T. C. Boyle : América

América
Originaltitel: The Tortilla Curtain Originalausgabe: New York, 1995 América Übersetzung: Werner Richter Carl Hanser, München 1996 dtv, München 2018 ISBN 978-3-423-14675-3, 400 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

T. C. Boyle schildert nicht nur, wie ein illegales Einwandererpärchen fast täglich übervorteilt oder von Schicksalsschlägen getroffen wird, sondern er veranschaulicht gleichzeitig, wie selbst ein naturverbundener "liberaler Humanist" durch mehrere ihm bedrohlich erscheinende Begegnungen zum Rassenhasser mutiert.
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Kritik

"América" ist eine mitreißende, erschütternde Geschichte aus kunstvoll verflochtenen Handlungsfäden. Tom Coraghessan Boyle erzählt sie in bildhaften, wie in einem Spielfilm montierten Szenen und Rückblenden.
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Delaney Mossbacher kam vor zwei Jahren von New York nach Los Angeles. Er wohnt mit seiner zweiten Ehefrau, der erfolgreichen Immobilienmaklerin Kyra und ihrem sechsjährigen Sohn Jordan in Arroyo Blanco Estates, einer Wohnanlage am Ende eines Cañons unweit des Stadtrands. Delaney arbeitet zu Hause: er schreibt Kolumnen über Natur und Ökologie für die Zeitschrift „Wide Open Spaces“. Die Ideen dafür sammelt er auf Wanderungen in der Umgebung.

Delaney ist in seinem wachsgepflegten milchweißen „Acura Vigor GS“ unterwegs, um alte Zeitungen und leere Gläser zu den Recycling-Containern im Topanga State Park zu bringen. Plötzlich läuft ihm ein Mexikaner vors Auto; Delaney tritt voll aufs Bremspedal, schleudert, kann aber den Aufprall nicht vermeiden.

Zu seiner Beschämung dachte Delaney als erstes an das Auto (war es beschädigt, verbeult, zerkratzt?), dann an die Versicherungsprämie (was würde nun aus seinem Bonus für unfallfreies Fahren werden?) und erst danach, reichlich spät, an das Opfer.

Er steigt aus, aber der Mann ist verschwunden. Erst nach längerem Suchen findet er ihn hinter den Büschen am Straßenrand liegen. Blut rinnt ihm aus dem Mundwinkel, in der linken Gesichtshälfte klafft eine Wunde. Mehrmals fragt Delaney, ob er helfen könne, aber er spricht ebenso wenig Spanisch wie der Verletzte Amerikanisch: Eine Verständigung ist unmöglich.

Auf einmal grinste der Mann, versuchte es jedenfalls. Ein Film aus Blut überzog seine schiefen Zähne, und er leckte ihn mit der Zunge weg. „Geld?“, murmelte er undeutlich und rieb Daumen und Zeigefinger der freien Hand aneinander.

Delaney stopft ihm einen 20-$-Schein in die zerschlissene Hose und kehrt zu seinem Wagen zurück.

Später fällt ihm ein, dass er in der Nähe der Unfallstelle einen Einkaufswagen sah. Kampierte der Mexikaner etwa da unten im Cañon? Ist er einer von denen, die ihre leeren Dosen, Flaschen und Verpackungsreste am Ufer des Bachs herumliegen lassen? Und womöglich zündet der Kerl ein Feuer an. Dabei ist der Cañon um diese Jahreszeit trocken wie Zunder.

Der Verletzte heißt Cándido Rincón. Seit drei Wochen lebt der 33-Jährige mit seiner 17-jährigen schwangeren Freundin América im Cañon. Die beiden stammen aus Tepoztlán.

Mit sechs verlor Cándido seine Mutter. Damals befürchtete er, an ihrem Tod schuld zu sein, weil er nicht brav genug gewesen war. Sein Vater heiratete wieder, und Cándido wuchs bei seiner Tante Lupe auf. Im Alter von 20 Jahren heiratete er Resurrección. In den neun Monaten vor der Hochzeit hatte er auf Kartoffeläckern in Idaho und in Zitrusplantagen von Arizona so viel Geld verdient, wie das Lederwarengeschäft seines Vaters im ganzen Leben nicht abwerfen würde. Auch in den folgenden Jahren ging er jeden Sommer illegal über die Grenze, um in den USA zu arbeiten — immer auf der Hut vor der Einwanderungsbehörde. Als er im achten Jahr nach Tepoztlán zurückkam, erfuhr er, dass seine Frau zu Teófilo Aguadulce nach Cuernavaca gezogen und im sechsten Monat schwanger war. Kurz darauf kam Teófilo Aguadulce nach Tepoztlán. Auf der Plaza stellte Cándido ihn zur Rede, aber sein Rivale warf ihn vor aller Augen in den Dreck.

