Michael Zeller : Abhauen!

Abhauen!
Abhauen! Protokoll einer Flucht Originalausgabe Rote Katze Verlag, Lübeck 2022 ISBN: 978-3-9824150-2-4, 122 Seiten ISBN: 978-3-9824150-6-2 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der Ich-Erzähler beginnt mit einem Krankenhausaufenthalt seiner 80-jährigen Mutter nach dem zweiten Schlaganfall innerhalb von wenigen Tagen und endet mit ihrem Tod im Jahr darauf. Michael schildert seine Krankenbesuche, die Bemühungen um eine Heimunterbringung der Mutter, ihren Widerstand dagegen und schließlich ihre letzten Lebensmonate im Pflegeheim.
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Kritik

An keiner Stelle wird Michael Zeller larmoyant oder rührselig. Umso bewegender und eindrucksvoller wirkt die autobiografische Erzählung. Ungeachtet des ruppigen Titels ist "Abhauen! Protokoll einer Flucht" eine feinsinnige und reflektierte, konzentrierte und tiefsinnige Auseinandersetzung mit einem schwierigen Thema.
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Krankenhaus

Kurz vor ihrem 80. Geburtstag erleidet die Mutter 1991 ihren zweiten Schlaganfall innerhalb weniger Tage. Als ihr längst in Nürnberg lebender Sohn Michael nach Bad Homburg eilt und sie im Krankenhaus besucht, findet er statt der früher oft zornigen Frau eine ruhiger und dement gewordene Greisin vor.

Etwas hatte sich gelöst im Gesicht, auch im Sprechen des Körpers […]. Die Spannung schien gewichen, die sich so oft in ihren allseits gefürchteten Hassausbrüchen entladen hatte, wenn sie wieder einmal Gott und die Welt verfluchte, Lebende wie Tote, wegen ihres fehlgegangenen Lebens.

Aber die Mutter respektiert nach wie vor keine Ärztin.

„Was redest du eigentlich immer mit diesem Weib?“, giftete mich Mutter an […].

Bei einem seiner Krankenbesuche erfährt Michael von einer Visite am Morgen und fragt deshalb seine Mutter, ob Ärzte bei ihr gewesen seien.

„Nein. Wieso? Was für Ärzte? Hier gibt es keine Ärzte! Seit ich hier bin, hat sich noch keiner bei mir blicken lassen.“

Bald darauf muss die Mutter wegen eines dritten Schlaganfalls erneut ins Krankenhaus. Michael ist erneut in Bad Homburg und bemüht sich sechs Tage lang, ein geeignetes Seniorenheim zu finden. Er hofft auf schwächer gewordenen Widerstand der Mutter, trifft jedoch mit seinem Vorschlag, in ein Heim zu ziehen, auf heftige Abwehr. Trotzdem versuchen er und sein in der Stadt lebender Bruder Wolf es am Tag der Entlassung aus dem Krankenhaus: Auf dem Weg zur Wohnung der Mutter halten sie beim inzwischen ausgewählten Seniorenheim und zeigen ihr ein freies Zimmer. Die Mutter fragt, ob sie ihren Hund mitbringen dürfe. Darauf antwortet die Heimleiterin, dass keine Haustiere erlaubt seien. Im nächsten Augenblick dreht die Mutter sich um und geht schnurstracks davon. Den Söhnen bleibt nichts anderes übrig, als sie in ihre Wohnung zu bringen.

Etwas in mir war zusammengebrochen. Ich spürte nichts mehr. Hatte jedes Gefühl für Mutter verloren, wie sie da in ihrer Wohnung stand, hilflos, überfordert, keineswegs glücklich wie nach einer Rückkehr ins Eigene und Vertraute. Keine Spur von Freude.

Pflegeheim

Über Weihnachten kommt Michael erneut zu Besuch. Die Mutter wird inzwischen von einem ambulanten Pflegedienst zu Hause betreut.

