Robert Harris : Der zweite Schlaf

Der zweite Schlaf
The Second Sleep Hutchinson, London 2019 Der zweite Schlaf Übersetzung: Wolfgang Müller Wilhelm Heyne Verlag, München 2019 ISBN 978-3-453-27208-8, 415 Seiten ISBN 978-3-641-24009-7 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Im Jahr 2025 zerstört eine globale Katastrophe die Zivilisation, und mehr als 90 Prozent der Menschen kommen dabei um. Die Handlung von "Der zweite Schlaf" spielt 800 Jahre später in England, in einer archaischen Kirchendiktatur ohne Elektrizität, Industrie und IT, in der es als Ketzerei gilt, sich mit der Zeit vor der Apokalypse zu beschäftigen. Auf Altertumsforschung steht die Todesstrafe ...
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Kritik

Weil es in diesem Buch nicht um historische Tatsachen geht, punktet Robert Harris nicht – wie gewohnt – mit profundem Wissen und gründlichen Recherche-Ergebnissen. Aber man kann "Der zweite Schlaf" als einen in der Zukunft spielenden, vor aktuellen Gefahren für unsere Kultur und Zivilisation warnenden Thriller lesen, als einen farbigen, mitreißenden Unterhaltungsroman.
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Ein Priester reitet zur Beerdigung eines Amtsbruders

Christopher Fairfax, ein junger Priester, reitet „am späten Nachmittag des neunten Tages im April des Jahres Unseres Auferstandenen Herrn 1468, einem Dienstag“ von Exeter über Axford in Wessex zu dem Weiler Addicott St George. Richard Pole, der Bischof von Exeter, hat ihn beauftragt, die Beerdigung des Dorfpfarrers Thomas Lacy zu übernehmen. Der starb vor einer Woche im Alter von 56 Jahren durch einen Sturz in eine Schlucht am Teufelsstuhl oberhalb des Weilers. Es heißt, er sei abgestürzt, aber es könnte ihn auch jemand in den Tod gestoßen haben.

Als Fairfax im Pfarrhaus von Addicott St George eintrifft, begrüßt ihn die Haushälterin Agnes Budd. Der Tote ist in seinem Schlafzimmer aufgebahrt. Für Fairfax hat Agnes Budd im Arbeitszimmer ein Bett hergerichtet. Der junge Geistliche aus Exeter wundert sich darüber, dass ein Dorfpfarrer um die 100 Bücher besaß, und als er sich die Titel anschaut, stößt er auf zahlreiche ketzerische Werke, die sich mit der Vergangenheit vor der großen Katastrophe beschäftigen, also mit der bei Todesstrafe verbotenen Altertumsforschung.

Obwohl sich die Bevölkerung seit der globalen Katastrophe wieder vermehrt hat, leben nur 6 Millionen Menschen in England. Viele sterben an einem Fieber, und kaum jemand wird älter als 50 Jahre. Es gibt weder Elektrizität noch Industrie. Gerüchten zufolge konnten die Menschen früher fliegen, aber seit vielen Generationen sind Reisende auf Pferde angewiesen. Beherrscht wird die Gesellschaft von der Kirche, der die staatlichen Organe untergeordnet sind, die ohnehin nur regionale Bedeutung haben.

Unter den ketzerischen Büchern in Lacys Arbeitszimmer findet Fairfax 20 Bände mit Protokollen und Schriften der längst verbotenen Gesellschaft für Altertumsforschung, und als er darin blättert, liest er von einem Wissenschaftler namens Peter Morgenstern, der am Imperial College in London lehrte, einen der damals verliehenen Nobelpreise für Physik erhalten hatte und in einem vom 22. März 2022 datierten Brief an Kollegen vor dem Zusammenbruch der Zivilisation warnte.

