Robert Harris : Vaterland

Vaterland
Fatherland Hutchinson, London 1992 Vaterland Übersetzung: Hanswilhelm Haefs Haffmans Verlag, Zürich 1992 Taschenbuch Wilhelm Heyne Verlag, München 1994
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Während im April 1964 in der Reichshauptstadt Germania die Feierlichkeiten für Hitlers 75. Geburtstag vorbereitet werden, sterben kurz nacheinander mehrere pensionierte Regierungsmitarbeiter. Die Gestapo reißt die Ermittlungen an sich und stellt die Todesfälle als Suizide aufgeflogener Kunsträuber dar, aber der eigenständig denkende Kriminalbeamte Xaver March ist überzeugt, dass die Männer ermordet wurden und mehr dahinter steckt ...
mehr erfahren

Kritik

"Vaterland" ist ein ungewöhnlicher Kriminalroman bzw. Polizeikrimi von Robert Harris. Was wäre, wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte? 1964 ist Deutschland noch immer eine Diktatur, ein Polizei- und Überwachungsstaat mit einer ebenso korrupten wie skrupellosen Elite. Der Protagonist Xaver March ist jedoch bereit, sich selbst zu opfern, um die Wahrheit über vertuschte Menschenrechtsverbrechen zu enthüllen.
mehr erfahren

Deutschland 1964

Hitlers 75. Geburtstag am 20. April 1964 steht bevor. Im Rahmen der Feierlichkeiten ist auch ein Staatsbesuch des US-Präsidenten Joseph P. Kennedy geplant, der im Herbst wiedergewählt werden möchte und nicht zuletzt deshalb an einem Ende des Kalten Krieges mit Deutschland interessiert ist. Nach dem Sieg über die Russen im Frühjahr 1943 schloss Hitler 1944 Frieden mit den Briten und zwei Jahre später auch formell mit den Amerikanern, die jedoch weiterhin russische Freischärler an den deutschen Ostgrenzen am Ural unterstützten.

Als die USA den Pazifikkrieg mit Atomschlägen gegen Hiroshima und Nagasaki beendeten, ließ Hitler eine V3-Interkontinentalrakete nach Nordamerika abfeuern und über New York explodieren, um zu demonstrieren, dass er in der Lage wäre, amerikanische Metropolen in Schutt und Asche zu legen. Seither herrscht ein Patt zwischen den Weltmächten.

Die siegreichen Deutschen beherrschen ganz Europa. Polen und die baltischen Staaten existieren nicht mehr.

Im Osten war das Deutsche Reich in die vier Reichskommissariate Ostland, Ukraine, Kaukasus und Muskowien gegliedert. Im Westen hatte Deutschland zwölf Länder durch den Vertrag von Rom in einem europäischen Handelsblock zusammengepfercht – Portugal, Spanien, Frankreich, Irland, Großbritannien, Belgien, die Niederlande, Italien, Dänemark, Norwegen, Schweden und Finnland.

Die Europafahne – die zwölf goldenen Sterne der Nationen der Europäischen Gemeinschaft auf dunkelblauem Grund – weht neben der reichsdeutschen Flagge auf dem Brandenburger Tor. Auch in den Vasallenstaaten gilt die Reichsmark als offizielle Währung.

Berlin wurde nach Plänen von Albert Speer zur 10-Millionen-Metropole Germania ausgebaut. In dem 1946 bis 1950 errichteten 188 Meter hohen Triumphbogen hätte der Arc de Triomphe 49-mal Platz.

In die Innenwände sind die Namen der drei Millionen Soldaten eingemeißelt, die bei der Verteidigung des Vaterlandes in den Kriegen von 1914 bis 1918 und 1939 bis 1946 gefallen sind.

Die Residenz des Führers mit ihrer 700 Meter breiten Fassade übertrifft das Schloss in Versailles. Die 5,6 Kilometer lange Siegesallee wurde 1957 fertiggestellt. Mit 123 Metern ist sie mehr als doppelt so breit wie die Champs-Élysées. Und bei der Großen Reichshalle, die 180.000 Menschen aufnehmen kann, handelt es sich um das größte Gebäude der Welt. Vom Bahnhof Gotenland, dem früheren Anhalter Bahnhof, fahren haushohe Züge auf vier Meter breiten Gleisen in die östlichen Reichsgebiete, zum Beispiel nach Theoderichshafen (früher Sewastopol). Für den innerdeutschen Luftverkehr steht Tempelhof zur Verfügung, für den internationalen der nach dem 1951 gestorbenen Reichsmarschall Hermann Göring benannte Flugplatz.