Im Krankenhaus hatte sie zugenommen. Aber inzwischen sieht sie wieder schlechter aus.

Was mir Sorgen machte: Der Vitalinstinkt in seiner urwüchsigsten Form, der schiere Fresstrieb, schien ihr wieder abhandengekommen. Genauer: Er hatte sich auf den Hund verschoben, mit verheerenden Folgen für beide. Das Tier wurde zu Tode gefüttert, Mutter hungerte sich zu Tode. […] Jeder Bissen, den sie vom Teller nahm, war im Auge zu behalten, dass er in ihrem Mund und nicht – mit gekonntester Beiläufigkeit – unter dem Tisch verschwand, beim Hund. Das Tier war und blieb ihre einzige Sorge. Es füllte ihr ganzes Fühlen und Denken aus.

Drei Wochen nach Weihnachten weist der Notarzt die Mutter wegen eines vierten Schlaganfalls erneut ins Krankenhaus ein.

Als Michael an ihr Bett kommt, hält sie ihn für Josef, den ältesten ihrer drei Brüder, der seit zwanzig Jahren tot ist.

Den Hund ließ der Bruder einschläfern. Eine erneute Rückkehr in die Wohnung ist unmöglich. Die beiden Brüder kümmern sich um eine Heimeinweisung.

Dann findet Michael seine Mutter im Pflegeheim, einer Villa am Kurpark, in einem vergitterten Bett vor, aufgewühlt, verkrampft, rebellierend.

Im Lauf der Zeit beruhigt sie sich wieder.

Die Mutter erinnert sich an ihre enge Freundin Lisa und wundert sich darüber, dass diese schon lange nichts von sich hören ließ. Dass Lisa bereits seit zwanzig Jahren tot ist, weiß sie nicht mehr.

Mutter hatte jetzt ihre eigene Art, zwischen den Zeiten zu wandern, genauer gesagt: darüber hinweg. Sie lebte synchron in ihren verschiedenen Epochen […].

Immer wieder fragt sie nach ihrem Hund und beschwert sich darüber, dass ihre Söhne ihn nicht mitbringen. Die beiden verfallen auf die Idee, so zu tun, als handele es sich nicht um ein Tier, sondern um ein Kind.

„Oh, dem Hündchen geht’s richtig gut. Der lernt brav in der Schule, die Lehrer sind alle zufrieden mit ihm. Am besten kann er rechnen. Im Sommer, wenn er Ferien hat, kommt er dich besuchen.“

„Wann kommt der Hund zu mir zurück?“
„Der Kleine? Der ist doch in der Schule. Momentan hat er wenig Zeit.“
Mutter lachte darüber, als wollte ich sie auf den Arm nehmen. Wie kann ein Hund denn in die Schule gehen? Das drückte sie zwar nicht in Worten aus, aber ihr Lachen bedeutete das wohl.
„Wo ist der Hund? Ich will meinen Hund wiederhaben! […] Wenn er tot ist, kauf ich mir einen neuen!“

Tod

Während Michael nach der Auflösung der Wohnung mit einem gemieteten Lieferwagen nach Nürnberg zurückfährt, hört er die Nachricht von Marlene Dietrichs Tod am 6. Mai 1992. Die am 27. Dezember 1901 geborene Schauspielerin hatte als Geburtsjahr stets 1904 angegeben. Auch im Personalausweis von Michaels Mutter steht ein falsches Geburtsjahr: 1915 statt 1911. Aber die noch immer von Joseph Goebbels schwärmende Greisin war nie gut auf Marlene Dietrich zu sprechen, die 1938 nach Paris gezogen war, Emigranten aus dem Deutschen Reich unterstützte, US-amerikanische Staatsbürgerin wurde und im Rahmen der Truppenbetreuung nahe der Front für GIs sang, um ihnen Mut zu machen. Deshalb wurde die Künstlerin von ihren Landsleuten angefeindet.

