Christine Brückner : Wenn du geredet hättest, Desdemona

Wenn du geredet hättest, Desdemona
Wenn du geredet hättest, Desdemona Originalausgabe: Hoffmann & Campe Verlag, Hamburg 1983 Taschenbuchausgabe: Ullstein Verlag, Frankfurt/M / Berlin 1986 Zeichnungen von Horst Jansen ISBN 3-548-20623-9, 168 Seiten Erweiterte Ausgabe: Ullstein Verlag, Berlin 1996
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

"Wenn du geredet hättest, Desdemona" ist eine originelle und geistreiche Sammlung von Monologen, die Christine Brückner aus Literatur oder Geschichte bekannten Frauen in den Mund legt: Christiane von Goethe, Desdemona, Katharina von Bora, Sappho, Megara, Effi Briest, die Kameliendame, Christine Brückner, Eva Hitler, Gudrun Ensslin, Donna Laura, Maria, Klytämnestra.
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Kritik

Die "ungehaltenen Reden" sind zwar fiktiv, aber inhaltlich und sprachlich einfühlsam zugeordnet. "Wenn du geredet hättest, Desdemona" ist ein gelungenes Beispiel ebenso engagierter wie kunstvoller Literatur. Christine Brückner beleuchtet auf diese Weise das Verhältnis von Mann und Frau in der Geschichte zwischen Antike und heutiger Zeit.
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Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen

  • Ich wär Goethes dickere Hälfte. Christiane von Goethe im Vorzimmer der verwitweten Oberstallmeisterin Charlotte von Stein
  • Wenn du geredet hättest, Desdemona. Die letzte Viertelstunde im Schlafgemach des Feldherrn Othello
  • Bist du sicher, Martinus? Die Tischreden der Katharina Luther, geborene von Bora
  • Vergesst den Namen des Eisvogels nicht. Sappho an die Abschied nehmenden Mädchen auf Lesbos
  • Du irrst, Lysistrate! Die Rede der Hetäre Megara an Lystrate und die Frauen von Athen
  • Triffst du nur das Zauberwort. Effi Briest an den tauben Hund Rollo
  • Eine Oktave tiefer, Fräulein von Meysenbug! Rede der ungehaltenen Christine Brückner an die Kollegin Meysenbug
  • Kein Denkmal für Gudrun Ensslin. Rede gegen die Wände der Stammheimer Zelle
  • Die Liebe hat einen neuen Namen. Die Rede der pestkranken Donna Laura an den entflohenen Petrarca
  • Wo hast du deine Sprache verloren, Maria? Gebet der Maria in der judäischen Wüste
  • Bist du nun glücklich, toter Agamemnon? Die nicht überlieferte Rede der Klytämnestra an der Bahre des Königs von Mykene

Erweiterte Ausgabe (Ullstein Verlag, Berlin 1996):

  • Wir sind quitt, Messieurs! Die Kameliendame an „Marionette“, ihre Kleiderpuppe
  • Die Banalität des Bösen. Rede der Eva Hitler, geb. Braun, im Führerbunker
  • Die Reise nach Utrecht. Rede einer Ungeborenen

Ich wär Goethes dickere Hälfte
Christiane von Goethe im Vorzimmer der verwitweten Oberstallmeisterin Charlotte von Stein

Im Alter von 50 Jahren sucht Christiane von Goethe die 23 Jahre jüngere Witwe Charlotte von Stein auf, um sich mit ihr zu versöhnen. Sie wird zwar nicht empfangen, setzt sich jedoch ins Vorzimmer, trinkt Portwein und spricht zu der Abwesenden.

Christiane von Goethe, geborene Vulpius, erinnert sich an die Anfänge ihrer Beziehung mit dem Dichterfürsten:

Zuerst, da haben die Leut gedacht, die Demoiselle Vulpius putzt und kocht für ihn und weiter nichts. Aber das Weiternichts, das war die Hauptsach.

Es wird deutlich, dass Christiane Vulpius auch an der Seite Goethes nicht zur vornehmen Dame geworden ist. Aber gerade deshalb lässt sie sich nicht so leicht einschüchtern und schreitet – anders als Charlotte von Stein – tatkräftig ein, wenn sie es für erforderlich hält.

Sie sind gekränkt, weil die Marodeure Ihnen alles zerschlagen und weggenommen haben. […] Ich hab die Kerle rausgeworfen. Raus hier!, hab ich geschrien, und das haben sie verstanden, auch wenn’s nicht französisch war. Sie, Sie konnten doch parlieren! Oder wollten Sie sich mit dem ordinären Kriegsvolk nicht einlassen?

