Albert Camus : Die Pest

Die Pest
La Peste Librairie Éditions Gallimard, Paris 1947 Die Pest Übersetzung: Guido G. Meister Karl Rauch Verlag, Düsseldorf 1949 Neuübersetzung: Uli Aumüller Rowohlt Verlag, Reinbek 1997 350 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

In Oran bricht die Pest aus. Zunächst will kaum jemand den Ernst der Lage wahrhaben, und die Behörden beschwichtigen die Bevölkerung. Dann suchen viele nach Gründen und Schuldigen. Manche revoltieren gegen die Heimsuchung, andere profitieren von der Situation. Einige helfen trotz des Infektionsrisikos uneigennützig mit, die Epidemie zu bekämpfen. Der Arzt Dr. Bernard Rieux findet in der Extremsituation zum Humanismus, obwohl der Atheist von der Sinnlosigkeit des Daseins überzeugt ist.
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Kritik

In "Die Pest" setzt sich Albert Camus am Beispiel einer Epidemie mit der Absurdität der Existenz auseinander. Aber man kann statt an die Pest auch an Krieg, Faschismus, Widerstand (Résistance), Holocaust, Atombomben, Stalinismus denken.
Albert Camus inszeniert nur wenig; er schreibt aus der distanzierten Perspektive eines angeblichen Chronisten. Viel Raum gibt er gedankenschweren Dialogen. Er ist mehr Philosoph als Schriftsteller.
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Die Anfänge

Der Hauswart des Gebäudes in der algerischen Stadt Oran, in dem Dr. Bernard Rieux, ein Arzt Mitte 30, mit seiner einige Jahre jüngeren Ehefrau wohnt, findet am 17. April 194x zwei tote Ratten im Treppenhaus. Das hält er für einen Lausbubenstreich.

Die seit einem Jahr lungenkranke Frau des Arztes fährt zur Kur in die Berge, während seine Mutter anreist, um ihm den Haushalt zu führen.

Immer mehr verendete Nager müssen in Oran beseitigt werden. Allein am 25. April zählt man 6231 tote Ratten. Das ist unangenehm, aber die Bewohner wollen nicht glauben, dass es sich um Anzeichen einer Seuche handelt.

Der Hauswart stirbt ebenso an einem Fieber wie einige andere Bewohner der Stadt. Dr. Rieux, der als Erster das Wort „Pest“ in den Mund nimmt, besteht auf der Einberufung der Gesundheitskommission, und die Präfektur ringt sich dazu durch, „vorbeugende“ Maßnahmen wegen einiger „Fälle eines bösartigen Fiebers“ anzuordnen, von dem man noch nicht wisse, ob es ansteckend ist.

Als die Zahl der Toten rasant steigt, lässt sich nicht mehr leugnen, dass in Oran die Pest ausgebrochen ist. Die Stadt wird abgeriegelt. Niemand darf sie verlassen, und Bürger, die sich zum Zeitpunkt der Schließung zufällig anderswo aufhielten, bleibt die Rückkehr zu ihren Familien verwehrt. Bald fahren keine Autos mehr, weil der Treibstoff ausgeht. Lebensmittel werden rationiert. Der Handel gerät aus den Fugen.

Tote transportiert man mit der Straßenbahn zum Friedhof. Trauerfeiern sind ebenso verboten wie Totenwachen, und als auf dem Friedhof kein Platz mehr ist, werden die Leichen ausnahmslos eingeäschert. Weil es nicht genügend Särge gibt, verwendet man sie mehrfach für den Transport der Toten ins Krematorium.

Dr. Rieux und seine Helfer

Der Journalist Raymond Rambert, der sich aus beruflichen Gründen kurz in Oran aufhalten wollte, versucht verzweifelt, eine Sondergenehmigung für die Abreise zu erhalten, denn seine Lebensgefährtin ist in Paris zurückgeblieben. Er wirft Dr. Rieux vor:

„Sie reden die Sprache der Vernunft. Sie sind in der Abstraktion“.

Der Arzt versteht den Journalisten:

Für Rambert war alles Abstraktion, was sich seinem Glück in den Weg stellte.