Xaver March

Am 14. April 1964 frühmorgens entdeckt der 19-jährige SS-Kadett Hermann Friedrich Jost aus der Sepp-Dietrich-Akademie bei einem Trainingslauf am Strand der Insel Schwanenwerder die Leiche eines mit einer Badehose bekleideten Mannes. Aufgrund eines Versehens wird statt des diensthabenden Sturmbannführers Max Jäger vom Reichskriminalpolizeiamt am Werderschen Markt in Berlin dessen 42 Jahre alter Kollege Xaver March aus dem Bett geklingelt.

Die seit 1937 von Arthur Nebe geleitete Kripo nimmt in der Hierarchie der von Heinrich Himmlers Nachfolger Reinhard Heydrich geführten Sicherheitskräfte die Mitte ein. (Während Heydrich 1942 ein Attentat überlebte, kam der damalige Reichsführer-SS 1962 bei der Explosion eines Flugzeugs ums Leben.) Darunter steht die Orpo (Ordnungspolizei), darüber die Sipo (Sicherheitspolizei), zu der neben dem parteiinternen Sicherheitsdienst (SD) die Gestapo (Geheime Staatspollizei) gehört.

Xaver March hatte im Krieg auf einem U-Boot gedient, war aber 1948 wegen Verdachts auf Tuberkulose von der Marine ausgemustert worden. Ein Jahr später kam er als Leutnant zur Marine-Küstenpolizei in Wilhelmshaven. Noch im selben Jahr heiratete er die Krankenschwester Klara Eckart, die er im Sanatorium kennengelernt hatte. 1952 wechselte Xaver March zur Kriminalpolizei in Hamburg, und zwei Jahre später wurde er nach Berlin versetzt. Aus der vor fünf Jahren geschiedenen Ehe gibt es einen zehnjährigen Sohn. Unter dem Einfluss seines Stiefvaters Erich Helfferich hält Paule seinen Erzeuger für asozial, weil er weder der NSDAP noch einer anderen NS-Organisation beigetreten ist. Dennoch muss der Kriminalbeamte die Uniform eines Sturmbannführers tragen, ebenso wie der mit ihm befreundete Kollege Max Jäger, der seit einem Jahr der Partei angehört. (Als die Kriminalpolizei 1936 in die SS eingegliedert wurde, mussten alle Beamten SS-Ehrenränge annehmen.)

Josef Bühler

Der Rechtsmediziner Dr. August Eisler, der im KZ Dachau tödliche Menschenexperimente durchgeführt hatte, stellt fest, dass der Mann in der Badehose ertrunken ist. Es gibt weder Hinweise auf seine Identität noch eine auf ihn passende Vermisstenmeldung. Xaver March nimmt dem Toten die Fingerabdrücke ab und veranlasst einen Abgleich mit der Verbrecherkartei. Tatsächlich erzielt man einen Treffer: die Fingerabdrücke stimmen mit denen des am 9. November 1923 beim gescheiterten Hitlerputsch in München verhafteten Parteigenossen Dr. Josef Bühler überein.

Obwohl die Sipo den Fall des angeblichen Selbstmörders Josef Bühler an sich reißt, ermittelt Xaver March heimlich weiter. Um mehr über den Toten zu erfahren, sucht er am 15. April den im Reichsarchiv beschäftigten Historiker Rudolf Halder auf, der mit ihm im U-Boot gedient hatte.

Josef Bühler schloss das Jurastudium 1932 mit der Promotion ab, während er bereits in der Kanzlei von Hitlers Anwalt Hans Frank in München arbeitete. Im November 1939 machte ihn Hans Frank zu seinem Amtschef im Generalgouvernement; im März 1940 avancierte SS-Brigadeführer Josef Bühler zum Staatssekretär und einige Wochen später zum Stellvertreter. Als er 1951 von Krakau nach Kattowitz unterwegs war, verübten polnische Partisanen einen Sprengstoff-Anschlag auf ihn. Sein Fahrer kam ums Leben, Josef Bühler verlor ein Bein und schied dann aus dem Amt.