Später erfährt Michael, dass Marlene Dietrich auf ihren ausdrücklichen Wunsch in Berlin beigesetzt wird, neben dem Grab ihrer Mutter Josefine von Losch.

Sie wollte im Grab ihrer Mutter beerdigt sein, und dieses Grab lag eben in Berlin und damit in Deutschland. Nach einem halben Leben, bewusst außerhalb dieses Landes verbracht, das ihr keine Heimat mehr sein sollte […], jetzt kehrte sie zurück, im Sarg […]. In wenigen Jahren würde ihr ausgesuchtes Pariser Exil vergessen sein, und es hieße dann: Der deutsche UFA-Star Marlene Dietrich, in Berlin geboren, in Berlin gestorben. Alle Brüche ihrer Biografie, der ganze Eigenwille waren damit ausgelöscht und eingeebnet […]. Sie hatte das […] in Kauf genommen, um zurückkehren zu können zu ihrer Mutter […]. In den neunzig Jahren ihres Lebens hatte sich kein Mensch gefunden, dem sie näher stand, keine Liebe sie berührt, die intensiver, eigener, persönlicher gewesen wäre als dieses heikle Geschenk der Natur: Mutterliebe.

Einige Zeit später ruft der Bruder an und teilt mit, dass die Mutter gestorben ist.

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In seiner autobiografischen Erzählung „Abhauen! Protokoll einer Flucht“ veranschaulicht Michael Zeller den geistigen und körperlichen Verfall seiner Mutter im letzten Lebensjahr. Das Buch beginnt mit einem Krankenhausaufenthalt der 80-Jährigen nach dem zweiten Schlaganfall innerhalb von wenigen Tagen und endet mit ihrem Tod im Jahr darauf.

Ungeschönt gesteht der Autor, dass er seine Mutter zuvor als zornig und hasserfüllt erlebte. Mit dem Verlust von Energie und ihrer zunehmenden Demenz ist sie nun ruhiger geworden. Dadurch entsteht ein neues Mutter-Sohn-Verhältnis, bei dem sich die Abhängigkeitsverhältnisse – und damit auch die Verantwortung – umgedreht haben.

Als Ich-Erzähler schildert Michael Zeller seine Krankenbesuche, die Bemühungen um eine Heimunterbringung der Mutter, ihren Widerstand dagegen und schließlich ihre letzten Lebensmonate im Pflegeheim. Dabei beobachtet er auch sich selbst und seine Reaktionen auf das Geschehen. Aber das geschieht nicht egozentrisch; „Abhauen!“ dreht sich vor allem um die Mutter.

An keiner Stelle wird Michael Zeller larmoyant oder rührselig. Umso bewegender und eindrucksvoller wirkt die Erzählung.

Michael Zeller erklärt in einem Interview, dass er seine Erlebnisse und Beobachtungen bei den Besuchen seiner Mutter zeitnah im Tagebuch festgehalten habe. Später wählte er dann Exemplarisches aus, stellte es zusammen und schliff die Sprache.

Ungeachtet des ruppigen Titels ist „Abhauen! Protokoll einer Flucht“ eine feinsinnige und reflektierte, konzentrierte und tiefsinnige Auseinandersetzung mit einem schwierigen Thema. Obwohl es um das Sterben geht, deprimiert die Lektüre nicht.

Es hat mich selbst gewundert, wie gern ich an dem Manuskript geschrieben habe, sonst hätte ich meine Notizen ruhen lassen. Es war, schreibend, eine Heiterkeit in mir, die sich, so hoffe ich, auf einen Leser überträgt. (Klappentext)

„Abhauen! Protokoll einer Flucht“ ist eine sehr persönliche, eigentlich schon intime Erzählung. Durch seine Klugheit und sein schriftstellerisches Können hebt Michael Zeller das Allgemeingültige hervor und macht aus dem Autobiografischen anspruchsvolle Literatur.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2022
Textauszüge: © Rote Katze Verlag

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