Erinnern Sie sich noch an den vierzehnten Oktober achtzehnhundertsechs? Die Kinder lernen das Datum jetzt in der Schule. Die Schlacht bei Jena! Als die französischen Soldaten am Frauenplan alles verwüsteten und ins Haus drangen und sich mit blanken Säbeln auf den Meinigen stürzen wollten, da hab ich mich dazwischen geworfen. Die Männer waren besoffen. Ich hab ihnen ein paar Silberleuchter in den Arm gedrückt, und da sind sie abgezogen. Der Meinige sagt, er verdanke mir sein Leben, und seither gehörten wir erst recht zusammen, und er hätt jetzt Verantwortung für mich. Drei Tage später wurden wir getraut.

Wenn du geredet hättest, Desdemona
Die letzte Viertelstunde im Schlafgemach des Feldherrn Othello

Othello und Desdemona sind Figuren im Shakespeare-Drama „Othello“ (1604).

Nachdem Desdemona, die Tochter eines venezianischen Senators, den Freier Roderigo abgewiesen hat, wird sie heimlich die Frau des schwarzen Feldherrn Othello und begleitet ihn nach Zypern, wo er einen Angriff der Türken abzuwehren hat. Der Unteroffizier Jago sorgt dafür, dass Othello Desdemona verdächtigt, ihn mit Leutnant Cassio betrogen zu haben.

Othello hat den Dolch gezückt, um Desdemona zu tätem, aber sie fordert eine Viertelstunde Aufschub, weil sie noch etwas sagen möchte.

Wenn du behauptest, Desdemona war untreu, dann beleidigst du den, den sie liebt. Glaubst du, du wärest durch einen Mann wie Cassio zu ersetzen? Kennst du deinen Wert nicht, Othello?

Eine Frau soll zurückhaltend und verschwiegen sein. Wie dumm das ist! Wie tödlich kann das enden!

Frag doch meine Kammerfrau, ob sie vielleicht das Tuch dem Cassio zugesteckt hat, sie ist doch Jagos Frau. Hat dieser Cassio nur ein einziges Mal meinen Namen genannt? In ungebührlichem Zusammenhang? Denk nach, Othello, es sind noch zehn Minuten, frag deinen Kopf. Und frag dein Herz. Vielleicht ist alles nur das Werk des Jago, der eifersüchtig ist auf deine Macht und auf dein Glück. Von allem Anfang an hat er Böses gestiftet. […] Jago hat aus dem braven Cassio – doch! brav ist er und war dir treu ergeben, und sein Schätzchen ist eine gewisse Bianca, das weiß hier jeder, außer dir. Warum hast du ihn nicht von Mann zu Mann gefragt? Jago hat ihn zum Trinker gemacht. Jago ist rascher als du, und er ist klüger, wenn Verschlagenheit denn Klugsein heißt. Er hasst dich, und er hasste Cassio, dem du den Vorzug gibst. Dass er auch mich hasst, habe ich nicht gewusst. Er erkennt die Schwächen der anderen und nutzt sie aus. Cassios Schwäche war der Wein, deine Schwäche ist die Eifersucht. […] Und meine Schwäche war, dass ich auf unsere Liebe baute.

Jetzt habe ich kein Tuch für meine Tränen, leih mir deines […]. Hast du kein Taschentuch in deiner Jacke? Wie das, Othello? Habe ich dir nicht so manches Tuch gesäumt und schön bestickt? […] Wo sind all die kleinen Tücher hin? […] Wo hast du sie verloren? Wem hast du sie geschenkt? […] Vielleicht hast du […] jemandem zugewinkt? Hast Tränen auf zarten Wangen trocknen müssen, und das Tuch blieb liegen? Wie rasch so kleine Tücher doch verloren gehn.

Unter dem Vorwand, in Othellos Taschen nach einem Tuch zu suchen, entkleidet sie ihn …

Bist du sicher, Martinus?
Die Tischreden der Katharina Luther, geborene von Bora

Katharina Luther weist ihren Ehemann Martin Luther darauf hin, dass sie am Mittagstisch nicht nur fünf eigene und elf verwaiste Kinder aus der Verwandtschaft zu versorgen hat, sondern außerdem drei Witwen, dazu Scholaren und Gesinde, insgesamt 37 Menschen.

Er aber spreche von „seinem“ Tisch ebenso wie beispielsweise von „seinem“ Sohn.