Als Rambert begreift, dass auch er die Stadt nicht verlassen darf, wendet er sich an einen zwielichtigen Mann namens Cottard, der sich als Handelsvertreter für Weine und Spirituosen ausgibt, aber über Kontakte zu korrupten Torwächtern verfügt und als Schmuggler von der Pest profitiert. Wegen einer alten Geschichte, wie er sagt, wurde er vor dem Ausbruch der Seuche von der Polizei vernommen und aufgefordert, sich während der Ermittlungen zur Verfügung zu halten. Weil er mit einer Haftstrafe rechnen muss, versuchte er, sich in seiner Wohnung zu erhängen, aber sein Nachbar Joseph Grand rettete ihm das Leben.

Bei Joseph Grand handelt es sich um einen kleinen städtischen Beamten Mitte 50. Um seine große Liebe heiraten zu können, hatte er sein Studium abgebrochen, aber später verließ ihn Jeanne. Seit langem arbeitet er an einem Roman. Mit dem ersten Satz ist er allerdings noch nicht zufrieden und er feilt deshalb auch weiterhin daran.

An einem schönen Morgen des Monats Mai durchritt eine elegante Amazone auf einer wunderbaren Fuchsstute die blühenden Alleen des Bois de Boulogne.

Joseph Grand übernimmt es, für Dr. Rieux die Statistiken über die Pest zu führen.

Am Ende beschließt auch Raymond Rambert, in Oran zu bleiben und dem 20 Stunden täglich praktizierenden Arzt zu helfen. Er übernimmt es, die Quarantäne der Infizierten zu organisieren und richtet beispielsweise in Hotels entsprechende Lager ein.

Das Abklingen der Pest

Jean Tarrou, der einige Wochen vor dem Ausbruch der Pest nach Oran gekommen war und nun bei Dr. Rieux wohnt, weil das Hotel geräumt wurde, entwickelt sich nicht nur zu einem engagierten Mitarbeiter des Arztes, sondern auch zu einem engen Freund. Trotz des Risikos, sich selbst mit der Pest anzustecken, stellt Tarrou Sanitäts-Hilfstruppen zusammen.

Er erzählt Bernard Rieux, dass ihn sein Vater – ein Staatsanwalt – mit in den Gerichtssaal genommen habe, als er 17 Jahre alt war. Die Erkenntnis, dass sein Vater Todesurteile durchsetzte, traumatisierte ihn. Mit 18 verließ er das Elternhaus, obwohl das den Abstieg vom Wohlstand in die Armut bedeutete.

Als Philipp, der Sohn des Untersuchungsrichters Othon, an der Pest erkrankt und stirbt, konfrontiert Dr. Rieux den radikalen Jesuitenpater Paneloux, der die Pest in einer Predigt als Strafe Gottes interpretierte, mit dem Tod des unschuldigen Kindes:

„Ich habe eine andere Vorstellung von der Liebe. Und ich werde mich bis zum Tod weigern, diese Schöpfung zu lieben, in der Kinder gemartert werden.“

Rieux arbeitet bis zur Erschöpfung und beobachtet trotz seiner Übermüdung das Geschehen sehr genau.

Im übrigen war Dr. Rieux zum Beispiel der Ansicht, dass […] die Gewöhnung an die Verzweiflung schlimmer ist als die Verzweiflung selbst.

Ohne Gedächtnis und ohne Hoffnung richteten [sich die Bewohner Orans] in der Gegenwart ein. In Wahrheit wurde ihnen alles zur Gegenwart.

Ein von dem älteren Mediziner Castel entwickeltes Serum zeigt allmählich Wirkung.

Bald nach dem Beginn des neuen Jahres entdeckt ein 75-jähriger Asthmatiker, der schon lange zu Dr. Rieux‘ Patienten zählt, lebende Ratten:

„Man muss ihnen zuschauen, wie sie laufen! Eine Freude!“

Obwohl die Zahl der Pestkranken abnimmt, sterben auch ganz zuletzt noch einige Menschen, darunter der Richter Othon und Bernard Rieux‘ neuer Freund Jean Tarrou.

Tarrou hatte, wie er sagte, das Spiel verloren. Aber er, Rieux, was hatte er gewonnen? […] Alles, was der Mensch im Spiel der Pest und des Lebens gewinnen konnte, waren Erkenntnis und Erinnerung.

Ein Telegramm benachrichtigt Bernard Rieux über den Tod seiner Frau. Sie starb bereits eine Woche zuvor in der Kurklinik.

Das vorläufige Ende der Seuche

Im Februar werden die Stadttore von Oran wieder geöffnet.