Cándido begann zu trinken, wurde Feuerschlucker und machte Holzkohle, um zu überleben. Dann begegnete er Resurreccións jüngster, jetzt 16-jähriger Schwester América, die er vor zwölf Jahren bei seiner Hochzeit als Blumenmädchen kennen gelernt hatte. Sie wurden ein Paar, auch wenn sie nicht heiraten konnten, weil Cándido vor dem Gesetz nach wie vor mit Resurrección verheiratet war.

Cándido schwärmte dem Mädchen von einem Leben in den USA vor, bis sie mit ihm eines Nachts heimlich Tepoztlán verließ. Vor dem Wellblechzaun an der Grenze kauerten sie zusammen mit einem halben Dutzend anderer Mexikaner die halbe Nacht, bis ihnen der Schlepper, dem Cándido zwei Drittel seiner Ersparnisse bezahlt hatte, um 4 Uhr morgens ein Zeichen gab und sie durch ein Loch im Zaun schlüpften. Der Schlepper war plötzlich verschwunden. Dafür machte sich eine Bande von sechs, sieben Männern über sie her. Sie schnitten Cándido die Hosentaschen auf, um an sein Geld zu kommen. Dann setzten sie ihn mit einem Baseballschläger außer Gefecht, während sie América zu Boden warfen, ihr das Kleid zerfetzten und die Unterwäsche herunterrissen. In dem Augenblick tauchte ein Hubschrauber mit eingeschalteten Suchscheinwerfern über ihnen auf. América rannte splitternackt über das Feld, aber sie kam nicht weit. Die Mexikaner wurden von Beamten zusammengetrieben und auf die andere Seite des Grenzzauns zurückgebracht. Erst beim zweiten Versuch kamen sie durch.

Heute Morgen ging América dreizehn Kilometer weit von ihrem Lager unten im Cañon zur nächsten Bushaltestelle und fuhr mit dem Bus zu einer Adresse in Venice, die sie von jemand erhalten hatte. Aber es gab weder den erhofften Job als Näherin, noch eine andere Arbeitsmöglichkeit, und jetzt ist América wieder auf dem Weg hinunter in den Cañon. Da sieht sie Cándido liegen.

Als erstes glaubte sie, er sei betrunken — habe Arbeit gefunden und dann gezecht, kaltes Bier und Wein getrunken, während sie sich durch die sieben Kreise der Hölle gequält hatte –, und sie spürte Wut in sich aufsteigen.

Dann merkt sie, dass er ernsthaft verletzt ist. Der linke Wangenknochen ist „eingedrückt wie ein verfaulender Kürbis“, das linke Auge zugeschwollen, seine Nase schmerzt, und sein Kopf dröhnt aufgrund einer Gehirnerschütterung. Aber sein Gesicht hält Cándido für unwichtig.

Wen kümmerte es, wie hässlich er war, solange er arbeiten konnte?

Schlimmer ist der bohrende Schmerz in der Hüfte und dass er den linken Arm nicht bewegen kann. América will mit ihm zu einem Arzt. Aber Cándido wehrt ab: Wer soll das bezahlen? Außerdem müssten sie damit rechnen, dass der Arzt die Einwanderungsbehörde alamiert. Er werde schon nicht sterben! Aber da ist Cándido plötzlich nicht mehr so sicher.

Am vierten Tag nach dem Unfall will América sich frühmorgens heimlich davonschleichen. Cándido tobt, denn er weiß, was sie vorhat: Sie will sich eine Arbeit suchen, weil er dazu nicht in der Lage ist. Er fühlt sich gedemütigt, nutzlos und impotent wie ein alter Mann.

América klettert hinauf zu einem Parkplatz an der Straße, wo Candelario Pérez eine Arbeitsvermittlung improvisiert: Hin und wieder kommt jemand vorgefahren und sucht beispielsweise zwei, drei Leute für Anstreich- oder Gartenarbeiten. América hat Glück: Ein Mann nimmt sie und eine andere Frau namens Mary in seinem Wagen mit zu einem Lagerraum, wo sie rosarote Buddha-Statuen mit einer ätzenden Flüssigkeit von ihrem schwarzen Belag reinigen und dann mit einem Etikett „Jim Shirley Imports“ bekleben. 25 $ für 6 Stunden Arbeit wurden vereinbart. Erst nach 8 Stunden taucht der Arbeitgeber wieder auf und fährt sie zurück. Unterwegs greift er América zwischen die Beine. Sie sagt nichts, weil sie hofft, er werde für die zwei zusäzlichen Stunden extra bezahlen und sie am nächsten Tag weiterarbeiten lassen. Er gibt aber nicht mehr als 25 $.

Cándido hat América immer wieder beschworen, das Wasser aus dem Bach nicht unabgekocht zu trinken. Nun tut er es selbst, weil er entsetzlich Durst hat und sich zu schwach fühlt, um Holz für ein Feuer zu sammeln. Überraschend schnell setzt der Durchfall ein. Während Cándido mit heruntergelassener Hose in einer Ecke kauert, beobachtet er, wie zwei Jugendliche das Lager zerstören und die Sachen ins Wasser werfen. Einer davon ist der 18-jährige Jack Jardine jr., der Sohn der Nachbarn der Familie Mossbacher — aber das weiß Cándido natürlich nicht.

Ein Coyote reißt Sacheverell, einen der beiden Dandie-Dinmont-Terriers der Familie Mossbacher. Vor allem Kyra ist entsetzt und will einen zwei Meter hohen Maschendrahtzaun. In der von Rechtsanwalt Jack Jardine geleiteten Eigentümerversammlung schimpft Delaney darüber, dass manche den wilden Tieren Fressen hinstellen und sie dadurch in die Wohnanlage locken. Aber die anderen Bewohner von Arroyo Blanco teilen seine Befürchtungen nicht; sie machen sich stattdessen Sorgen wegen der Mexikaner und der Schwarzen in der Gegend und wollen an der Zufahrtsstraße ein von Wachleuten kontrolliertes Tor errichten.

Bei einer seiner Wanderungen entdeckt Delaney im Cañon zwei Schlafsäcke und daneben leere Dosen, Flaschen und Verpackungsreste. Wütend über den Umweltfrevel läuft er weiter — und steht plötzlich zwei Mexikanern gegenüber, die behaupten, ebenfalls nur zu wandern. Es sind zwei finstere Typen; Delaney erwähnt nichts von den Lager und sieht zu, dass er unbehelligt zu seinem Wagen zurückkommt. Aber der ist nicht mehr da. Gestohlen. Delaney erstattet Anzeige bei der Polizei, meldet den Diebstahl seiner Versicherung und kauft ein neues Fahrzeug.

Am meisten ärgerte ihn, dass die Leute das ganz einfach so hinnahmen, als würden sie übers Wetter reden. Hast du ein Auto, wird es geklaut. Schlicht und einfach. Es war wie die Steuer, wie Regengüsse und Schlammlawinen.

Der Mann mit den Buddha-Figuren taucht auch am nächsten Vormittag auf und nimmt América wieder mit. Mary hat ihren Lohn vermutlich vertrunken und ist nicht erschienen. Ob stattdessen einer der arbeitssuchenden Männer mitfahren soll? Nein, der Arbeitgeber will nur Frauen beschäftigen. Abends, während der Rückfahrt, fürchtet América, der Mann könne wieder zudringlich werden, aber nichts geschieht. Sie steigt aus und klettert den Cañon hinunter. Plötzlich stehen die beiden Mexikaner, denen Delaney begegnete, vor ihr. América flieht, aber die beiden holen sie rasch ein, werfen sie auf den Boden, zerreißen ihr das Kleid, vergewaltigen sie und nehmen ihr das Geld ab.

Kyra fällt auf, dass auf dem Parkplatz eines Supermarkts Mexikaner herumlungern. Das ist schlecht fürs Geschäft. Da muss ihr Chef Mike Bender etwas unternehmen. Fast zur gleichen Zeit veranlasst die Eigentümervereinigung Topanga Canyon Boulevard, dass der Besitzer des Parkplatzes, auf dem Candelario Pérez Arbeit vermittelte, sein Gelände absperrt.