Erst bei einer weiteren Befragung durch Xaver March gibt Hermann Jost zu, dass er unmittelbar vor dem Leichenfund ein Auto und drei Männer in SS-Uniformen gesehen habe. Einer von ihnen war der 60-jährige SS-Obergruppenführer Odilo Globocnik („Globus“), der nach dem „Anschluss“ Österreichs vorübergehend als Gauleiter von Wien und später als Polizeichef im Generalgouvernement amtiert hatte. Nach Heinrich Himmlers Tod übernahm Odilo Globocnik Aufgaben in der Gestapo. Er untersteht Reinhard Heydrich persönlich.

Wilhelm Stuckart und Martin Luther

In Bühlers Taschenkalender stößt Xaver March auf die Namen Stuckart und Luther. Die drei Männer trafen sich offenbar am 10. April.

Dr. Wilhelm Stuckart trat bereits 1922 in die NSDAP ein. Sechs Jahre später promovierte der Jurist. Er brachte es zum Staatssekretär im Reichsministerium des Innern. Obwohl er selbst an der Formulierung der Nürnberger Gesetze beteiligt gewesen war, ließ er sich in den Fünfzigerjahren auf eine Beziehung mit der jungen Polin Maria Dymarski ein. Als er deshalb erpresst wurde, erschoss er am 13. April 1964 zunächst seine Geliebte, dann sich selbst. So zumindest die offizielle Version. Die 25 Jahre alte Amerikanerin Charlotte Maguire, die Berliner Vertreterin der amerikanischen Nachrichtenagentur World European Features, fand die Leichen in Stuckarts Wohnung.

Martin Franz Julius Luther kam als Günstling Joachim von Ribbentrops 1938 ins Auswärtige Amt und wurde 1941 zum Unterstaatssekretär ernannt. Am 14. April meldete ihn seine Frau Marthe als vermisst. Er war am 12. April für einen Tag nach Zürich geflogen und danach nicht mehr aufgetaucht.

Sie wurden alle etwa zur gleichen Zeit geboren. Bühler war vierundsechzig; Luther achtundsechzig; Stuckart einundsechzig. Sie waren alle in den Dreißigern in den Staatsdienst getreten – Bühler 1939, Luther 1938, Stuckart 1935. Sie hatten alle ungefähr den gleichen Rang erreicht – Bühler und Luther waren Staatssekretäre gewesen, Luther Unterstaatssekretär. Sie hatten sich alle in den Fünfzigern zur Ruhe gesetzt – Bühler 1951, Luther 1955, Stuckart 1953. Sie mussten einander alle gekannt haben. Sie hatten sich alle am vergangenen Freitag um zehn Uhr getroffen. Wo war der Zusammenhang?

Kunstraub

Xaver March spürt die Journalistin Charlotte („Charlie“) Maguire in Heinis Kneipe in der Potsdamer Straße auf. Sie sitzt mit vier Kollegen (Howard Thompson, Bruce Fallon, Peter Kent, Arthur Haines) und Henry Nightingale, dem Zweiten Sekretär der US-Botschaft in Berlin, zusammen. Der Kommissar fragt sie, wie gut sie Wilhelm Stuckart gekannt habe, und sie antwortet:

„Praktisch überhaupt nicht. Ich hab ihn durch meine Eltern kennengelernt. Mein Vater war vor dem Krieg hier an der Botschaft. Er hat eine Deutsche geheiratet, eine Schauspielerin. Das ist meine Mutter. Monika Koch – je von ihr gehört?“

Die Journalistin berichtet March, dass Stuckart sie am 12. April angerufen habe. Er wollte offenbar ihrem Vater Michael Maguire, einem pensionierten US-Diplomaten, Beweise für Verbrechen der Nationalsozialisten anbieten und im Gegenzug in die Vereinigten Staaten ausgeflogen werden.

„Ich werde nur mit Ihrem Vater verhandeln, nicht mit der Botschaft. […] Kommen Sie morgen zu mir, und ich werde Ihnen alles erzählen. Schar-lott-e, ich werde Sie zur berühmtesten Reporterin auf Erden machen.“

Als sie hinkam, waren er und seine Geliebte bereits tot. Ein erweiterter Suizid oder ein Doppelmord?

Charlotte Maguire schreckt nicht davor zurück, mit Xaver March und dessen Kollegen Max Jäger in Wilhelm Stuckarts versiegelte Wohnung einzubrechen. Willi Stiefel, der eine neunjährige Haftstrafe wegen Bankraubs verbüßt hat, rufen sie zu Hilfe, damit er ihnen den Tresor des Toten öffnet. Als Max Jäger durch ein Fenster die Gestapo anrücken sieht, flüchten Charlotte Maguire und Willi Stiefel.

Die beiden unautorisierten Sturmbannführer von der Kripo werden festgenommen und am nächsten Morgen vom Hauptquartier der Gestapo in der Prinz-Albrecht-Straße zu Josef Bühlers Villa auf Schwanenwerder gebracht. Sie sind dabei, als Obergruppenführer Odilo Globocnik und Sturmbannführer Karl Krebs dem Oberst-Gruppenführer Arthur Nebe vom Reichskriminalpolizei über ihre Ermittlungsergebnisse berichten. In einem Kellerraum mit verborgenem Zugang entdeckte die Gestapo Unmengen von Kunstgegenständen.

„Das kommt alles aus dem Generalgouvernement. Hauptsächlich aus Warschau, nehmen wir an. Bühler hat es entweder als verloren oder als zerstört gemeldet. Gott allein weiß, womit das korrupte Schwein sonst noch durchgekommen ist. Stellen Sie sich nur vor, was er verschachert haben muss, um sich das Haus hier leisten zu können!
[…]
Als Staatssekretär hatte Bühler Zugang zu allem. Er hat das Zeug unter Bewachung zu Stuckart vom Innenministerium bringen lassen. Sah alles ganz legal aus. Stuckart hat dafür gesorgt, dass es eingelagert oder aus dem Reich geschmuggelt wurde, im Tausch gegen Bargeld, Juwelen, Gold – alles, was leicht zu transportieren und schwer zurückzuverfolgen ist.
[…]
Bühler hat die Kunstwerke gestohlen. Stuckart hat sie in Empfang genommen. Luthers Stellung im Außenministerium gab ihm die Möglichkeit, frei ins Ausland zu reisen. Wir nehmen an, dass er bestimmte Gegenstände aus dem Reich geschmuggelt und sie dann verkauft hat.“

Der Fall ist angeblich aufgeklärt. Bühler ertränkte sich, Stuckart erschoss sich, und Luther ist auf der Flucht. Aber Xaver March hält an seiner Überzeugung fest, dass Bühler ermordet wurde.

„Vermutlich haben sie ihn zum Trinken gezwungen, ihn dann ausgezogen, auf ihr Boot geschleppt und später über Bord geworfen. […] Es sollte unbedingt wie ein Selbstmord aussehen.“
„Interessant“, murmelte Nebe. „Wenn Bühlers Selbstmord vorgetäuscht ist, dann liegt es nahe, dass es der von Stuckart auch ist.“

Globocnik schnaubt aufgebracht, als Nebe anordnet, dass March als Verbindungsmann der Kripo zur Sipo fungiert, bis Luther gefasst ist. Dann nimmt der Polizeichef den Sturmbannführer mit ins Auto und fordert ihn unter vier Augen auf, alles zu tun, um den Vermissten vor Globocnik aufzuspüren. Dafür gibt er ihm bis zum Führergeburtstag in vier Tagen Zeit. Im Fall eines Misserfolgs werde er das von Globocnik gegen March angestrebte Gerichtsverfahren und womöglich seinen Tod nicht verhindern können, fügt er drohend hinzu.

Zürich

In Wilhelm Stuckarts Tresor fanden die Einbrecher einen Schlüssel und ein handschriftliches Schreiben des Zürcher Bankdirektors Hermann Zaugg vom 8. Juli 1942, das den Überbringer als Mitinhaber des Nummernkontos 2402 ausweist. Xaver March überließ beides Charlotte Maguire, als die Gestapo anrückte.

Nachdem March herausgefunden hat, dass Luther am 13. April mit dem letzten Flug von Zürich nach Berlin zurückkam, wendet er sich an Nebe und überredet den Polizeichef, ihm Nachforschungen in der Schweiz zu ermöglichen.

Mit einem 24-Stunden-Visum fliegt er nach Zürich. Zu seiner Überraschung sitzt Charlotte im Flugzeug neben ihm. Die Journalistin hat sein Vorhaben vorausgesehen.

Hermann Zaugg empfängt die beiden in seiner Bank, und nachdem er das Schreiben geprüft hat, beantwortet er ihre Fragen. Das anonyme Konto sei am 8. Juli 1942 von Martin Luther eröffnet worden, erklärt er. Dem Deutschen habe er damals vier Schlüssel für ein Schließfach und vier Beglaubigungsschreiben übergeben. Geöffnet wurde das Schließfach seither nur dreimal, am 17. Dezember 1942, 9. August 1943 und am 13. April 1964. Als Xaver March und Charlotte Maguire nun hineinschauen, ist es so gut wie leer.

Wannsee-Konferenz

March vermutet, dass sich Bühler und Luther ebenso wie Stuckart in die USA absetzen wollten, weil sie sich in Deutschland nicht mehr sicher fühlten. Die US-Botschaft würde ihnen wohl wegen der aktuellen Beschwichtigungspolitik nicht helfen. Deshalb versuchte Stuckart, über Charlotte Maguire an ihren Vater Michael heranzukommen, während Luther nach Zürich flog und etwas aus dem Schließfach holte, das die drei den Amerikanern hätten anbieten können. Als er nach Berlin zurückkam und dann von Stuckarts Tod hörte, tauchte er unter.

Aber was hatte sich in dem Schließfach befunden? Auf der Suche nach Hinweisen überredet Xaver March den Historiker Rudolf Halder, mit ihm im Reichsarchiv nach Bühler, Stuckart und Luther betreffenden Dokumenten aus den Monaten vor der Eröffnung des Schweizer Nummernkontos zu suchen. Dabei stoßen sie auf ein Schreiben, mit dem eine für den 9. Dezember 1941 vom Reichssicherheitshauptamt geplante Besprechung verschoben wurde. Der ursprünglichen Einladung vom 29. November 1941 zufolge gehörten Bühler, Stuckart und Luther zu den vorgesehenen Teilnehmern. Die Konferenz fand dann am 20. Januar 1942 im Büro der Kommission der Internationalen Kriminalpolizei Berlin am Wannsee statt. Aber das Protokoll wurde am 6. April 1964 auf Anweisung Heydrichs aus dem Archiv entfernt.

In der Einladung vom 29. November 1941 heißt es, Reinhard Heydrich sei am 31. Juli 1941 von Reichsmarschall Hermann Göring mit den „Vorbereitungen in organisatorischer, sachlicher und materieller Hinsicht für eine Gesamtlösung der Judenfrage in Europa“ beauftragt worden.

Von den 14 Männern, die an der Wannsee-Konferenz teilnahmen, sind alle bis auf Heydrich und Luther tot. Und Luther wird vermisst.

Seit dem Kriegsende sind sechs ermordet worden, vier haben Selbstmord begangen, einer ist bei einem Unfall ums Leben gekommen. Zwei sind angeblich auf natürliche Weise gestorben. Heute lebt nur noch Luther.

Zwei weitere Tote

Auf dem Rangiergelände des Bahnhofs Gotenland, wo Obdachlose unter Güterwaggons nächtigen, um sich vor dem Regen zu schützen, wird ein zerstückelter Leichnam mit Luthers Pass gefunden.

Es sieht so aus, als habe er sich dort versteckt und sei bei Rangierarbeiten überrollt worden. Aber Charlotte Maguire telefonierte 40 Minuten nach der Entdeckung der Leiche noch mit Martin Luther. Er rief sie an und forderte sie auf, am nächsten Morgen um 9 Uhr mit einem Botschaftsangehörigen zur Haupttreppe der Großen Halle zu kommen. Daraus schließt Xaver March, dass der Untergetauchte am Bahnhof Gotenland einen Obdachlosen ermordete, Kleidung und Papiere mit dem Toten wechselte und ihn dann auf die Schienen legte.

Die Journalistin weiht den befreundeten Diplomaten Henry Nightingale in den Fall ein. Der Zweite Sekretär der US-Botschaft in Berlin sieht zunächst keine Möglichkeit sich einzubringen, denn Washington kann nicht daran interessiert sein, gleichzeitig mit dem historischen Staatsbesuch des US-Präsidenten in Deutschland die Entspannungspolitik durch die Asylgewährung für einen verfolgten Nazi und die Enthüllung nationalsozialistischer Verbrechen zu gefährden. Dennoch lässt Nightingale sich überreden, gegen 9 Uhr zum Treffpunkt zu kommen.

March beobachtet das Geschehen auf der Haupttreppe der Großen Halle vom Auto aus. Er sieht, wie Luther auf Charlotte Maguire und Henry Nightingale zugeht – und plötzlich sein Kopf zerbirst. Er gibt Gas, und die beiden Mitverschworenen springen in den Fond seines VWs.