Es ist nun aber nicht so, als ob Ihr nicht auch einmal „wir“ sagtet. Käthe, wir müssen mal wieder Bier brauen! Käthe, wir müssen das Dach ausbessern! Wir müssen, das soll heißen: Tu du’s, Katharina […].

Lucas Cranach der Ältere (1472 – 1553) hat Martin Luther und Katharina von Bora gemalt. Dazu meint sie:

Da sieht man es wieder, werden später die Leute sagen, in einer Ehe kann immer nur einer gedeihen, und bei Luthers in Wittenberg ist er schwer und feist geworden, und sie ist ein abgerackertes Weib.

Sie beschwert sich darüber, dass Martin Luther von der Frau bedingungslosen Gehorsam gegenüber dem Mann verlangt.

Ich versuche, ein Gott wohlgefälliges Leben zu führen, aber manchmal scheint mir das leichter zu sein als ein dir wohlgefälliges Leben zu führen.

Und sie wirft ihm vor, längst nicht mehr mit der Natur im Einklang zu sein, sondern stattdessen die Welt durch das Lesen von Büchern in seiner Studierstube begreifen zu wollen. Im Gegensatz zu ihr bete er, statt zu handeln.

Vorhin hast du für den kranken Nachbarn Pflock gebetet. Gut, tu das! Aber der alte Mann braucht eine kräftige Suppe und jemanden, der frische Luft in seine Stube lässt.

Ich habe im Kloster lange genug in der Bibel gelesen, jetzt muss ich erst einmal tun, was ich gelesen habe.

Kein Denkmal für Gudrun Ensslin
Rede gegen die Wände der Stammheimer Zelle

Ich will reden, wenn ich reden will, und nicht, wenn ihr wollt, ihr Scheißer! Und wenn ich gegen die Wände rede! Alle reden immer nur gegen Wände!

Gudrun Ensslin denkt an den mit Bernward Vesper, dem Sohn des NS-Dichters Will Vesper, gezeugten, 1967 geborenen Sohn Felix.

Ich will nicht darüber nachdenken, was aus dem Kind werden soll. Ich habe mein Kind einer großen Idee geopfert.

Ich schreie, bis ich keinen Zahn mehr im Mund habe! wir haben uns in die Räder der Geschichte geworfen und sind in die Speichen geraten. Scheiße!

Unsere Kriminalität ist politisch und eure Politik ist kriminell.

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So viele Reden berühmter Männer sind überliefert. Hatten deren Frauen nichts zu sagen? Christine Brückner überlegt sich, welche Reden sie gehalten haben könnten. „Wenn du geredet hättest, Desdemona. Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen“ ist eine originelle und geistreiche Sammlung von Monologen, die Christine Brückner elf bzw. vierzehn aus Literatur oder Geschichte bekannten Frauen in den Mund legt. (Eine der Ansprachen hält sie selbst.) Die Reden sind zwar fiktiv, aber inhaltlich und sprachlich einfühlsam zugeordnet. Christine Brückner beleuchtet das Verhältnis von Mann und Frau in der Geschichte zwischen der Antike und der heutigen Zeit. Obwohl oder gerade weil sie dabei auf theoretische Exkurse verzichtet hat, ist „Wenn du geredet hättest, Desdemona“ ein gelungenes Beispiel ebenso engagierter wie kunstvoller Frauenliteratur.

In „Eine Oktave tiefer, Fräulein von Meysenbug!“ wendet Christine Brückner sich an die Schriftstellerin Malvida von Meysenbug (1816 – 1903), eine Befürworterin der Revolution von 1848, deren Autobiografien unter den Titeln „Die Memoiren einer Idealistin“ (1876) und „Der Lebensabend einer Idealistin“ (1898) erschienen.