Raymond Rambert schließt auf dem Bahnsteig seine aus Paris herbeigeeilte Lebensgefährtin in die Arme. Er befürchtet, dass es für ihre Liebe keine Zukunft geben wird, weil er sich durch die Pest verändert hat. Aber jetzt sind er und die Frau erst einmal glücklich.

Cottard flieht vor zwei Männern, die ihn auf der Straße ansprechen. Bald darauf umstellt die Polizei das Mietshaus, in dem er wohnt, denn Cottard schießt aus seinem Fenster wahllos in die Menge. Scharfschützen vertreiben ihn vom Fenster, und kurz darauf wird der verrückt Gewordene abgeführt.

Der Chronist

Dr. Bernard Rieux gibt sich als Chronist zu erkennen. Dabei hat er auch von Jean Tarrou hinterlassene Aufzeichnungen verwendet.

[…] er wollte schlicht schildern, was man in den Heimsuchungen lernen kann, nämlich, dass es an den Menschen mehr zu bewundern als zu verachten gibt.

Er dachte, dass es nicht darauf ankomme, ob diese Dinge einen Sinn haben, sondern nur darauf, welche Antwort der Hoffnung den Menschen erteilt wird.

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Nach jahrelanger Arbeit vollendete Albert Camus 1946 seinen Roman „La Peste“, der im Jahr darauf in den Librairie Éditions Gallimard erschien. Guido G. Meister übertrug ihn ins Deutsche: „Die Pest“ (1949). Eine Neuübersetzung von Uli Aumüller gibt es seit 1997.

Die Handlung spielt in der ersten Hälfte der Vierzigerjahre (von April bis Februar) in Oran im Westen der damaligen französischen Kolonie Algerien, der Geburtsstadt der Pianistin und Mathematikerin Francine Faure (1914 – 1979), die seit Dezember 1940 mit Albert Camus verheiratet war.

„Die Pest“ handelt von einem Ausnahmezustand, der in diesem Fall von einer Seuche verursacht wird. Albert Camus geht es darum, wie die Betroffenen damit umgehen. Zunächst will kaum jemand den Ernst der Lage wahrhaben, und die Behörden beschwichtigen die Bevölkerung. Dann suchen viele nach Gründen und Schuldigen. So auch der Jesuitenpater Paneloux, der in seiner Predigt erklärt, die Pest sei eine Strafe Gottes. Manche revoltieren gegen die Heimsuchung, aber Cottard und einige andere, darunter korrupte Wachmänner, profitieren von der Situation. Andere helfen trotz des Infektionsrisikos uneigennützig mit, die Epidemie zu bekämpfen. Eindrucksvoll ist es, wie der kurz vor dem Ausbruch der Pest von Paris nach Oran gereiste Journalist zuerst verzweifelt versucht, die geschlossene Stadt zu verlassen und durch das Beispiel des bis zur Erschöpfung engagierten Arztes Dr. Bernard Rieux schließlich in Oran bleibt und sich in der solidarischen Zusammenarbeit bewährt. Rieux – die Hauptfigur des Romans – findet in der Extremsituation zum Humanismus, obwohl der Atheist von der Sinnlosigkeit des Daseins überzeugt ist.

[…] was man in den Heimsuchungen lernen kann, nämlich, dass es an den Menschen mehr zu bewundern als zu verachten gibt.

In „Die Pest“ setzt sich Albert Camus am Beispiel einer Epidemie mit der Absurdität der Existenz auseinander. Aber man kann statt an die Pest auch an Krieg, Faschismus, Widerstand (Résistance), Holocaust, Atombomben, Stalinismus denken.

Frauen kommen in „Die Pest“ nur als Nebenfiguren vor.

Gegliedert ist der chronologisch entwickelte Roman in fünf Teile.

Albert Camus inszeniert nur wenig; er schreibt aus der distanzierten Perspektive eines angeblichen Chronisten. Viel Raum gibt er gedankenschweren Dialogen. Er ist mehr Philosoph als Schriftsteller.