In den Medien heißt es, am 18. April um 9 Uhr sei auf dem Adolf-Hitler-Platz vor der Großen Halle ein Landstreicher namens Alfred Stark von Unbekannten erschossen worden. Man habe den Toten anhand eines Passes identifiziert.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Das Geheimnis

Wie wollte Martin Luther etwas aus Zürich an den strengen Zollkontrollen im Flughafen Hermann Göring vorbeischmuggeln? Charlie bringt ihren neuen Freund und Liebhaber Xaver auf eine Idee.

Der Sturmbannführer wendet sich daraufhin an den korrupten Sicherheitschef des Flugplatzes, der sich aus Sorge, die Polizei könne sich für seine Unterschlagungen konfiszierter Waren interessieren, kooperativ verhält. Er ahnt nicht, dass sein Gegenüber inzwischen selbst von der Gestapo gesucht wird. Wie erhofft, wurde am 13. April nach der Landung der letzten Maschine aus Zürich ein herrenloser Lederkoffer gefunden. March nimmt ihn mit und sprengt in Charlottes Beisein die Schlösser auf.

Das Gepäckstück enthält Dokumente, beispielsweise eine eidesstattliche Erklärung Wilhelm Stuckarts vom 4. Juni 1942 über eine Unterredung mit Reinhard Heydrich am 21. Dezember 1941, in der dieser ihm anvertraute, dass er am 31. Juli in Hitlers Auftrag von Göring bevollmächtigt worden sei, die elf Millionen Juden in Europa zu vernichten.

Sobald Deutschland den Krieg gewonnen habe, werde niemand mehr fragen, wie wir es bewerkstelligt hätten. Falls Deutschland den Kampf auf Leben und Tod verliere, würden wenigstens jene, die sich aus der Niederlage des Nationalsozialismus einen Gewinn erhofft hätten, ausgerottet sein. Es sei nötig, die biologischen Fundamente des Judaismus für immer zu beseitigen. Andernfalls werde das Problem erneut hervorbrechen, um künftige Generationen zu quälen. Das sei die Lehre der Geschichte.

Unter den Papieren befinden sich weitere Beweise dafür, dass die Juden nicht nur – wie die Bevölkerung glauben soll – nach Osten deportiert, sondern systematisch ermordet wurden. Es handelt sich um einen Genozid!

Aus den Unterlagen geht hervor, dass der vierte Kontobevollmächtigte Friedrich Kritzinger war, ein ehemaliger Ministerialdirektor in der Reichskanzlei, der am 7. März 1964 in München mit seinem Auto in die Luft gesprengt wurde. Ein Terroranschlag, hieß es. Die vier Männer hatten den Inhalt des Schließfachs in Zürich als Rückversicherung betrachtet – aber jetzt waren sie tot wie alle anderen Teilnehmer der Wannsee-Konferenz bis auf Reinhard Heydrich..

Das Ende

Charlie und Xaver wollen das Beweismaterial ins Ausland schmuggeln und veröffentlichen. Die Journalistin mietet einen Wagen und macht sich mit den als angebliches Hochzeitsgeschenk verpackten Dokumentenstapel auf den Weg nach Süden. Xaver, der verspricht, er werde ein paar Stunden später ins Hotel Bellevue in Waldshut an der Schweizer Grenze nachkommen und mit ihr nach New York fliegen, gibt ihr den aus der Schublade seines Kollegen Max Jäger gestohlenen Pass der vor fünf Tagen unmittelbar nach der Hochzeit zusammen mit ihrem Bräutigam ermordeten Berlinerin Magda Voß mit.

Bevor Xaver March seiner großen Liebe folgt, will er sich noch von seinem Sohn Paule verabschieden. Der ist allein zu Hause und erst nach einer Weile bereit, ihm die Tür zu öffnen. Als der Sturmbannführer die Gestapo kommen hört, ist es zu spät. Paule, der angerufen hat, schreit:

„Es wird alles gut, Papa. Sie helfen dir. Sie machen dich gesund. Dann kannst du wieder zu uns kommen. Das haben sie versprochen …“

Odilo Globocnik genießt es, den mit Handschellen gefesselten Gegenspieler zusammenschlagen zu können. Um zu erfahren, wo die amerikanische Journalistin zu finden ist, zertrümmert Globocnik dem Häftling mit einem Baseballschläger die rechte Hand. Aber Xaver March verrät nichts.

