ von einem Schimpansen, der nicht nur eine Gebärdensprache erlernt, sondern zumindest in den Augen seiner Bezugsperson, der Studentin Aimee, eine Persönlichkeit entwickelt und sogar von einem katholischen Pater getauft wird.

„Sprich mit mir“ dreht sich um das Verhältnis von Mensch und Tier bzw. Mensch und Natur. T. C. Boyle doziert zwar nicht, sondern inszeniert eine farbige Geschichte, aber er lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass er Experimente mit Primaten wie die Spracherwerbs-Programme für fragwürdig hält. Vermutlich ist es kein Zufall, dass Aimee und Sam gegen Ende zu eine Verfilmung des Romans „Frankenstein oder Der moderne Prometheus“ von Mary Shelley anschauen: Wenn der Mensch in seiner Hybris ein Tier zum Sprechen bringen will, droht ein Monster daraus zu werden.

Es ist konsequent, dass T. C. Boyle seinen Roman „Sprich mit mir“ tragisch enden lässt.

Er nimmt zwar die Haltung eines auktorialen Erzählers ein, schaut dabei aber abwechselnd Aimee, Guy und Brenta über die Schulter. Mitunter wiederholt er Teile einer Szene aus verschiedenen Perspektiven. Eingestreut sind Kapitel, in denen T. C. Boyle versucht, sich in Sam einzufühlen. Begriffe, die Sam in der Gebärdensprache gelernt hat, sind dabei in Großbuchstaben gesetzt. In diesen Abschnitten fühlen wir zwar die Qualen, die Sam während der Käfighaltung erleidet, aber wie T. C. Boyle das Geschehen aus der Sicht des Primaten schildert, ist nicht überzeugend.

Ein wenig verwirrend ist übrigens, dass Aimee an der UCSM in Santa Maria studiert. Es gibt tatsächlich eine UCSM, die Universidad Católica de Santa Maria, aber die befindet sich in Peru. Aimee lebt jedoch in Kalifornien – wo es auch einen Ort mit dem Namen Santa Maria gibt –, bevor sie nach Iowa fährt und dann mit Sam nach Arizona zieht.

Bemerkenswert ist, dass „Sprich mit mir“ am 25. Januar 2021 in der Übersetzung von Dirk van Gunsteren in Deutschland erschien und die Originalausgabe „Talk to Me“ erst für 20. Mai geplant ist.

Den Roman „Sprich mit mir“ von T. C. Boyle gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Florian Lukas.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2021
Textauszüge: © Carl Hanser Verlag

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