Der französische Literaturkritiker Pierre de Boisdeffre (1926 – 2002) meint in seinem Aufsatz „Leben und Werk von Albert Camus“:

Was einem bei der Lektüre des Werkes als erstes auffällt, das ist seine Notwendigkeit, gleichzeitig aber auch die Schwäche des Handlungsaufbaus. […] zeigt „Die Pest“, in welchem Maß Camus die Gaben fehlten, die den aus der Fantasie schöpfenden Romanschreiber ausmachen, Kälte, Hunger, Elend, Liebe, Krankheit, Tod und Freude hören bei ihm auf, natürliche Zustände des Menschen zu sein und werden zu Mythen. […] Wie die Personen in „Der Fremde“ sind die der „Pest“ abstrahierte Typen: Vater Paneloux ist nur ein Jesuit, das heißt, der Apologet einer absurden Wahrheit, die nicht als solche auftreten möchte. Ähnlich liegen die Dinge bei dem Richter oder dem Präfekten. […]
Sicher ist „Die Pest“ nur ein Gleichnis, aber das Gleichnis unserer Zeit, und die Zeitgenossen haben sich darin wiedererkannt. Da war die deutsche Besetzung und die Welt der Konzentrationslager, die Atombombe und die Drohung eines dritten Weltkrieges: das unmenschliche Zeitalter des vergötterten Staates, der souveränen Maschinerie und der nicht verantwortlich sein wollenden Verwaltung. So nimmt die Anonymität der „Pest“ genau diesen Sinn an: Die Personen sind alltäglich, ihre Gesichter die unsrigen, sie sind die Masse der zum Tode Verdammten.
(© Coron Verlag, Zürich o. J.)

Trotz der Sprödheit wurde „Die Pest“ von Anfang an viel beachtet und gilt als einer der bedeutendsten Romane der französischen Nachkriegsliteratur. Albert Camus wurde 1957 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet, und Anders Österling sagte in seiner Verleihungsrede am 10. Dezember 1957 in Stockholm:

In dem 1947 entstandenen Buch „La Peste“ – Die Pest –, einem symbolischen Roman von größter Spannweite, kommen zwei Männer vor, der Arzt Rieux und sein Assistent, die heldenhaft gegen die in einer nordafrikanischen Stadt wütende Seuche ankämpfen. In seiner strengen und gelassenen Objektivität spiegelt dieser überzeugend realistische Bericht die Erfahrung wider, die Camus in der Résistance gemacht hat. Er preist die von dem allmächtigen Übel hervorgerufene Auflehnung im Herzen des zutiefst resignierten und enttäuschten Menschen.
(© Coron Verlag, Zürich o. J.)

Martin Kloepfer und Nora Khuon brachten den Roman „Die Pest“ von Albert Camus am 30. Januar 2010 im Bockenheimer Depot des Schauspiels Frankfurt am Main mit Gabriele Köstler, Michael Abendroth, Michael Benthin, Michael Golberg, Martin Rentzsch, Viktor Tremmel u. a. auf die Bühne.

Ulrich Greb (Inszenierung), Viola Köster (Dramaturgie) und der Puppenspieler Joost van den Branden schufen eine weitere Bühnenfassung des Romans „Die Pest“, die am 19. September 2019 im Schlosstheater Moers mit Patrick Dollas, Lena Entezami, Matthias Heße, Roman Mucha, Elisa Reining und Frank Wickermann uraufgeführt wurde.

„Die Pest“ gibt es in Uli Aumüllers Neuübersetzung auch als dreiteiliges WDR-Hörspiel (Bearbeitung: Felix Partenzi, Regie: Frank-Erich Hübner) mit Götz Schubert, Jürgen Tarrach, Gerd Wameling, Felix Goeser, Wolf-Dietrich Sprenger, Horst Mendroch, Ulrike Bliefert u. a.

Luis Puenzo verfilmte den Roman „Die Pest“ von Albert Camus 1992:

Originaltitel: La Peste – Regie: Luis Puenzo – Drehbuch: Luis Puenzo und Robert Katz nach dem Roman „Die Pest“ von Albert Camus – Kamera: Félix Monti – Schnitt: Juan Carlos Macías – Darsteller: William Hurt, Sandrine Bonnaire, Jean-Marc Barr, Robert Duvall, Raul Julia, Jorge Luz u. a.

Als die Corona-Pandemie im März 2020 auch in Deutschland nicht mehr ignoriert werden konnte, griffen viele zu Albert Camus‘ Roman „Die Pest“, und der Rowohlt-Verlag musste das Buch der Stunde nachdrucken.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2020

Albert Camus (Kurzbiografie / Bibliografie)

Albert Camus: Der Fremde
Albert Camus: Der erste Mensch

Markus Werner - Festland
Die Sprache, mit der Julias Vater seine Reflexionen formuliert, besticht durch detailgenaue Beschreibungen oft sehr delikater Situationen: "Festland".
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