Sturmbannführer Karl Krebs bringt Xaver March in einer aufgegebenen Kirche konspirativ mit dem Polizeichef Arthur Nebe zusammen, und die beiden verhelfen ihm zur Flucht. Aus einem wartenden Auto fordert ihn Max Jäger zur Eile auf und gibt Gas, sobald er eingestiegen ist.

Xaver March durchschaut, dass das Ganze eine Finte ist und sein vermeintlicher Freund schon länger mit Globocnik zusammenarbeitet. Er soll die Gestapo zu Charlotte Maguire führen. Statt nach Süden dirigiert er Jäger nach Osten. Auf dem Gelände des ehemaligen Vernichtungslagers Auschwitz steigt er am nächsten Morgen aus. Von den Gebäuden ist nichts mehr zu sehen – aber er findet einen bei der Säuberung übersehenen Ziegelstein, der von dem Grauen zeugt.

Als er einen Hubschrauber hört und die Limousinen der Verfolger kommen sieht, denkt Xaver March an Charlie. Um diese Zeit weiß sie bereits, dass er nicht mehr kommt und wird die Schweizer Grenze überqueren, um in die USA zu fliegen und den Völkermord aufzudecken. Dann zieht er die Max Jäger abgenommene Pistole aus dem Hosenbund …

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

„Vaterland“ ist ein ungewöhnlicher Kriminalroman bzw. Polizeikrimi von Robert Harris. Was wäre, wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte? Dieser Frage geht Robert Harris in „Vaterland“ nach und zeigt uns eine alternative Welt im April 1964, in der die Feierlichkeiten für Hitlers 75. Geburtstag und ein erster Staatsbesuch des US-Präsidenten vorbereitet werden. Der Alltag wirkt düster und bedrohlich, denn Deutschland ist ein Polizei- und Überwachungsstaat mit einer korrupten Elite. Während sich hochrangige Regierungsmitarbeiter mit einem groß angelegten Kunstraub in eroberten Gebieten bereichert haben, zweigt der Sicherheitschef des Hermann-Göring-Flughafens in der Reichshauptstadt Germania vom Zoll konfiszierte Waren für persönliche Zwecke ab, und ein biederer Kriminalbeamter gehorcht einem skrupellosen Gestapo-General.

Der Protagonist des Romans „Vaterland“ ‒ aus dessen Perspektive Robert Harris erzählt ‒ ist eine Ausnahme. Xaver March arbeitet bei der Berliner Kriminalpolizei und weigert sich, in die NSDAP oder auch nur in eine der parteinahen Organisationen einzutreten, obwohl er sich damit jeden beruflichen Aufstieg verbaut. Er folgt nicht den Parolen, denkt eigenständig und lässt sich auch nicht verbiegen. Als er merkt, dass die Gestapo ein Kapitalverbrechen zu vertuschen versucht und deshalb die Zuständigkeit in einem Mordfall an sich reißt, ermittelt er heimlich und unter Lebensgefahr weiter. Er ist dazu bereit, sich selbst zu opfern, um die Wahrheit ans Licht zu bringen.

In seinen auf „Vaterland“ folgenden historischen Romanen steigerte Robert Harris sein schriftstellerisches Können zur Meisterschaft, aber schon bei seinem Debüt beeindruckt er mit dem geschickten Zusammenbau von Fakten und Fiktion zu einem überzeugenden Bild und zu einer packenden Handlung.

Bei Hitler, Himmler, Heydrich und Nebe handelt es sich um realen Personen nachempfundene Romanfiguren. Das gilt auch für Josef Bühler, Wilhelm Stuckart, Martin Luther und Odilo Globocnik. Im Nachwort zu einer Neuauflage schreibt Robert Harris:

Josef Bühler, Staatssekretär im Generalgouvernement, wurde in Polen zum Tode verurteilt und 1948 hingerichtet.
Wilhelm Stuckart wurde bei Kriegsende festgenommen und verbrachte vier Jahre in Haft. Er wurde 1949 freigelassen und lebte in Westberlin. Im Dezember 1953 wurde er bei einem Autounfall in der Nähe von Hannover getötet. Der „Unfall“ war vermutlich von einer Rächergruppe arrangiert worden, die in Freiheit lebende Nazi-Kriegsverbrecher jagte.
Martin Luther versuchte in einem Machtkampf 1943 den deutschen Außenminister Joachim von Ribbentrop zu stürzen. Er scheiterte und wurde ins Konzentrationslager Sachsenhausen geschickt, wo er einen Selbstmordversuch unternahm. Er wurde 1945 kurz vor Kriegsende entlassen und starb im Mai 1945 in einem Berliner Krankenhaus an Herzversagen.
Odilo Globocnik wurde von einer britischen Patrouille am 31. Mai 1945 in Weißensee/Kärnten festgenommen. Er beging Selbstmord, indem er eine Zyankalikapsel zerbiss.

In den Text von „Vaterland“ hat Robert Harris echte und nachempfundene Dokumente eingefügt. Authentisch sind:

Heydrichs Einladung zur Wannsee-Konferenz; Görings Anweisung an Heydrich vom 31. Juli 1941; die Telegramme des deutschen Botschafters, die die Kommentare Joseph P. Kennedys beschreiben; die Anweisung der Zentralbauleitung in Auschwitz; der Eisenbahnfahrplan (gekürzt); die Auszüge aus dem Protokoll der Wannsee-Konferenz; das Rundschreiben über die Verwendung von Häftlingshaaren.

Dass Robert Harris das Thema Holocaust für einen Roman verwendete, wurde in Deutschland kontrovers diskutiert. So schrieb „Der Spiegel“ am 21. September 1992 unter der Schlagzeile „Holocaust für Horror-Freunde“:

Hinter der Dämonisierung der Bundesrepublik verbirgt sich also zugleich eine Verharmlosung des Dritten Reiches. Allein die Vorstellung, Hitler hätte irgendwann Herr seiner Hybris werden und den Krieg zu einem militärisch günstigen Zeitpunkt stoppen können, verfehlt völlig den Charakter seines wahnwitzigen Regimes. Hitler musste so lange siegen, bis er nur noch verlieren konnte.[…]
Streckenweise scheint der Krimi den Charakter einer ambitionierten Chronik anzunehmen – ein durchsichtiger Trick. Harris weiß nur zu gut, dass seine literarische Fantasie es nie und nimmer mit dem Grauen aufnehmen kann, das die Zeugnisse des Holocaust beschreiben. Also greift er skrupellos zum ultimativen Kitzel: Er montiert die Realität in seinen Roman. (Der Spiegel 39/1992)

Obwohl sich die Originalausgabe von Robert Harris‘ Debütroman „Fatherland“ vom Mai 1992 als Weltbestseller erwies und allein für die Publikationsrechte in den USA 1,8 Millionen Dollar geboten wurden, wagte es kein Verlag in Deutschland, das Buch ins Programm zu nehmen. Die deutsche Übersetzung von Hanswilhelm Haefs erschien dann im September 1992 im Schweizer Verlag von Gerd Haffmans – übrigens mit einem Protagonisten Xaver März statt March. Immerhin übernahm zwei Jahre später der Wilhelm Heyne Verlag in München die Taschenbuchausgabe.

Den Roman „Vaterland“ von Robert Harris gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Karlheinz Tafel.

Christopher Menaul verfilmte den Roman „Vaterland“ von Robert Harris fürs Fernsehen:

Vaterland – Originaltitel: Fatherland – Regie: Christopher Menaul – Drehbuch: Stanley Weiser und Ron Hutchinson nach dem Roman „Vaterland“ von Robert Harris – Kamera: Peter Sova – Schnitt: Tariq Anwar – Musik: Gary Chang – Darsteller: Rutger Hauer, Miranda Richardson, Peter Vaughan, Michael Kitchen, Jean Marsh, John Woodvine, John Shrapnel, Clive Russell, Clare Higgins u.a. – 1994; 106 Minuten

Frank Castorf brachte den Roman „Vaterland“ von Robert Harris mit Stephan Bissmeier in der Hauptrolle auf die Bühne. Die Uraufführung fand 2000 am Deutschen Schauspielhaus Hamburg statt.

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2020
Textauszüge: © Wilhelm Heyne Verlag

Robert Harris: Enigma (Verfilmung)
Robert Harris: Pompeji
Robert Harris: Imperium
Robert Harris: Ghost
Robert Harris: Angst
Robert Harris: Intrige
Robert Harris: Dictator
Robert Harris: Konklave
Robert Harris: München
Robert Harris: Der zweite Schlaf
Robert Harris: Vergeltung

Frank Wedekind - Die Büchse der Pandora
In der Tragödie "Die Büchse der Pandora" ignorierte Frank Wedekind die Regeln des zu seiner Zeit vorherrschenden naturalistischen Dramas und setzte auf grelle Panoptikum-Effekte, groteske Szenen und kolportageartige Elemente.
Die Büchse der Pandora