Wir haben insgesamt sechs mögliche Katastrophenszenarios ausgemacht, die die Existenz unserer modernen, wissenschaftsbasierten Lebensweise in ihren Grundfesten bedrohen würden:
1) Klimawandel,
2) Atomkrieg
3) Ausbruch eines Supervulkans, der den Klimawandel beschleunigen würde
4) Einschlag eines Asteroiden, der dito den Klimawandel beschleunigen würde
5) allgemeiner Ausfall der Computertechnologie infolge eines Cyberkrieges, eines nicht zu kontrollierenden Virus oder von Sonnenaktivität
6) pandemische Antibiotika-Resistenz

Drei Jahre nach dieser Warnung fand zumindest eines dieser Ereignisse statt. Was genau geschah, weiß niemand. Die Kirche lehrt, dass die Menschheit damals mit ihrer Hybris die Apokalypse heraufbeschworen habe und von Gott bestraft worden sei. Weil man die neue Zeitrechnung damals nicht mit Null, sondern mit 666 begann, sind nicht 1468, sondern nur 802 Jahre seit der Katastrophe vergangen.

Lady Durston

Nach der Beerdigung Lacys am nächsten Tag will Fairfax nur noch die entsprechenden Eintragungen im Kirchenbuch vornehmen und dann nach Exeter zurückreiten. Aber er kommt nicht weit, weil ein Erdrutsch den einzigen Weg unpassierbar gemacht hat. Notgedrungen muss er noch einmal im Pfarrhaus übernachten.

In einem der vier Kirchenbücher der Gemeinde liest Fairfax von der Eheschließung des Programmierers Anwar Singh und der Webdesignerin Julia Morgenstern im Juli 2022 in Addicott St George. Das war drei Monate nachdem Peter Morgenstern seinen warnenden Brief geschrieben hatte. Julia Morgenstern könnte seine Tochter gewesen sein, denn als Beruf des Vaters ist Universitätsprofessor angegeben. Weil unter Herkunftsort der Braut Durston Court Lodge steht, ein Anwesen oberhalb von Addicott St George, geht Fairfax am nächsten Morgen dort hinauf.

Lady Durston hat sich in einem Pferdestall von Durston Court Lodge eingerichtet, denn das Haupthaus ist nicht mehr bewohnbar. Sie ist Mitte 30, wurde jedoch bereits zweimal Witwe. Sir Henry Durston ertränkte sich vor fünf Jahren. Zuletzt hatte er jeden Tag am Teufelsstuhl am Rand des Besitzes in der Hoffnung gegraben, etwas Wertvolles zu entdecken und damit eine Renovierung der Gebäude finanzieren zu können. Aber er trug nur eine gesetzwidrige Sammlung von Artefakten aus der Zeit vor der Apokalypse zusammen, die Sarah Durston nun ihrem Besucher zeigt.

Obwohl der Unternehmer Captain John Hancock inzwischen den verschütteten Weg freiräumen ließ, beschließt Fairfax, am Sonntag noch eine Messe in Addicott St George zu lesen und erst dann nach Exeter zurückzukehren. Hancock ist der reichste Mann im Ort. Er besitzt eine Mühle und beschäftigt an seinen mit Wasserkraft angetriebenen Webstühlen 50 Arbeiter. Weil er unverheiratet ist, führt ihm seine Schwester Magda den Haushalt im Addicott Mill House.

Als Fairfax ins Pfarrhaus zurückkommt, hört er zwei streitende Frauen. Agnes Budd stellte ihm die 18-jährige Mitbewohnerin als ihre Nichte vor und behauptete, Rose sei stumm. Aber nun hört Fairfax deren Stimme. Zur Rede gestellt, vertraut Agnes Budd ihm an, dass Rose nicht ihre Nichte, sondern ihre Tochter ist. Als vor 20 Jahren ihr Ehemann in Nethercombe gestorben war, kam sie als Haushälterin ins Pfarrhaus von Addicott St George, zu Thomas Lacy, der damals bereits seit 12 Jahren Dorfgeistlicher war. Bald darauf wurde sie von dem Geistlichen schwanger. Um einen Skandal zu vermeiden, kehrte sie zu ihrer Schwester und ihrem Schwager nach Nethercombe zurück, und die beiden taten dann so, als sei Rose ihr Kind. Aber als das Ehepaar vor zehn Jahren an Fieber starb, bestand Agnes Budd darauf, wieder als Haushälterin im Pfarrhaus von Addicott St George aufgenommen zu werden und ihre Tochter mitbringen zu dürfen. Lacy verlangte allerdings, dass Rose Stummheit vortäuschte, damit sie sich nicht vor Dorfbewohnern verplappern konnte.

Dr. Nicholas Shadwell

John Hancock reitet ebenso wie Sarah Durston und Christopher Fairfax nach Axford, wo ein Vortrag über „die Irrlehren der Alten Welt“ angekündigt ist. Der Redner Dr. Nicholas Shadwell ist mit seinem Sekretär Oliver Quycke aus Wiltshire angereist.

Die Veranstaltung wird von Sheriffs abgebrochen, die Dr. Shadwell wegen Ketzerei festnehmen.

Sarah und Christopher berichten Captain Hancock von Peter Morgenstern und dessen von Durston Court Lodge stammender Tochter. Sie vermuten, dass der Wissenschaftler die Apokalypse nicht nur kommen sah, sondern sich auch darauf vorbereitete, indem er nach dem Vorbild Noahs mit der Arche an einem sicheren Ort alles sammelte, was erforderlich sein würde, um die Zivilisation nach dem Untergang wiederherzustellen. Thomas Lacy suchte wohl am Teufelsstuhl nach diesen Dingen.

Begeistert von der Idee, mit wissenschaftlicher Begleitung am Teufelsstuhl zu graben, erreicht Hancock, dass der Richter Sir William Trickett die Überstellung des Häftlings Dr. Nicholas Shadwell an die Kirche in Exeter aufschiebt und ihn gegen eine von dem Unternehmer hinterlegte Kaution für ein paar Tage freilässt.

Bevor Hancock am nächsten Tag seinen Arbeitern ein Mehrfaches der normalen Löhne für Grabungen am Teufelsstuhl anbietet, lädt er Sarah Durston, Christopher Fairfax, Nicholas Shadwell und Oliver Quycke ein, im Addicott Mill House zu übernachten.

Shadwell berichtet, dass er bereits fünf Jahre wegen Ketzerei im Gefängnis gesessen habe und in dieser Zeit häufig von Bischof Pole besucht worden sei. Als er von Fairfax einen Teil der Bücher des toten Dorfpfarrers erhält, wundert er sich, denn die Randnotizen darin stammen von ihm. Es handelt sich um Bücher aus seinem Besitz, von denen er annahm, dass der Bischof sie in Exeter verbrennen ließ. Offenbar wurden andere Bücher ins Feuer geworfen; diese hier schickte der Bischof heimlich einem Vertrauten, dem Dorfpfarrer Thomas Lacy.

Grabungen

Zuerst stoßen die am Teufelsstuhl Schaufelnden auf ein Massengrab. Hier fand offenbar ein Massaker statt, denn die Schädel weisen alle ein Schussloch auf.

Über Nacht verschwindet Oliver Quycke mit Shadwells Büchern und Aufzeichnungen. Und als einer der Arbeiter bei einem Grabeneinbruch ums Leben kommt, tragen ihn die anderen ins Tal und kehren nicht zurück.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Aber Hancock ist nicht aufzuhalten, denn im Boden ist eine Betonfläche sichtbar geworden, und er nimmt an, dass es sich um das Dach eines Bunkers aus der Zeit vor der Apokalypse handelt. Er karrt Sprengstoff aus einem Steinbruch herbei. Die Explosion reißt den Boden auf und legt einen Zugang in den Bunker frei.

Mit einer Leiter klettern Hancock, Shadwell, Sarah und Christopher in die Tiefe. Gerade als Hancock die verrostete Stahltür zu einem Nebenraum gelockert hat, tauchen Sheriffs auf. Ihnen folgen Bischof Richard Pole und Oliver Quycke, der zugibt, Dr. Shadwell seit acht Jahren für die Kirche in Exeter ausspioniert zu haben.

Der Bischof lässt Nicholas Shadwell, John Hancock, Sarah Durston und Christopher Fairfax festnehmen und droht ihnen mit einer Anklage wegen Ketzerei in Exeter. Aber bevor er die Tür zum Nebenraum öffnen kann, in dem er eine Grabkammer für Peter Morgenstern vermutet, bricht eine Schlammlawine durch die Öffnung herein, und die Betondecke birst. Nur Sarah und Christopher können sich durch die Stahltür in den Nebenraum retten.

In einer Kiste liegen Gebeine, vermutlich die von Peter Morgenstern, und darum herum sind sternförmig Artefakte aus der Zeit vor der Apokalypse ausgelegt, darunter auch dünne, mit einem angebissenen Apfel verzierte Kästchen.

Christopher Fairfax begreift, dass Morgenstern und dessen Begleiter aus London geflüchtet waren und in diesem Bunker den Untergang der Welt überlebten. Danach töteten sie die Bewohner von Addicott St George und nahmen deren Weiler in Besitz. Nach Morgensterns Tod richteten die Überlebenden im nicht mehr benötigten Schutzraum eine Grabkammer für ihn ein.

Sarah ist verletzt und kann nicht mehr aufstehen. Fairfax entdeckt am anderen Ende der Grabkammer eine weitere Stahltür, die sich allerdings nicht öffnen lässt. Vielleicht ist sie nur verrostet wie die andere. Am nächsten Morgen will er versuchen, sie zu öffnen …

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Am späten Nachmittag des neunten Tages im April des Jahres Unseres Auferstandenen Herrn 1468, einem Dienstag, suchte ein einsamer Reiter seinen Weg. Sollten Sorgen die Züge des jungen Mannes verdunkelt haben, so hatte er zugegebenermaßen allen Grund dazu. Seit mehr als einer Stunde war er in der wilden, altertümlichen Moorlandschaft im Südwesten Englands, die seit den Tagen der Sachsen als Wessex bekannt war, keiner Menschenseele mehr begegnet. Es würde bald dämmern, und wer nach Beginn der Sperrstunde im Freien aufgegriffen wurde, lief Gefahr, die Nacht im Kerker zu verbringen.

Mit diesen Sätzen beginnt Robert Harris seinen Roman „Der zweite Schlaf“, und beim Lesen glaubt man, die Handlung spiele im Mittelalter, auch wenn die Jahreszahl mit einem Zusatz versehen ist. Bald wundert man sich darüber, dass Plastikteile erwähnt werden. Plastik im Mittelalter, teils mit einem angebissenen Apfel verziert? Erst nach einer Weile wird deutlich, dass wir uns in der Zukunft befinden. Im Jahr 2025 unserer gewohnten Zeitrechnung zerstörte eine globale Katastrophe die Zivilisation, und mehr als 90 Prozent der Menschen kam dabei um. Die Handlung von „Der zweite Schlaf“ spielt 800 Jahre später in England, in einer archaischen Kirchendiktatur ohne Elektrizität, Industrie und IT, in der es als Ketzerei gilt, sich mit der Zeit vor der Apokalypse zu beschäftigen. Auf Altertumsforschung steht die Todesstrafe.

Weil es in „Der zweite Schlaf“ nicht um historische Tatsachen geht, punktet Robert Harris nicht – wie gewohnt – mit profundem Wissen und gründlichen Recherche-Ergebnissen. Zudem wirkt hanebüchen, etwa die jahrzehntelange Vortäuschung von Stummheit oder eine Lady, die im Haus ihres Bräutigams zum Priester ins Bett schlüpft. Aber man kann „Der zweite Schlaf“ als einen in der Zukunft spielenden, vor aktuellen Gefahren für unsere Kultur und Zivilisation warnenden Thriller lesen, als einen farbigen, mitreißenden Unterhaltungsroman.

Den Roman „Der zweite Schlaf“ von Robert Harris gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Frank Arnold (Erzähler)(ISBN 978-3-8371-4631-8).

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2019
Textauszüge: © Wilhelm Heyne Verlag

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