Als Kyra nach einer der Villen sieht, für deren Verkauf sie zuständig ist, fällt ihr in der Nähe ein umgekippter Einkaufswagen auf. Sie geht um das Haus herum und stößt auf zwei Mexikaner, die ihr nicht geheuer sind. Sie sei die Besitzerin des Anwesens, lügt sie, und werde im Haus von ihrem Mann und ihrem Bruder erwartet. Am nächsten Tag sieht sie, dass jemand „pinche puta“ (dreckige Hure) auf die Hauswand gesprüht hat.

Die Zufahrt zur Wohnanlage Arroyo Blanco Estates wird jetzt an einem Tor durch einen Wachmann kontrolliert. Und um sich gegen die Coyoten zu schützen, lassen die Mossbachers einen neuen, um einen Meter höheren Maschendrahtzaun um ihr Grundstück ziehen.

Zufällig ist Cándido einer der Arbeiter, die der Bauunternehmer Al Lopez dafür ausgesucht hat. Cándido hat sich inzwischen soweit erholt, dass er wieder arbeiten kann. Bald haben er und América 320 $ zusammengespart, die sie in einer Dose unter einem Felsen verstecken. Aber das reicht noch nicht, um eine Wohnung mieten zu können. Es ist ein schwerer Schlag für sie, dass die Arbeitsvermittlung nicht mehr möglich ist und Razzien der Einwanderungsbehörde drohen.

Der höhere Zaun hält den Coyoten nicht davon ab, auch den Hund Osbert zu reißen.

Jack Jardine nimmt Delaney zu einem anderen Nachbarn mit, bei dem sich auch noch einige andere Männer einfinden, denen es darum geht, die Wohnanlage mit einer Mauer abzusichern. Delaney möchte sich den Blick in die Natur nicht verbauen lassen, aber außer anfänglichen Protesten unternimmt er nichts gegen das Vorhaben.

Eines Tages bemerkt Delaney in der Wohnanlage einen der beiden verdächtigen Mexikaner, denen er im Cañon begegnete. Er stellt ihn zur Rede, aber der Mann bleibt ungerührt: Er verteilt ein Flugblatt mit der Einladung zu einer Eigentümerversammlung, auf der über den Mauerbau abgestimmt werden soll.

In ihrer Verzweiflung gehen Cándido und América zur nächsten Siedlung. Jemand bietet ihnen ein billiges Zimmer an. Cándido folgt dem Fremden misstrauisch. América soll auf der Mauer vor dem Postamt sitzen bleiben und auf ihn warten. Erst nach Mitternacht kehrt er zurück — mit blutigem Gesicht. Man hat ihn zusammengeschlagen und ihm die in den Hosensaum eingenähten Ersparnisse gestohlen. Auf dem Rückweg holt Cándido Essensreste aus der Mülltonne eines Schnellrestaurants. América ist entsetzt und leidet lieber Hunger.

Cándido kriegt erneut Arbeit, mehrmals sogar, hat schließlich wieder 500 $ in der Dose und Aussicht auf Arbeit für einen ganzen Monat. Dann werden sie sich endlich eine Wohnung mieten können, gerade noch rechtzeitig, bevor das Kind geboren wird. Er geht in den Supermarkt am Topanga Canyon Boulevard und kauft etwas zu essen. Anlässlich des Thanks-Giving-Festes bekommt an diesem Tag jeder Kunde, der für mehr als 50 $ einkauft, einen Truthahn gratis dazu. Zwei junge Männer, die mit ihrem Truthahn nichts anfangen können, drücken ihn dem verdutzten Cándido in die Arme.

Die Mossbachers, die auch so einen Truthahn bekamen, haben Kyras Mutter Kit Menaker aus San Franciso zu Besuch. Bevor sie alle gemeinsam eine Cocktail-Party in der Nachbarschaft besuchen, schiebt Kyra den Truthahn ins Rohr.

América, die seit Tagen apathisch herumsaß, müht sich damit ab, einen Eichenholzspieß durch den Truthahn zu stecken, den Cándido mitgebracht hat. Sie freut sich auf das Fleisch und den Reis, achtet nicht auf das Tosen — bis sie den Kopf hebt, in Cándidos aufgerissene Augen blickt und die brennenden Blätter, Zweige und Äste anstarrt.

Einer der Gäste der Cocktail-Party schreit „Feuer!“ Im Cañon brennt es. Im Fernsehen zeigen sie bereits Bilder davon. Die Bewohner von Arroyo Blanco müssen ihre Häuser verlassen. Aus sicherer Entfernung beobachten sie die Löschflugzeuge.

Da tauchen auch die zwei Mexikaner auf. Delaney berichtet einem Polizisten, er habe die beiden und ihren Schlafplatz unlängst im Cañon gesehen. Die Leute scharen sich um die Mexikaner. Einer von ihnen spuckt Delaney ins Gesicht. Da fällt er über ihn her und schlägt mit den Fäusten auf ihn ein, bis ihn ein Polizeibeamter zurückhält.

Obwohl América hochschwanger ist, schafft sie es, mit Cándido eine Felswand hochzuklettern und dem Feuer zu entkommen. Cándido, der ahnt, dass die Ersparnisse in der Blechdose unter dem Felsen verkohlen, findet einen Schuppen, in den auch Mossbachers Siamkatze „Dame Edith“ geflüchtet ist und bettet América auf Plastiksäcke mit Grassamen. Die Wehen setzen ein. América hätte so viele Fragen an ihre Mutter gehabt.

Er [Cándido] hatte noch nie eine Entbindung gesehen, außer im Film, und da passierte es immer im Off — die Schauspielerin mit ihrer Haut wie Honig lag schweißgebadet da und schrie auf, dann ein Schwenk, und da war es, das Baby, sauber und gesund und schön und in ein schneeweißes Handtuch gewickelt.

Hier ist alles anders.

Als er ihr aufhelfen wollte, sah er es zwischen ihren Beinen, zwischen ihren nackten, blutverschmierten Oberschenkeln: ihr Baby, sein Baby, sein Sohn. Die Spitze des Säuglingskopfes kam aus ihr heraus, nasse schwarze Haarbüschel, und er drückte sie nieder, hob ihre Beine an und ließ sie pressen, es kam, und weiterpressen, pressen, pressen. Dann gab es ein Geräusch, als würde Luft aus einem Ballon abgelassen — pffffft –, und da war er, sein Sohn, lag ganz verhutzelt in einer Hülle aus Haut, überall verklebt mit Blut und Schleim und etwas, das aussah wie Quark. Dröhnend flog eines der großen Löschflugzeuge dicht über sie hinweg, und man hörte das Zischen der abgeworfenen Ladung, die weiter unten die Flammen erstickte, und Cándido roch den kräftigen menschlichen Geruch der Geburt, und jetzt kam auch die Plazenta, feucht und warm, mitten in diesem Schuppen voller Saatgut, Chlorsalz und Kunstdünger. América lächelte entrückt. Sie nahm das Baby in die Arme, die blaue Nabelschnur hing noch an ihm, wischte ihm den Mund frei, brachte es zum Atmen, zum Schreien, ein dünnes Maunzen wie das der Katze, und sie hielt es im Arm, das kleine Ding, lebendig und gesund. Dies war der Augenblick, auf den Cándido gewartet hatte. Er lehnte sich mit dem Messer vor und durchtrennte die blaue Schnur, die an eine Wurst erinnerte, und dann wischte er mit einem wassergetränkten Lappen die Schmiere von dem kleinen Körper und den winzigen Gliedern.

Aber es ist kein Sohn, sondern eine Tochter. América gibt ihr den Namen Socorro.

Cándido schwört bei der Jungfrau von Guadalupe, dass er alles wieder zurückbringen oder ersetzen werde, aber jetzt benötigt er Werkzeug und für die junge Mutter etwas zu essen. Er klettert über die Mauer in die evakuierte Wohnanlage, sucht in den Schuppen Werkzeug zusammen, nimmt zwei Hundenäpfe als Kochtöpfe mit und packt Gurken, Tomaten, Kürbisse, Orangen und Hundekuchen in einen Sack. Aus Paletten zimmert er im Gestrüpp unweit der Mauer einen notdürftigen Unterschlupf. América isst nur Obst und Gemüse. Davon werde sie Durchfall bekommen, befürchtet Cándido. Er braucht Fleisch für sie. Da kommt „Dame Edith“ in den Verschlag. „Miez, Miez“, lockt Cándido.

Die beiden verhafteten Mexikaner werden freigelassen, weil ihnen keine Brandstiftung nachgewiesen werden kann. Delaney kann es nicht fassen, und Jack Jardine schießt „Löcher in die Überreste des sinkenden Floßes seiner liberal humanistischen Ideale“.

Im November und Dezember regnet es unaufhörlich.

Eines Tages ist die neue Mauer neben dem Tor mit Graffiti verunziert. Niemand unternimmt etwas, außer Delaney: Trotz des schlechten Wetters legt er sich fast jede Nacht auf die Lauer und konstruiert aus Stolperdrähten und zwei billigen Blitzlichtkameras eine Fotofalle. Er wird die beiden Mexikaner schon überführen!

Cándido hat seinen Traum, mit América in Kalifornien zu leben, aufgegeben und überlegt nur noch, wie er das Geld für die Heimfahrt nach Tepoztlán zusammenkriegen könnte. An die Schande mag er gar nicht denken.

Delaney entdeckt ihn am Straßenrand, bremst voll, schleudert auf die Bankette und springt aus dem Wagen, ohne sich darum zu kümmern, dass das Heck seines Autos in die stark befahrene Straße ragt. „Stehenbleiben!“, schreit er und tippt die Nummer der Polizei in sein Handy. Er glaubt inzwischen, der Mexikaner habe sich absichtlich vor seinen Wagen geworfen, um eine Versicherung zu betrügen. Cándido flüchtet quer über die Straße durch den Verkehr. Eine Frau in einem Pick-up, die ihm ausweicht, kommt ins Schleudern und kracht in Delaneys neuen Wagen.

Nachdem sein Auto abgeschleppt wurde, macht sich Delaney an die Verfolgung des Mexikaners. Die Fußspuren führen zur Wohnanlage. Jetzt ahnt Delaney, wer all die fehlenden Sachen gestohlen hat. Zu Hause duscht er, zieht sich etwas Trockenes an und nimmt die 38er-Special von Smith & Wesson aus dem Versteck. (Die zu kaufen, hatte ihm unlängst Jack Jardine geraten.) Dann holt er den Film aus einer der beiden Kameras und entwickelt ihn. Aber da ist kein Mexikaner zu sehen, sondern Jack Jardine mit einem Komplizen und einer Spraydose in der Hand. Das interessiert Delaney jetzt auch nicht mehr; er zerknüllt den Film und sucht den Mexikaner.

Der habe bei dem nasskalten Wetter bestimmt ein Feuer angezündet, vermutet Delaney, und das werde sich leicht finden lassen. Bald riecht er den Rauch.

América macht sich Sorgen um das Kind: Es blickt an ihr vorbei. Ist es blind? Sie müssen zu einem Arzt! Cándido mag es nicht glauben. Da knallt etwas gegen die Seitenwand ihres Unterschlupfs, der Vorhang wird aus der Tür gerissen und in die Nacht geschleudert; dann steht der Mann, der Cándido überfuhr, mit gezücktem Revolver in der Tür.

In diesem Augenblick kippt die Hütte um, wird von einer Schlammlawine fortgerissen. Der Verschlag zerbricht. Cándido und América klammern sich auf einer Palette fest. Der zu Brei gewordene Berg spült sie in den Topanga Creek, der zum reißenden Strom angeschwollen ist. Sie verlieren den Halt. Cándido kommt wieder an die Oberfläche, sucht nach América, findet sie und klammert sich mit ihr an dem aus dem Wasser ragenden Schindeldach des Postgebäudes fest. „Wo ist das Baby?“, schreit er. América antwortet nicht. Da tauchen ein weißes Gesicht und eine weiße Hand aus der Flut auf. Spontan streckt Cándido den Arm aus und ergreift die Hand.

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Coyoten reißen die Schoßhunde einer US-amerikanischen Mittelstandsfamilie: Das Wilde dringt in die amerikanische Zivilisation vor.

Während arbeitslose Mexikaner illegal über die Grenze kommen, um sich ihren Lebensunterhalt verdienen zu können, ziehen sich US-Bürger in bewachte Wohnanlagen am Rand von Los Angeles zurück. Eine Verständigung zwischen ihnen und den Mexikanern scheint schon aus sprachlichen Gründen unmöglich zu sein.

Während der illegale Einwanderer Cándido nicht weiß, von was er und seine schwangere Frau leben sollen, spült die erfolgreiche Immobilienmaklerin Kyra Mossbacher zum Frühstück zwölf verschiedene Vitamin- und Mineralientabletten mit einem halben Glas frischgepresstem Orangensaft hinunter und achtet auf fettarme Ernährung.

Tom Coraghessan Boyle schildert in seinem Roman „América“ nicht nur, wie ein illegales Einwandererpärchen fast täglich übervorteilt oder von Schicksalsschlägen getroffen wird, sondern er veranschaulicht gleichzeitig, wie selbst ein naturverbundener, Kinder und Tiere liebender „liberaler Humanist“ durch mehrere ihm bedrohlich erscheinende Begegnungen zum Rassenhasser mutiert.

Um die Kehrseite des American Way of Life geht es Tom Coraghessan Boyle. Damit steht er in der Tradition von Autoren wie Upton Sinclair, John Steinbeck („Tortilla Flat“, 1935), Nelson Algren („Der Mann mit dem goldenen Arm“, 1949), Hubert Selby („Letzte Ausfahrt Brooklyn“, 1964) und Philip Roth („Amerikanisches Idyll“, 1997).

„América“ ist eine mitreißende, erschütternde Geschichte. Tom Coraghessan Boyle erzählt sie in bildhaften, wie in einem Spielfilm montierten Szenen und Rückblenden. Er erzählt abwechselnd aus der Sicht von Cándido, América, Delaney und Kyra. Einige Ereignisse erleben wir nacheinander aus verschiedenen Perspektiven. Boyle ist ein Meister der Übergänge: Er springt im spannendsten Augenblick zu einem anderen der kunstvoll verflochtenen Handlungsfäden und verknüpft zwei Bilder schon mal durch eine Katze, die am Ende einer Szene von den Mossbachers vergeblich gesucht wird und zu Beginn der nächsten in dem Schuppen auftaucht, in dem auch Cándido und América Zuflucht suchen. Immer wieder deutet er Unheil an. „Um diese Jahreszeit war der Cañon trocken wie Zunder“, heißt es bereits auf Seite 19. Das Feuer bricht erst 274 Seiten später aus. Meistens tritt das befürchtete Unglück rascher ein; manchmal atmet man beim Lesen auf und glaubt, es gehe gut, und dann passiert es doch: So wird América nicht, wie erwartet, von ihrem unsympathischen Arbeitgeber vergewaltigt, sondern später von zwei Mexikanern.

Ein Happy End hätte zu dieser Geschichte nicht gepasst, aber Tom Coraghessan Boyle deutet im letzten Satz seines Romans wenigstens die Möglichkeit einer Wendung zum Guten an.

Aber als er aus dem schwarzen Strudel der Strömung das weiße Gesicht auftauchen sah und die weiße Hand sich an die Dachschindeln klammerte, da streckte er den Arm aus und ergriff die Hand.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2002
Textauszüge: © Carl Hanser Verlag

Tom Coraghessan Boyle (kurze Biografie / Bibliografie)

Tom Coraghessan Boyle: Wassermusik
Tom Coraghessan Boyle: World’s End
Tom Coraghessan Boyle: Willkommen in Wellville (Verfilmung 1994)
Tom Coraghessan Boyle: Grün ist die Hoffnung
Tom Coraghessan Boyle: Riven Rock
Tom Coraghessan Boyle: Schluss mit cool
Tom Coraghessan Boyle: Zähne und Klauen
Tom Coraghessan Boyle: Talk Talk
Tom Coraghessan Boyle: Die Frauen
Tom Coraghessan Boyle: Das wilde Kind
Tom Coraghessan Boyle: Wenn das Schlachten vorbei ist
Tom Coraghessan Boyle: San Miguel
Tom Coraghessan Boyle: Hart auf hart
Tom Coraghessan Boyle: Die Terranauten
Tom Coraghessan Boyle: Das Licht
Tom Coraghessan Boyle: Sprich mit mir
Tom Coraghessan Boyle: Blue Skies

Michael Köhlmeier - Zwei Herren am Strand
"Zwei Herren am Strand" ist ein origineller und geistreicher Roman. Nicht stringent, sondern aus­schweifend und im Plauderton vor und zurück springend, erzählt Michael Köhlmeier von der (fiktiven) Freundschaft zweier grund­verschiedener Männer.
Zwei Herren am Strand