Meine liebe Schwester und Kollegin, spielen Sie doch nicht immer mit Pedal! Eine Oktave tiefer, wenn ich bitten darf. Haben Sie das alles wirklich geglaubt? Kannten Sie keine Zweifel? Hatten Sie denn gar keinen Humor? Wo ist Ihnen das Lachen, die Selbstironie, vergangen? Bewundernd wiederholen Sie Goethes Forderung, dass der Mensch edel, hilfreich und gut sein solle. Sie bekannten sich dazu, eine Idealistin zu sein […] Ich zweifle – das müssen Sie mir glauben! – nicht an der Wahrhaftigkeit Ihrer Ideale! Sie selbst sind Ihrem Ziel sehr nahe gekommen […]
Würden Sie mir zustimmen, wenn ich behaupte: Nur die Ungerechtigkeit ermöglicht das Glück? Sie sind als Privilegierte geboren, Sie sind als Privilegierte gestorben. Auf Kosten anderer. Sie haben ein paar Schritte auf dem Weg der Emanzipation getan. Der Gedanke, die Frau zur völligen Freiheit der geistigen Entwicklung, zur ökonomischen Unabhängigkeit und zum Besitz aller bürgerlichen Rechte zu führen, ist weitgehend verwirklicht. Die Frau hat dasselbe Recht zur Entfaltung ihrer Möglichkeiten durch Unterricht und Studium wie der Mann, sie ist „vom Joch der Unwissenheit, des Aberglaubens, der Frivolität und der Mode“ befreit. Oder doch nicht? Der Weg der Frau hat inzwischen eine andere Richtung genommen. Es geht uns heute mehr um allgemeine soziale Fragen, die Ziele sind kleiner geworden, sie gelten den Prüfungsergebnissen, der materiellen Versorgung im Alter, der Lohngleichheit, dem Schwangerschaftsabbruch. Die großen Ziele, die das eigene Ich, das Wir und die Vervollkommnung der Welt betrafen, haben wir dabei aus den Augen verloren.
Die Welt hat sich nicht in Ihrem Sinne verändert. Sie und Ihre Freunde strebten nach geistiger und seelischer Vollkommenheit. Heute strebt man nach vollkommenem Wohnkomfort, vollkommenen Kraftfahrzeugen, Badezimmern, Kinderzimmern, tadellosem Make-up. Was Sie am Ende Ihres langen Lebens befürchtet haben, ist eingetreten: Die materiellen Interessen haben die Macht über die Menschen gewonnen […]
Sie klagen, Sie müssten die Hoffnung mit ins Grab nehmen, dass die Frau kein Götzenbild, keine Puppe oder Sklavin des Mannes mehr sei, sondern dass sie als bewusstes und freies Wesen im Verein mit dem Mann an der Vervollkommnung des Lebens in der Familie, in der Gesellschaft, im Staat, in Wissenschaft und Kunst, an der Verwirklichung des Ideals im Leben der Menschheit arbeite. Ich vermute, liebe Kollegin, dass auch ich diese Hoffnung – sie ist ja auch meine, obwohl ich sie anders formuliere – ebenfalls mit ins Grab nehmen werde. Ein Blick auf die Titelbilder eines Zeitungskiosks würde Sie erröten, oder muss ich sagen erbleichen lassen? […] Noch immer legen sich reiche Männer schöne und junge Frauen zu wie Schmuckstücke. Frauen benutzen ihren entblößten Körper wie Litfaßsäulen zu Werbezwecken und dokumentieren damit ihre neu gewonnene Freiheit […]

„Wenn du geredet hättest, Desdemona. Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen“ von Christine Brückner gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Christa Berndl, Eva Mattes, Rita Russek, Doris Schade und Maria Wimmer. Einige der ungehaltenen Reden wurden auch in verschiedenen Inszenierungen auf die Bühne gebracht.

Die Stiftung Brückner-Kühner, der Verlag S. Fischer Theater und Medien, das Archiv der deutschen Frauenbewegung, die Stadt Kassel und der Hessische Rundfunk luden bereits mehrmals Frauen dazu ein, sich mit einer ungehaltenen Rede nach dem Vorbild des Buches von Christine Brückner an einem jährlichen Wettbewerb zu beteiligen. Jeweils sechs von einer Jury ausgewählte Reden wurden dann vor Publikum gehalten und in einer Anthologie veröffentlicht: „Sag jetzt nichts, lass mich zu Ende reden! Neue ungehaltene Reden ungehaltener Frauen“ (S. Fischer Verlag, Frankfurt/M 2023, ISBN 978-3103975246, 208 Seiten); „Aber jetzt ist Schluss! Neue ungehaltene Reden ungehaltener Frauen“ (Fischer Taschenbuch, Frankfurt/M 2024, ISBN 978-3596710430, 208 Seiten).

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005 / 2024
Textauszüge: © Hoffmann & Campe Verlag

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Mit beißender Ironie stellt William Gaddis in "Letzte Instanz" die Methoden der erfolgreichen (Wirtschafts-)Anwälte und Großkanzleien bloß und nimmt auch die kleinen Winkeladvokaten aufs Korn.
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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon einen Monat, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte. Aus familiären Gründen reduziere ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik.